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Titel
Von Bienen lernen. Das Bonum universale de apibus des Thomas von Cantimpré als Gemeinschaftsentwurf: Analyse, Edition, Übersetzung, Kommentar


Autor(en)
Burkhardt, Julia
Reihe
Klöster als Innovationslabore 7
Erschienen
Regensburg 2020: Schnell & Steiner
Anzahl Seiten
1.616 S.
Preis
€ 76,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lioba Geis, Historisches Institut, Universität zu Köln

Die Frage, wie menschliches Zusammenleben funktioniert, wie Gemeinschaften entstehen, welche Prinzipien, Ideale und Ordnungsmechanismen für deren dauerhafte Etablierung sorgen, beschäftigte bereits die mittelalterlichen Zeitgenossen. Auf der Suche nach Antworten griffen sie vielfach auf naturkundliche Beobachtungen zurück, übertrugen Mechanismen des Zusammenlebens bestimmter Tiergruppen auf menschliche Gemeinschaften und etablierten so mittels der Tierallegorie einen Referenzrahmen, um gesellschaftliche Entwürfe zu formulieren.

Julia Burkhardt stellt mit ihrer Heidelberger Habilitationsschrift unser Wissen über solche Ideen und Texte auf eine neue Grundlage, indem sie mit der kommentierten Edition des Bonum universale de apibus des Thomas von Cantimpré nun erstmals ein einflussreiches Werk des 13. Jahrhunderts umfassend zugänglich macht. Hierin hatte der Dominikaner Thomas am Beispiel der Bienen „Hierarchien, Vorzüge und Abgründe des sozialen Miteinanders“ (S. 11) beschrieben und anhand passender Anekdoten und Exempla eine Art Handbuch für das Wirken der Dominikaner vor allem als Prediger und Seelsorger geschaffen.

Im ersten Schritt (Teilband 1, S. 15–38) vollzieht Julia Burkhardt die Informationen nach, die über den Lebensweg des Thomas von Cantimpré überliefert sind. Umsichtig macht sie dabei deutlich, wie eng unsere heutigen Erkenntnisse über dessen Biographie mit der Entstehung, Überlieferung und Wirkung seiner Werke verwoben sind. Zwei Stationen prägten nachhaltig Thomas‘ Leben und Wirken: sein Eintritt als Augustinerchorherr in das Stift Cantimpré, das ihm nicht nur zu seinem Beinamen verhalf, sondern in seinen Werken immer wieder als „Sehnsuchtsort“ aufscheint, „an dem fromme Männer in enger freundschaftlicher Verbundenheit ein vorbildhaftes Leben führen“ (S. 22), und sein Eintritt in den noch jungen und aufstrebenden Dominikanerkonvent in Löwen, in dem Thomas jene Expertise über die Dominikaner gewann, die Grundlage für das Bienenbuch und den dortigen Entwurf einer hierarchisch organisierten Gemeinschaft werden sollte.

Prägend waren darüber hinaus das Vorbild des Jakob von Vitry, vor allem dessen Mobilität sowie Predigt- und Seelsorgetätigkeit, die Aufenthalte des Thomas von Cantimpré in Paris und Köln, die ihn mit den großen Auseinandersetzungen der Zeit wie dem sog. Mendikantenstreit, aber auch herausragenden Persönlichkeiten wie Albertus Magnus in Kontakt brachten, aber auch seine persönliche Vernetzung mit Adligen und Geistlichen im Brabanter Herzogtum. Am Ende konstatiert Julia Burkhardt, dass sich nicht nur "ein Bild, sondern viele Bilder von Thomas von Cantimpré" (S. 38) zeichnen lassen, die ihn als Hagiographen, als Naturkundler und als Geschichtensammler ausweisen.

Der zweite Teil (Teilband 1, S. 39–106) widmet sich dem Werk Bonum universale de apibus, in dem Thomas das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen in (religiösen) Gemeinschaften anhand der Bienengemeinschaft „idealtypisch zu beschreiben, moralisierend zu kommentieren und so als Material für Predigten aufzubereiten“ suchte (S. 39). Nach einer allgemeinen narratologischen Einordnung der hochmittelalterlichen Exempel-Tradition führt Julia Burkhardt bewusst ausschnitthaft durch ausgewählte antike und hochmittelalterliche Texte zur Bienenthematik, um einerseits die Reziprozität von naturkundlicher Beobachtung und gesellschaftsrelevanter Deutung und andererseits die wenig lineare zeitgenössische Bearbeitung des Bienenthemas aufzuzeigen. Am Beispiel des Johannes von Salisbury und des Gilbert von Tournai wird verdeutlicht, dass beide Autoren zwar grundsätzlich darin übereinstimmten, in den Bienen das Vorbild für eine hierarchische Gemeinschaft zu sehen, im Detail aber nicht nur unterschiedliche inhaltliche Akzente setzten, sondern auch im Umgang mit antiken Vorlagen deutlich voneinander abwichen. Abgerundet wird das vielschichtige Panorama durch einige Bemerkungen zum Formicarius des Johannes Nider, der sich mit seinem „Ameisenhaufen“ explizit gegen eine monarchische Ordnung aussprach.

