A. Rosen: The Holocaust's Jewish Calendars

Cover
Titel
The Holocaust's Jewish Calenders. Keeping Time Sacred, Making Time Holy


Autor(en)
Rosen, Alan
Erschienen
Anzahl Seiten
266 S.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christin Zühlke, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Jüdische Kalender begleiten durch den Alltag, strukturieren das tägliche Leben und wirken sinngebend. “[…] [C]alendars generally alternate between the ordinary and the extraordinary, the commonplace and the exceptional, or in a religious idiom, the mundane and the sacred […]. And it is exactly this predictability that makes a calendar attractive and that allows us to use it to bring order to our lives.” (S. 3)

Genau daher beschäftigt sich Alan Rosen in seiner Monografie The Holocaust's Jewish Calendars. Keeping Time Sacred, Making Time Holy mit jüdischen Kalendern, die während des Holocaust entstanden. Der Einführung dieser Artefakte stellt Alan Rosen einen generellen Überblick zu jüdischen Kalendern in der Zwischenkriegszeit voran und kann damit – auch trotz einer schwierigen Quellenlage – eine erstaunliche Bandbreite abdecken und exemplarisch hand-, schreibmaschinengeschriebene und gedruckte Kalender vorstellen. Die präsentierten Kalender wurden von Frauen und Männern verfasst, wobei die Autoren der Kalender verschiedensten Alters waren und unterschiedlichste Einstellungen, wie z.B. eine säkulare oder religiöse, vertraten. Die Entstehungsorte verteilen sich über Ghettos (wie z.B. Lodz, Warschau und Theresienstadt), Konzentrationslager (z.B. Westerbork und Auschwitz) und Verstecke in ganz Europa. Dabei ergänzt Alan Rosen diese mit zwei ungewöhnlicheren Exemplaren: eines verfasst von einem italienischen Priester für die Juden, denen er Schutz bot, und ein anderes in den USA gedrucktes Kalenderbuch für ein vorwiegend jiddischsprachiges, ultraorthodoxes (chassidisches) Publikum. Zusätzlich widmet sich Alan Rosen auch den Kalenderdaten in Tagebüchern, die er als weitere Komponente in seine Quellenschau aufnahm.

Insgesamt griff damit Rosen auf 40 Kalender zurück, die zumeist für das jüdische Jahr 5705 (1944/45) erstellt worden waren. 15 von ihnen sind auszugsweise anhand von Kalenderblättern im Buch reproduziert und visualisieren die verschiedenen diskutierten Aspekte. Das Quellenkorpus ist zwar fragmentarisch, bildet aber auf Grund seiner großen Bandbreite relativ repräsentativ das jüdische Leben vor und während des Holocaust ab. Die Quellen bezog Rosen dabei aus verschiedenen Archiven und privaten Nachlässen oder direkt aus dem persönlichen Besitz der Überlebenden selbst. Gespräche mit den Erstellern der Kalender oder ihren Angehörigen ergänzen daher auch Rosens Studie. Die Erforschung dieser Quellen aus der Zeit des Holocaust bildet einen relativ blinden Fleck in der generellen Forschungslandschaft, wobei Rosen an diverse Forschungsthemen anknüpft: Er verortet die Kalender im Themenbereich der Erinnerung, z.B. in Bezug auf die Forschung von Lawrence Langer (S. 8), oder in Bezug auf die Erforschung von Tagebüchern, z.B. durch David Roskies (S. 179). Des Weiteren verweist er auf die Schriften von Rabbi Berkovits (S. 10f.) zu jüdischen Kalendern und Zeit sowie auf das Werk Viktor Frankls (S. 92ff.) zum Zeitverständnis, um seine Studie fachlich zu verorten.

Die Auswertung der in The Holocaust´s Jewish Calendars präsentierten Exemplare gibt dabei einen umfassenden Einblick in den Alltag der Opfer: Jeder dieser Kalender gibt Auskunft über den Verfasser, dessen Leben vor und auch während des Holocaust. Damit verbunden stellt Rosen dar, wie der jeweilige Kalender entstand (z.B. im Versteck) und welche Ressourcen dem Verfasser zur Erstellung des jüdischen Kalenders zur Verfügung standen (wie z.B. die Konsultation von Rabbinern). Aber auch der Kalender selbst wird detailbewusst von Rosen daraufhin analysiert, wie ausführlich und akkurat die jüdische Zeit dargestellt wurde (z.B. die Zeiten für Schabbatbeginn). Ebenso untersucht Rosen, in welcher Sprache bzw. welchen Sprachen die Kalender verfasst wurden, und analysiert, ob es sich z.B. um eine Mischung aus Hebräisch, Jiddisch oder einer lokalen Sprache (wie z.B. Polnisch) handelt. All dies führt zu einer komplexen soziokulturellen und historischen Einordnung der Artefakte in den Kontext des jüdischen Alltagslebens während der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung.

