Cover
Titel
Riskante Substanzen. Der »War on Drugs« in den USA (1963–1992)


Autor(en)
Bonengel, Timo
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
433 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristoff Kerl, Feodor Lynen-Fellow, Universität Kopenhagen

Am 17. Juni 1971 trat der damalige US-Präsident Richard Nixon im Weißen Haus vor die Presse und erklärte den Gebrauch von Substanzen, die als “Drogen” kategorisiert wurden und werden, zu “America’s public enemy number one in the United States”. Um dieses Übel zu besiegen, rief er in seiner Rede dazu auf, eine “komplette Offensive” gegen den Feind „Drogen“ zu starten.1 Der martialische Charakter der von Nixon gewählten Worte verweist auf die große Bedeutung und das enorme negative Potenzial, das er und weitere Politiker/innen dem Konsum von Drogen zu diesem Zeitpunkt zuschrieben.

Historiker/innen wie David F. Musto, der unter Jimmy Carter als drogenpolitischer Berater tätig war, beleuchten bereits seit den 1970er-Jahren die Geschichte der Drogenpolitik in den USA.2 Weitere Arbeiten, die häufig einen sozial- oder politikgeschichtlichen Blickwinkel einnahmen, fokussierten ebenfalls das Thema, wobei in den letzten Jahren auch kulturwissenschaftliche Studien zu einzelnen Substanzen wie Marihuana erschienen sind.3 Vor diesem Hintergrund erscheint das Feld der Drogenpolitik als gut bestellt. Dennoch gelingt es Timo Bonengel mit seinem gut lesbaren Buch Riskante Substanzen, bedeutsame Leerstellen zu füllen und damit das historische Verständnis des „War on Drugs“ deutlich zu bereichern. In seiner Studie, die den Zeitraum zwischen 1963 und 1992 fokussiert, spürt Bonengel unter Rückgriff auf die Methode der historischen Diskursanalyse den verschiedenen Formen des Regierens nach, mittels derer Subjekte in den USA von dem Gebrauch berauschender Substanzen abgehalten werden sollten. Dabei richtet er vor dem Hintergrund der sich seit den 1960er-Jahren vollziehenden “Verwissenschaftlichung der Politik” und der “Politisierung der Wissenschaften“ (S. 28) seinen Blick stark auf die Rolle wissenschaftlicher Expert/innen im Kontext der Drogenpolitiken in den USA. Bei der Beleuchtung dieses Untersuchungsgegenstandes verfolgt Bonengel in Riskante Substanzen drei Hauptthesen, die er im Verlauf des Buches überzeugend zu belegen vermag. Die erste These besagt, dass die Ausformung des „War on Drugs“ und damit der Umgang mit Drogenkonsum, -handel und -sucht durch die gesellschaftlichen Transformationen, die sich im Zeitraum zwischen den frühen 1960er- und frühen 1980er-Jahren vollzogen, grundlegend beeinflusst wurden. Zum anderen, so lautet die zweite These Bonengels, wurde der Umgang mit Drogen und Drogenabhängigkeit durch Kategorien wie race/Ethnie, Geschlecht und Klassenzugehörigkeit geformt. Mit Blick auf die Rolle der wissenschaftlichen Expert/innen wiederum betont Bonengel, so seine dritte These, dass Wissenschaftler/innen unterschiedliche und zum Teil zuwiderlaufende Problemdefinitionen und Lösungsstrategien vertraten.

Riskante Substanzen verfügt über eine kluge Gliederung, die jedoch mitunter zu kleineren inhaltlichen Redundanzen führt. Das Buch ist in vier Teile gegliedert, die sich jeweils aus zwei Kapiteln zusammensetzen. Während die ersten beiden Teile die 1960er- und 1970er-Jahre fokussieren, richten die beiden abschließenden Sektionen ihren Blick primär auf die 1980er- und 1990er-Jahre.