Vor dem Hintergrund dieser „mittelalterlichen Bienen- und Ameisenfaszination“ (S. 65) rückt Julia Burkhardt anschließend das Bienenbuch des Thomas von Cantimpré ins Zentrum: den Widmungsbrief und dessen zeithistorische Verortung, die programmatische Ausrichtung des Werks als dominikanische Reflexion über die Herausforderungen der Zeit wie die eigene Ordensidentität, den Umgang des Thomas von Cantimpré mit antiken Werken, der Bibel sowie seinem eigenen Liber de natura rerum, den präzisen Aufbau des Werks und schließlich die Funktion der Bienenallegorie als Vision einer hierarchisch strukturierten Gemeinschaft, die aber nicht allein durch den Willen des Vorstehers, sondern erst durch die Übernahme von Verantwortung eines jeden einzelnen funktionsfähig sein konnte.

Besonders aufschlussreich ist das letzte Kapitel dieses Teils, in dem Julia Burkhardt die im Bienenbuch behandelten Personen, Orte und Räume in den Blick nimmt – ein nicht einfaches Unterfangen, da Thomas von Cantimpré ausdrücklich auf „Datenschutz“ bedacht gewesen war. Dennoch gelingt es, nicht nur die vielfältigen kommunikativen Gesprächssituationen sowie die Bedeutung des mündlichen und teils mehrsprachigen Erzählguts zu beleuchten, sondern auch den sozialen und geographischen Erzählradius des Bienenbuchs zu fassen. Mitglieder europäischer Königsfamilien und regionaler Herrschaftseliten, Ordensmitglieder und Weltgeistliche, Stadtbewohner, Bauern, Bettler und arme Leute – sie alle wurden in unterschiedlichen Funktionen berücksichtigt und dienten mit ihrer charakterlichen Eignung oder Unfähigkeit als Vorbilder oder Antipoden der entworfenen Gemeinschaft. Ihre regionale Verortung vornehmlich in den Brabanter Raum zeigt noch einmal eindrücklich, wie sehr das Bienenbuch mit dem Lebensweg des Thomas von Cantimpré verwoben war, dessen Biographie, Personennetzwerk und persönliche Kontakte relevanter waren „als soziales Ansehen und politische Macht“ (S. 106).

Im dritten Teil (Teilband 1, S. 107–165) befasst sich Julia Burkhardt mit der Rezeptionsgeschichte des Bonum universale de apibus im Spiegel seiner Handschriften. Hier kann die Verfasserin mit aufschlussreichen statistischen Einordnungen der 123 bekannten vollständigen Handschriften aufwarten – etwa zur zeitlichen Streuung der Manuskripte mit einem klar erkennbaren Schwerpunkt im 15. Jahrhundert, zu verschiedenen Ordensprovenienzen, zum Anteil volkssprachlicher Handschriften oder auch zur geographischen Verteilung der Handschriften, deren „überwältigende Mehrheit [im] wesentlichen Wirkungs- und auch Erzählbereich des Thomas von Cantimpré“ (S. 115) zu verorten ist. Darüber hinaus diskutiert Julia Burkhardt nicht nur anschaulich, wie Handschriften durch Abschriften, Ankäufe, Besitzwechsel oder auch Schenkungen in Umlauf gerieten, sondern liefert auch bemerkenswerte Einblicke in die Nutzung durch die Leser, die das Bienenbuch, gefördert durch ein durchgängig schnörkelloses Format und Layout, als Handbuch und Materialsammlung nutzten. Hinzugefügte Kapitelverzeichnisse und Register, Glossierungen und Korrekturen lassen erkennen, wie die Zeitgenossen mit dem Bienenbuch arbeiteten, ohne dabei in den Gesamttext des Werks inhaltlich verändernd einzugreifen. Abgesehen von solchen unmittelbaren Arbeiten am Text zeigt Julia Burkhardt aber auch die Spannweite der Rezeption auf, die von reinen Textauszügen oder aus dem Bienenbuch herausgelösten Exempla über die Einbettung der Exzerpte in neue Sinnzusammenhänge bis hin zur Nutzung des Bienenbuchs als Referenz für verschiedenste Themen – etwa die Stellung des Rektors an der Prager Universität – reicht.