Rosen, der in Boston in Literatur- und Religionswissenschaft promovierte und dabei von dem Holocaustüberlebenden Elie Wiesel, dessen Werk er sich bis heute widmet, betreut wurde, beschäftigte sich schon länger mit Zeitzeugnissen, wie z.B. in seinen vorherigen Publikationen. Diese erwähnten häufiger, dass Deportationen oder sogenannte Aktionen an jüdischen Feiertagen oder Schabbat stattfanden. Gerade daraus entwickelte sich sein Interesse an der Frage, wie die Opfer diese Zeitpunkte im Kalender verorten konnten. Die sozio-kulturelle Interpretation seiner Untersuchungsgegenstände führte zu zwei Thesen.

Die erste These bezieht sich auf die Kalender selbst und z.B. mittels der Feiertage, auf die jüdische Geschichte. So stellte Rosen fest, dass die Kalender als „a graphic witness to a Jewish past, present, and future“[2] dienten. Sie verwiesen somit auf eine Kontinuität, die sich auf eine jüdische Geschichte beriefen und das Leben per se dokumentierten, in Zeiten, die häufig das Gegenteil für die Opfer bedeuteten. Eben jene Kontinuität setzte sich auch durch die Struktur der Kalender selbst fort. Die Befolgung und Darstellung der religiösen Zeitstrukturen, wie z.B. durch Schabbat, der die jeweilige Woche abschließt und jeweils zu einer vorhersagbaren, festgelegten Zeit beginnt, setzte eigene Vorstellungen fort. Damit blieben kulturelle und religiöse Praktiken Teil der jüdischen Identität und des Lebens der Opfer und gehörten zu den Grundbedürfnissen der Verfolgten. Gerade im Konzentrationslager, wo die Dehumanisierung fundamentaler Bestandteil des Alltags der Opfer war, stellte das Verfassen eines Kalenders einen Bezug zur Identität des Individuums her. Daraus resultierend symbolisierten die jüdischen Kalender Kontinuität schlechthin, so Rosen.

Die zweite These bezieht sich auf den Aspekt der Freiheit. Das Erstellen eines Kalenders folgte dem lang tradierten Impuls, die Zeit nach einem jüdischen Verständnis zu messen. Durch das Strukturieren der Wochen und Monate nach jüdischer Tradition stellte sich der Verfasser der Zeit entgegen, die von den Tätern vorgegeben und als gleich wirkend, eintöniger Terror wahrgenommen wurde. Mit dem jüdischen Kalender hingegen gehörte die Zeit weiterhin den Opfern. Daraus schlussfolgert Rosen, dass den im Holocaust entstandenen Kalender auch ein unwiderlegbarer Plan für die Freiheit innewohne und als Widerstandsakt der Opfer angesehen werden kann.

Generell ist das Buch dabei klar strukturiert und sehr angenehm zu lesen. Die Bedeutung der Artefakte kann Rosen anhand der Beispiele eindrücklich herausarbeiten und auch dank der ihm eigenen sprachlichen Sensibilität für die Verfasser der Kalender und ihrer Zwangslagen die besondere Vielschichtigkeit der Quellen aufzeigen. Dabei ist ein tiefergehendes Wissen zum jüdischen Leben zwar von Vorteil, aber für das Verständnis der dargelegten Forschung nicht notwendig. Jüdische Aspekte, wie z.B. Feiertage, werden kurz, aber verständlich erläutert, sowie durch das angehängte Glossar und eine Übersicht des jüdischen Jahreszyklus dem Leser nähergebracht. Kurze Referenzen zum Talmud geben zudem den Blick auf die Bedeutung von Zeit im Judentum frei. Eine breitere Einbindung der Heiligen Schriften hätte zwar das Verständnis für die generelle religiös-kulturelle Dimension beim Leser noch weiter vertiefen können, ist aber gleichzeitig nicht zentral für Rosens eigentliche Argumentation.

Die zusätzlichen Kontextualisierungen helfen, die Tiefe der Interpretationen und die besondere Forschungsleistung Rosens für die Leserinnen und Leser innerhalb und außerhalb wissenschaftlicher Fachkreise gleichermaßen zu erschließen und damit die Kalender als eigenständige Objekte des Holocaust wahrzunehmen. Das Buch bietet damit einen umfassenden Über- als auch detaillierten Einblick in das jüdische Alltagsleben während des Holocaust sowie in die Techniken des Überlebens und der Bewahrung der eigenen jüdischen Identität durch den besonderen Zugang zur jüdischen Zeit. Rosen veranschaulicht so mit seiner Forschung, wie sich mit dem Verfassen der jüdischen Kalender die Opfer gegen die Zerstörung des jüdischen Lebens stellten, und leistet damit einen fundamentalen Beitrag, um jüdisches Leben während des Holocaust auch als Kontinuität zu porträtieren und die verschiedenen Formen des intellektuellen und religiösen Widerstands und der Selbstbehauptung seitens der Opfer am Beispiel der Kalender nachzuweisen.

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