R. Leemhuis: „Ich muß deshalb dringend von jeder zusätzlichen Aktion für Israel abraten.“

Cover
Titel
„Ich muß deshalb dringend von jeder zusätzlichen Aktion für Israel abraten.“. Das Auswärtige Amt und Israel zwischen 1967 und 1979


Autor(en)
Leemhuis, Remko
Reihe
Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung (52)
Erschienen
Berlin 2020: LIT Verlag
Anzahl Seiten
469 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lorena De Vita, Department of History and Art History, Utrecht University

„Deutschland steht in einem einzigartigen Verhältnis zu Israel. […] Die einzigartigen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind ein Grundpfeiler der deutschen Außenpolitik.“ So heißt es heute auf der Website des deutschen Außenministeriums.1 Doch welche Rolle spielten das Ministerium und sein Personal bei der Gestaltung eines solchen „einzigartigen“ Verhältnisses? Dies ist die Kernfrage von Remko Leemhuis’ Buch, das sich auf die Jahre 1967 bis 1979 konzentriert – die „schwierigen Zeiten“ (S. 24) bzw. turbulente Jahre in der Region, vom Sechstagekrieg und seinen Folgen bis hin zum Camp-David-Abkommen und der Revolution in Iran.

Der Autor, Direktor des American Jewish Committee in Berlin, schreibt unmissverständlich, dass eine anhaltende „antisemitische und israelfeindliche“ (S. 24) Tendenz das Auswärtige Amt (AA), sein Personal und die von diesem Personal vorgeschlagene politische Haltung gegenüber Israel für den gesamten Untersuchungszeitraum geprägt habe, nachdem die offiziellen diplomatischen Beziehungen im Jahr 1965 aufgenommen worden waren. Der Autor verwendet zahlreiche lange Zitate, um seine Argumentation im gesamten Buch zu untermauern, das aus einer an der Philipps-Universität Marburg verteidigten Doktorarbeit hervorgegangen ist. Eines dieser Zitate gibt dem Buch den Titel – ein Auszug aus einer Aufzeichnung (1969) von Günther Harkort, Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Er warnte vor jeglicher Unterstützung des Staates Israel, der zu dieser Zeit mit einer ernsthaften Devisennot konfrontiert war (S. 120f.).

Leemhuis’ Forschung stützt sich insbesondere – aber nicht ausschließlich – auf veröffentlichte und unveröffentlichte Dokumente des Außenministeriums. Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert. Die ersten zwei Kapitel skizzieren die methodologischen und historiographischen Beweggründe für Leemhuis’ Untersuchung. In den Kapiteln 3 bis 7 werden die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Israel zwischen 1967 und 1979 sowohl aus bilateraler Sicht (Kapitel 3 bis 5) als auch aus multilateraler Perspektive (Kapitel 6 und 7) erörtert. Dies zeigt, wie Dynamiken innerhalb multilateraler Institutionen die bilateralen Beziehungen geprägt, beeinflusst oder eingeschränkt haben, wobei sowohl die Vereinten Nationen (Kapitel 6) als auch die europäischen Institutionen (Kapitel 7) berücksichtigt werden.

Thematisch behandeln die Kapitel 3 bis 7 auch zentrale Fragen wie die „Entschädigung“ von NS-Verbrechen (Kapitel 3), die westdeutschen wirtschaftlichen Beziehungen zu Israel (Kapitel 4) und die komplexer werdende Frage der palästinensischen politischen Repräsentation, einschließlich der Frage der westdeutschen Beziehungen zur PLO und deren Unterstützung bei einer Initiative jenseits des Europäisch-Arabischen Dialogs (Kapitel 5 bis 7). Dabei kommt zum Beispiel auch ans Licht, dass die deutsche Botschaft in Israel 1973 „ermächtigt“ wurde, die PLO-Nachrichtenagentur WAFA finanziell zu unterstützen (S. 271). Das Kapitel 8 (Fazit) schließt mit einer pointierten Einschätzung der Rolle des AA bei der Herstellung der sonst in der Literatur dargestellten westdeutsch-israelischen „special relationship“. Leemhuis argumentiert, dass die Stärke dieser Beziehung nicht dank, sondern trotz der Haltung des Personals des Außenministeriums aufgebaut bzw. beibehalten wurde.