Im ersten Teil des Buches geht der Autor der Frage nach dem (wissenschaftlichen) Verständnis und Umgang mit Heroinabhängigkeit (Kapitel 1) sowie dem Auf- und Ausbau von Therapieprogrammen nach (Kapitel 2). Dabei identifiziert er drei Ursachen für die verstärkte Zuwendung zu Heroinabhängigkeit, als deren Träger/innen in den 1960er-Jahren primär afroamerikanische Bewohner/innen der „Ghettos“ galten, sowie für den Ausbau der Therapieprogramme: erstens die Ausdehnung der Heroinsucht auf jugendliche und adoleszente Angehörige der weißen Mittelschicht, die mit epidemiologischen Modellen erklärt wurde; zweitens die Verknüpfung von Drogenabhängigkeit mit steigenden Kriminalitätsraten; und drittens die weite Verbreitung von Heroinabhängigkeit unter GIs in Vietnam.

Im Zuge des massiven Ausbaus der Therapieprogramme konkurrierten divergierende therapeutische Ansätze miteinander, die sich mitunter stark voneinander unterschieden und auf unterschiedlichen Verständnissen von Heroinabhängigkeit aufbauten. Dennoch wiesen sie bedeutende Schnittmengen in ihren Sichtweisen auf Drogenabhängige auf. Vertreter/innen beider Schulen sahen in ihnen unvollkommene Subjekte, die qua Therapie in gesetzestreue und produktive Staatsbürger/innen verwandelt werden sollten. Da Heroinabhängigkeit mit den steigenden Kriminalitätsraten in Verbindung gesetzt wurden, bildeten die Abhängigkeitstherapien somit vielversprechende “Regierungstechniken an den Schnittstellen der ‚Kriege‘ gegen Armut und Verbrechen” (S. 120).

Nach Richard Nixons Rücktritt verschoben sich die Prioritäten in der Drogenpolitik. Die Debatten um einen liberaleren Umgang mit Substanzen wie Marihuana und Kokain, die wesentlich durch die Ausbreitung des Rauschmittelgebrauchs in die weiße Mittel- und Oberschicht angestoßen wurden, bilden den Gegenstand des zweiten Teils des Buches. Vor dem Hintergrund, dass den weißen „Gelegenheitskonsument/innen“ die Fähigkeit zur Kontrolle der Substanzen und zum Führen eines „produktiven“ Lebens zugeschrieben wurde, drängten Wissenschaftler/innen in den 1960er- und 1970er-Jahren zunächst auf die Liberalisierung des Umgangs mit Marihuana (Kapitel 3) und Kokain (Kapitel 4). Seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre sahen sich diese jedoch zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt, die Auswirkungen des Drogenkonsums zu verharmlosen, und es setzte ein drogenpolitischer backlash ein.

Seit den 1980er-Jahren brachte die Angst, dass der Drogenkonsum von Angehörigen der weißen Mittel- und Oberschichten deren Potenzial und Produktivität zerstöre, zudem verschiedene Ansätze der auf Abschreckung zielenden Prävention und eine „Null-Toleranz-Politik“ hervor, die unter Ronald Reagan die Drogenpolitik dominieren sollten. Diese neuartige Drogenpolitik, die sozialkonservative und neoliberale Ansichten miteinander verquickte, bildet den Gegenstand des dritten Teils von Riskante Substanzen. Dabei zielten die Politiken der Prävention primär auf die Angehörigen vermeintlich produktiver sozialer Gruppen, die durch die Vermittlung konservativer Werte zur freiwilligen Verhaltensänderung angeregt werden sollten. Wie Bonengel in Kapitel 5 zeigt, kam dabei insbesondere drei Orten eine besondere Bedeutung zu: der Familie, der Schule sowie dem Arbeitsplatz, wobei die an Arbeitsplätzen durchgeführten Urintests verdeutlichen, dass die auf die Mitglieder der Mittel- und Oberschicht zielende Drogenprävention neben gouvernementalen auch disziplinierende Techniken im Repertoire hatte. Einen weiteren Aspekt der Drogenprävention bildete die restriktive Haltung der Bundespolitik unter Ronald Reagan und George H. W. Bush in der Debatte um die therapeutischen Wirkungen von Cannabis und Heroin. Die symbolpolitische Negation jeglicher positiver Potenziale stellte dabei nicht nur eine Abkehr von der unter Jimmy Carter geförderten Erforschung der medizinischen Nutzen von Cannabis und Heroin dar, sondern erzeugte auch einen sich weitenden Graben zwischen Politik und Wisssenschaft (Kapitel 6).

