G.F. Harsch: Übersetzung als Erinnerung

Cover
Titel
Übersetzung als Erinnerung. Sachbuch-Übersetzungen im deutschen Diskurs um NS-Verbrechen in den 1950er-Jahren


Autor(en)
Harsch, Georg Felix
Reihe
Public History – Angewandte Geschichte 5
Anzahl Seiten
255 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
René Schlott, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Wie gerade Übersetzungen von fremdsprachigen Büchern ins Deutsche als Auslöser für Debatten wirken können, zeigte zuletzt die breite Rezeption von Michael Rothbergs Studie „Multidirektionale Erinnerung“.1 Obwohl die deutsche Ausgabe erst zwölf Jahre nach der englischen Originalausgabe erschien, führte sie zu einer anhaltenden Diskussion um die Rolle von Rassismus, Kolonialverbrechen und Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur. Georg Felix Harsch betrachtet in seiner Hamburger Dissertation Übersetzungen aber nicht nur als Diskursgeneratoren, sondern auch als „Reservoirs für Wissen aus und über die Vergangenheit“ (S. 17). Letzteres gilt insbesondere für den vom Autor betrachteten Zeitraum der frühen 1950er-Jahre, „als der Holocaust noch keinen Namen hatte“2 und viele Details des nationalsozialistischen Völkermordes an den europäischen Juden noch nicht erforscht oder ins öffentliche Bewusstsein der Nachkriegsgesellschaft vorgedrungen waren. Gerade weil die deutsche Geschichtswissenschaft damals einen weiten Bogen um die Beschäftigung mit dem Judenmord machte, hatten Übersetzungen von Werken zu den NS-Verbrechen eine besondere Bedeutung.

Die deutsch-englische Übersetzungsgeschichte von Harsch, der sich auch auf eigene Erfahrungen als Übersetzer aus dem Englischen stützen kann, nimmt drei frühe britische Werke genauer in den Blick, nach denen sich der Band gliedert: Die 1952 in London erschienene Hitler-Biographie von Alan Bullock, die im Jahr darauf auf Deutsch herauskam3; außerdem die Monographie „The Final Solution“ von Gerald Reitlinger zum nationalsozialistischen Judenmord, 1953 in Großbritannien und 1956 in der Bundesrepublik veröffentlicht4; und schließlich Edward Russells Werk „The Scourge of the Swastika“ aus dem Jahr 1954, das ein Jahr später zeitgleich in der DDR und der Bundesrepublik erschien.5

Harsch verfolgt in seiner ausführlichen Analyse der genannten Übersetzungen drei parallele Prozesse: (1) die Schaffung und Speicherung von Wissen über die NS-Verbrechen, (2) die Auslotung von Sagbarkeiten und die Suche nach adäquaten sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten im Deutschen für das präzedenzlose Geschehen sowie (3) die Erweiterung des Diskursraumes. Sein Begriff der Übersetzung ist dabei nicht derjenige einer bloßen sprachlichen Übertragung, sondern einer eigenen kulturellen, literarischen und wissenschaftlichen Leistung. Übersetzungen sind für ihn nicht nur von einem Original abhängige, sondern autonome Texte. Die Übersetzerinnen und Übersetzer der drei Bücher, Wilhelm und Modeste Pferdekamp, Johann Wolfgang Brügel und Roswitha Czollek, werden deshalb genauso wie die Autoren der Originalwerke ausführlich biographisch vorgestellt. Ihre jeweiligen Lebenserfahrungen als Mitläufer oder Verfolgte des NS-Regimes flossen in ihre Arbeit ein, wie Harsch an einigen Beispielen nachweisen kann, selbst wenn sein Verweis auf das „übersetzerische Unbewusste“ (S. 219) etwas diffus bleibt. Auch die teils schwierigen Publikationsprozesse zeichnet Harsch unter anderem mit Rückgriff auf die Verlagsarchive nach. Die DDR-Ausgabe von „The Scourge of the Swastika“ erschien bei „Volk und Welt“, die bundesdeutsche Ausgabe bei „Röderberg“, dem Verlag der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes.

In einer wahren Fleißarbeit hat der Autor alle Originale und ihre Übersetzungen gleichsam parallel gelesen und abgeglichen, um besonders in Wortwahl, Einfügungen, Fehlern oder Lokalisierungen zu zeigen, welche Spuren der Wechsel vom einen in den anderen nationalen Publikationskontext im Text hinterlassen hat. Deutlich wird die Relevanz der Wortwahl etwa an der unterschiedlichen sprachlichen Konnotation der Begriffe „Zwangsarbeit“ und „slavery“ oder an der schwierigen Übertragung englischsprachiger Idiome. Auch inhaltliche Auslassungen können von besonderer Bedeutung sein. Interessant ist hier besonders das Beispiel von Edward Russells Buch, das in der DDR übersetzt wurde und entsprechend an den ideologischen Erscheinungskontext angepasst werden musste. Der im Original von Russell angesprochene Diktaturcharakter der Sowjetunion wurde in der deutschen Übersetzung getilgt.