Der vierte Teil (Teilband 1, S. 167–221) leitet schließlich über zur eigentlichen Edition des Bienenbuchs. Ausführlich werden die editorischen Vorarbeiten durch Georg Colvenerius (1564-1649) und Benedikt Maria Reichert (1868–1917) dargelegt, um dann die Erarbeitung des eigenen Editionskonzepts offenzulegen. Von den 123 bekannten Handschriften wurden 90 ausgewertet, allerdings nicht vollständig, sondern mittels sogenannter Prüfstellen, also in den Handschriften abweichende Textstellen, durch die kürzere und längere Textfassungen sowie Mischfassungen des Werks ermittelt werden konnten. In Kooperation mit dem Seminar für Griechische und Lateinische Philologie der Universität Zürich erfolgte dann in mehreren Schritten eine computerbasierte stemmatologische Textanalyse, bei der „mittels eines algorithmenbasierten Programms Ähnlichkeiten in Textstrukturen bestimmt und in Form eines Dendrogramms visualisiert“ wurden (S. 181). In Kombination mit textkritischen Untersuchungen förderte dieses Verfahren vier stabile Handschriftengruppen (mit Untergruppen) zu Tage. Aus diesen wurden dann vier Handschriften sowie eine zwischen den Handschriftengruppen stehende „Springer“-Handschrift (S. 185) ausgewählt, die eine breite chronologische Streuung, unterschiedlich lange Textumfänge sowie verschiedene Grade der Textstrukturierung repräsentieren und schließlich als handschriftliche Grundlage für die Edition herangezogen wurden.

Präzise werden schließlich die Editionsprinzipien dargelegt, um dann die in der Edition verwendeten Handschriften ausführlich und nach einheitlichen Kriterien zu beschreiben. Ein umfangreicher Anhang mit Tabellen zu den bekannten Handschriften, den für die Edition gesichteten Handschriften, den Exzerpten, dem Textumfang des Bienenbuchs, den stemmatologischen Ergebnissen und den verwendeten Bibelstellen im Bienenbuch dokumentiert den beachtlichen Arbeits- und Reflexionsprozess, der hinter dieser Edition steht. Eine Karte zur Lebenswelt des Thomas von Cantimpré, ein ausführliches Inhaltsverzeichnis zu den Kapiteln und Unterkapiteln des Bienenbuchs, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Register runden den Analyseteilband ab. Der imposante, 1097 Seiten starke Editionsteilband (Teilband 2) bietet nicht nur die kommentierte Edition des Bienenbuchs, sondern auch eine parallel abgedruckte Übersetzung, durch die der Zugang zu den Inhalten des Bienenbuchs vor allem denjenigen Nutzer:innen erleichtert wird, die in der lateinischen Sprache noch nicht so sicher unterwegs sind.

Julia Burkhardt hat sich bewusst gegen eine klassische kritische Edition etwa im Stil der etablierten MGH-Editionen entschieden und ein Verfahren entwickelt, in dem Handschriften berücksichtigt werden, die „stellvertretend für eine bestimmte Lesart in Bezug auf Textumfang, Textstruktur und regionale Überlieferung“ stehen – ausdrücklich ohne dabei Vollständigkeit anzustreben: „Vielmehr soll der Nutzer auf diese Weise einen Eindruck vom zeitgenössischen Umgang ebenso wie von späteren Bearbeitungen des Textes bekommen.“ (S. 176). Die Vorteile dieses innovativen Verfahrens liegen auf der Hand: In einer vergleichsweise kurzen Zeit konnte so ein „massenhaft überlieferte[r] Text“ (S. 177) in seinem Überlieferungsbestand eingeordnet und eine solide Textgrundlage geschaffen werden, die das Werk des Thomas von Cantimpré nun auf Basis einer deutlich breiteren und systematisierteren Handschriftenkenntnis zugänglich macht als dies bislang der Fall war – wenngleich die Handschriftenbasis der Edition bei diesem Verfahren zwangsläufig selektiv bleibt. An einigen Stellen hätte man sich eine noch stärkere Transparenz bei den Erläuterungen zum Editionskonzept gewünscht, etwa zu Kriterien, nach denen die für die computerbasierte stemmatologische Textanalyse herangezogenen Kapitel ausgewählt wurden. Die eingefügten Grafiken (insb. auf S. 183 und 189) sind zudem nicht immer selbsterklärend und auf S. 178 weichen die Befunde zu den Prüfstellen von den aufgeführten Belegen in Anhang 4 ab.

Dies soll aber nicht davon ablenken, dass Julia Burkhardt mit ihrer Habilitationsschrift in mehrfacher Hinsicht ein großer Wurf gelungen ist: durch die umsichtigen Analysen zum Leben und Werk des Thomas von Cantimpré, durch die ausführlichen handschriftlichen Untersuchungen, die das Potential und den Erkenntnisgewinn solcher rezeptionsgeschichtlicher Zugänge deutlich offenbaren, und durch die Erarbeitung einer Edition, die vielleicht nicht jeden Editionsphilologen zufrieden stellen wird, die aber künftigen Projekten mit einem ähnlich hohen und komplexen Handschriftenaufkommen wertvolle methodische Anregungen bietet und für Debatten über Editionsstandards einen wichtigen Beitrag leistet.

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