Leemhuis’ Interpretation der Haltung von AA-Beamten zwischen 1967 und 1979 ist durchweg klar: „Nahezu jedes Zugeständnis, jede freundschaftliche Geste [der Bundesrepublik] und jeder Akt der Solidarität für den jüdischen Staat musste nicht selten gegen den erheblichen Widerstand der Diplomaten im Auswärtigen Amt durchgesetzt werden.“ (S. 444) Dabei argumentiert der Autor, dass „Groupthink“ – für das er die Definition von Alex Mintz und Karl DeRouen aus dem Jahr 2010 verwendet (zitiert auf S. 33) – das Vorgehen des Auswärtigen Amtes gegenüber Israel und den arabischen Staaten entscheidend geprägt habe.

Die Dynamik der deutsch-israelischen Beziehungen bleibt ein zentrales Thema der wissenschaftlichen und politisch-publizistischen Debatte. Carole Finks Buch „West Germany and Israel. Foreign Relations, Domestic Politics, and the Cold War, 1965–1974“ (Cambridge 2019)2 erwähnt Leemhuis nicht. Dies ist überraschend; es kann mit redaktionellen Entscheidungen und dem Abschluss der Dissertation 2018 zu tun haben. Nichtsdestotrotz bleibt Finks „West Germany and Israel“ ein entscheidendes Buch, das einen Großteil des gleichen Zeitraums abdeckt (ihr Name ist auf S. 26 und S. 451 zweimal falsch geschrieben). Eine Auseinandersetzung mit Finks Analyse der bilateralen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel hätte die in diesem Buch präsentierte Argumentation verstärkt, gerade im Hinblick auf den breiteren historischen Kontext der betrachteten Phase. Insbesondere angesichts von Leemhuis’ Fokus auf die Jahre 1967–1979 ist es eigenartig, dass die Dynamiken des Kalten Krieges im Nahen Osten, in Europa, in Deutschland kaum oder gar nicht erwähnt werden – mitsamt der Frage, wie diese Dynamiken die vom Personal des Außenministeriums vertretene Haltung geprägt haben. Schließlich beeinflusste auch vor 1967 die ständige Sorge um arabische Reaktionen die Haltung des AA gegenüber Israel. Inwiefern war das Jahr 1967 in dieser Hinsicht also ein Wendepunkt?

Leemhuis vertritt die These, dass die dargestellten antisemitischen und antiisraelischen Tendenzen innerhalb des AA nicht mit der personellen Kontinuität der früheren Jahre zusammenhingen, sondern mit einer Art „Erinnerungsabwehr“ (S. 436) – ein Aspekt, der es verdient hätte, noch eingehender untersucht zu werden. Darüber hinaus wäre es angesichts der Fokussierung auf die Aktionen und Empfehlungen eines bestimmten Personenkreises innerhalb des AA interessant gewesen, mehr Hintergrundinformationen oder biografische Angaben im Buch zu finden. Es hätte sich gelohnt, diese Ergebnisse auch mit Quellen aus weiteren Archiven zu triangulieren. Wie sahen andere (Deutsche oder Nichtdeutsche) die Mitarbeiter des Außenministeriums und deren Haltung gegenüber Israel? Das Buch bietet eine düstere Einschätzung der Politik, der Praktiken und Präferenzen des Personals des Außenministeriums. Aus diesem Grund wirft Remko Leemhuis’ Studie eine Reihe wichtiger Fragen zum Weltbild der Gestalter bundesdeutscher Beziehungen mit Israel auf.

Anmerkungen:
1 <https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/israel-node/bilateral/203806> (15.12.2021).
2 Siehe dazu die Rezension von Joseph Ben Prestel, in: H-Soz-Kult, 07.02.2020, <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28234> (15.12.2021).