Beispiele für Anpassungen, teils in Form von Aktualisierungen, findet Harsch auch in den westdeutschen Übersetzungskontexten. Denn in der jungen Bundesrepublik konnten Übersetzungen ebenfalls zum Politikum werden – gerade wegen der hohen Elitenkontinuität. Anhand eines Briefwechsels aus dem Nachlass von Gerald Reitlinger in der Wiener Library in London kann Harsch zeigen, wie Richard Korherr, Ministerialrat im Bonner Bundesfinanzministerium, 1955 im Vorfeld der deutschen Ausgabe von „The Final Solution“ mehrfach schriftlich intervenierte, um seine Rolle bei der Erfassung der Zahl der jüdischen Mordopfer als ehemaliger Leiter der Statistischen Abteilung im SS-Hauptamt zu verschleiern. Fünf Jahre nach dem Erscheinen des deutschen Buches, das seine Funktion im NS-Apparat nicht verschwieg, wurde Korherr entlassen. Alle drei Übersetzungen waren so auf unterschiedlichen Ebenen „Auslöser erinnerungskultureller Entwicklungen“ und hatten teils „einen konkreten vergangenheitspolitischen Effekt“ (S. 225).

Leider sind im Buchmanuskript störende Redundanzen vom Autor (oder dem Lektorat) nicht getilgt worden. Einige Zitate tauchen wortgleich im Abstand von nur wenigen Seiten doppelt auf (etwa auf S. 162 und S. 164 sowie auf S. 177 und S. 179). Außerdem war die „erste Monografie über den Mord an den europäischen Juden“ (S. 18) nicht Reitlingers „The Final Solution“, sondern Léon Poliakovs „Bréviaire de la haine. Le IIIe Reich et les Juifs“. Das Werk erschien zwei Jahre vor Reitlingers Buch in Paris und ist bislang nicht ins Deutsche übersetzt worden.6

Harsch gelingt eine gute Einbindung seiner Ergebnisse in die zeitgenössischen, von der Blockkonfrontation und der Ideologiekonkurrenz dominierten Diskurse sowie in die Forschungsliteratur zur Erinnerungskultur der frühen Nachkriegszeit. Gerade sein Blick auf die Rezeption der untersuchten Bücher macht deutlich, „wie stark die Wahrnehmung dieser ersten Werke über den Holocaust von den außen- und innenpolitischen Konfliktlinien des Kalten Krieges geprägt war“ (S. 155). Der Wunsch nach Verdrängung war allgegenwärtig. So versuchte das Auswärtige Amt in Bonn erfolglos, eine deutsche Ausgabe von „The Scourge of the Swastika“ ganz zu verhindern, und bezeichnete das Werk 1954 in einem internen Vermerk als „deutschfeindliches Greuelbuch“ (zit. auf S. 229). Russell war zuvor bereits in Großbritannien vor die Wahl gestellt worden, entweder seine Regierungsanstellung als Militärjurist zu verlieren oder auf die Veröffentlichung des Buches zu verzichten, weil es die Westintegration der jungen Bundesrepublik gefährden könne.

Auch wenn die Antworten in systematischer Hinsicht noch überzeugender hätten ausfallen können, so sind die Fragen, die Georg Felix Harsch in seiner Arbeit stellt, wichtig und inspirierend. Seine Translations-Perspektive ist ein origineller Zugriff auf die Frühgeschichte der Holocaustgeschichtsschreibung und ergänzt diese um einen zentralen Aspekt.

Anmerkungen:
1 Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Aus dem Englischen von Max Henninger, Berlin 2021. Englische Originalausgabe: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009. Eine Übersicht zahlreicher Besprechungen und Presseberichte anlässlich der deutschen Ausgabe findet sich auf der deutschen Verlagswebsite: URL: <https://metropol-verlag.de/michael-rothberg-multidirektionale-erinnerung-rezension/> (16.06.2021). Siehe auch die Rezension von Katharina Stengel, in: H-Soz-Kult, 11.05.2021, URL: <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-95854> (16.06.2021).
2 Regina Fritz / Eva Kovács / Béla Rásky (Hrsg.), Als der Holocaust noch keinen Namen hatte / Before the Holocaust Had Its Name. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Juden / Early Confrontations of the Nazi Mass Murder of the Jews, Wien 2016; rezensiert von Philipp Neumann-Thein, in: H-Soz-Kult, 21.10.2016, URL: <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-23564> (16.06.2021).
3 Alan Bullock, Hitler. A Study in Tyranny, London 1952. Deutsche Ausgabe: Hitler. Eine Studie über Tyrannei. Aus dem Englischen von Wilhelm und Modeste Pferdekamp, Düsseldorf 1953.
4 Gerald Reitlinger, The Final Solution. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939–1945, London 1953. Deutsche Ausgabe: Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939–1945. Aus dem Englischen von Johann Wolfgang Brügel, Berlin (West) 1956.
5 Edward Frederick Langley Russell, The Scourge of the Swastika. A Short History of Nazi War Crimes, London 1954. Deutsche Ausgabe: Geißel der Menschheit. Kurze Geschichte der Nazikriegsverbrechen. Aus dem Englischen von Roswitha Czollek, Berlin (Ost) und Frankfurt am Main 1955.
6 Der Berliner Verlag Edition Tiamat hat für den Herbst 2021 eine deutsche Ausgabe unter dem Titel „Vom Hass zum Genozid“ angekündigt, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Ahlrich Meyer: URL: <https://edition-tiamat.de/vom-hass-zum-genozid/> (16.06.2021). Siehe im selben Verlag zuvor auch Léon Poliakov, St. Petersburg – Berlin – Paris. Memoiren eines Davongekommenen. Aus dem Französischen von Jonas Empen, Jasper Stabenow und Alex Carstiuc, Berlin 2019.