Wesentlich härter von der restriktiven Drogenpolitik betroffen waren allerdings, wie der Autor in dem vierten Teil seiner Studie zeigt, Menschen der unteren sozialen Schichten, insbesondere Angehörige ethnischer Minderheiten in den Innenstädten. Vor dem Hintergrund des neoliberalen Dogmas der Eigenverantwortung des Individuums und eingebettet in den Umbau vom rehabilitativen Wohlfahrsstaat zum carceral state wurden in den 1980er- und 1990er-Jahren drastische, strafende Maßnahmen im Kampf gegen den Drogenkonsum dieser vermeintlich zur Selbstregierung unfähigen sozialen Gruppen ergriffen. Im Fadenkreuz standen dabei neben Drogendealern die sogenannten „Crack-Moms“ (Kapitel 7). Diese verkörperten die Ängste der weißen Mittel- und Oberschicht vor einer Unterschicht, die als kriminell und von staatlichen Transferzahlungen abhängig galt und diese Dysfunktionalität an die nachkommende Generation weiterzugeben drohte. Mit dem Aufkommen der sogenannten „AIDS-Krise“ erhielt die vom (intravenösen) Drogenkonsum der Unterschichten angeblich ausgehende biopolitische Bedrohung eine weitere Facette (Kapitel 8). Während HIV in den USA zunächst als eine Krankheit begriffen wurde, die auf die homosexuelle community begrenzt war, wurden intravenöse Konsument/innen als Einfallstor der Krankheit in die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft problematisiert. Vor diesem Hintergrund entbrannten Debatten über die Abgabe von Spritzbesteck, um auf diese Weise die gemeinsame Nutzung von Spritzen zu vermeiden und damit die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Befürworter/innen einer restriktiven Drogenpolitik lehnten diese Maßnahme jedoch ab, da sie den „Junkies“ die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln absprachen und ihnen unterstellten, weiterhin Spritzen zu teilen.

Timo Bonengel hat mit Riskante Substanzen eine äußerst lesenswerte Studie zum „War on Drugs“ vorgelegt, die das Wissen über Drogenpolitiken in den USA für den Zeitraum von den frühen 1960er- bis in die frühen 1990er-Jahre bereichert. Zudem trägt das Buch zum historischen Verständnis gegenwärtiger (rassistischer) Drogendiskurse in den USA bei, beispielsweise durch seine, wenn auch lediglich knappen Hinweise auf diskursive Verknüpfungen von Immigrant/innen mit Drogen – eine Verknüpfung, die in steter Regelmäßigkeit von Donald Trump in seinen rassistischen Ausfällen gegen (lateinamerikanische) Immigrant/innen vorgenommen wird. Eventuell hätte er stärker auf die Bedeutung der Kategorie Geschlecht eingehen und deren Bedeutung auch jenseits der rassistischen Konstruktion der „Crack-Mom“ untersuchen können. Zudem hätte mich auch interessiert, ob und in welcher Form die zeitgleichen Debatten um Sexualität und Sexualmoral im Kontext des „War on Drugs“ eine Rolle gespielt haben, zum Beispiel im Zusammenhang mit der vermeintlich die Sexualmoral zersetzenden Wirkung von Substanzen wie Marihuana. Trotz dieser kleinen Monita, oder besser Ergänzungsvorschläge, stellt Riskante Substanzen eine erhellende Studie dar, die das historische Verständnis des „War on Drugs“ deutlich voranbringt.

Anmerkungen:
1 Richard Nixon, Remarks About an Intensified Program for Drug Abuse Prevention and Control. The American Presidency Project, in: The American Presidency Project, https://www.presidency.ucsb.edu/node/240238 (03.07.2020).
2 David F. Musto, The American Disease. Origins of Narcotic Control, New Haven 1973; Arnold H. Taylor, American Diplomacy and the Narcotics Traffic, 1900-1939. A Study in International Humanitarian Reform, Durham 1969.
3 Vgl. u.a. David T. Courtwright, Dark Paradise. A History of Opiate Addiction in America, Cambridge 2001; ders., Forces of Habit. Drugs and the Making of the Modern World, Cambridge 2002, insbesondere Kapitel 9; Emily Dufton, Grass Roots. The Rise and Fall and Rise of Marijuana in America, New York 2017; Jerome Himmelstein, The Strange Career of Marihuana. Politics and Ideology of Drug Control in America, Westport 1983; Doris Marie Provine, Unequal Under Law. Race in the War on Drugs, Chicago 2007.

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