J.-P. Horstmann: Halbamtliche Wissenschaft

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Titel
Halbamtliche Wissenschaft. Internationale Statistikkongresse und preußische Professorenbürokraten


Autor(en)
Horstmann, Jan-Philipp
Erschienen
Paderborn 2020: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
XII, 300 S.
Preis
€ 129,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Kröger, Philologisch-Historische Fakultät, Universität Augsburg

War die Statistik in der historischen Forschung lange Zeit vor allem in der Rolle einer Hilfswissenschaft präsent, so ist sie mittlerweile verstärkt zum Untersuchungsgegenstand geworden.1 Jenseits aller Unterschiede lässt sich dabei ein gemeinsamer Kern dieser in jüngerer Zeit erschienenen Studien identifizieren: Es geht nicht mehr darum, der Geschichtswissenschaft statistisches Wissen als Quelle zur Verfügung zu stellen, sondern Formen und Funktionen der Wissensproduktion zu beleuchten. Eine „Kulturgeschichte der Statistik“, so der Untertitel eines Sammelbandes, hinterfragt Kategorisierungen sowie Klassifizierungen und deckt auf, dass Statistiken die Wirklichkeit nicht unmittelbar abbildeten, sondern selbst an der Konstruktion ebendieser beteiligt waren.2

Die Dissertationsschrift Jan-Philipp Horstmanns schreibt sich explizit in eine Kulturgeschichte der Statistik ein. Horstmann untersucht die bislang wenig erforschte Internationalisierung statistischer Wissensproduktion vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen nationalen Ausdifferenzierung von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Im Fokus stehen die Wechselwirkungen zwischen der preußischen beziehungsweise deutschen Amtsstatistik und dem 1853 begründeten Internationalen Statistischen Kongress sowie dem rund 30 Jahre später entstandenen Internationalen Statistischen Institut. Die zentrale These lässt sich aus dem Titel ablesen: Die Statistik sei eine „halbamtliche Wissenschaft“. Halbamtlich, weil sie einerseits Staaten notwendiges Regierungswissen zur Verfügung stellt und damit einem politischen wie nationalen Impetus entsprang, andererseits folgte sie den wissenschaftlichen Idealen der Universalität und Objektivität.

Aus diesem der Statistik inhärenten Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Politik ergibt sich für Horstmann nicht nur die janusköpfige Rolle der untersuchten Akteure, vor allem jener preußischen Professorenbürokraten, sondern auch die Stoßrichtung der Untersuchung: „Im Verhältnis von statistischer Wissenschaft und politischer Verwaltung liegt der Schlüssel zum Verständnis einer Produktion von Wissen durch amtliche Statistiken.“ (S. 8) Horstmann analysiert das „Wechselspiel zwischen wissenschaftlichem und politischem Ideendiskurs“, indem die Auswirkungen internationaler Debatten auf die amtliche Statistik in Deutschland und Preußen sowie vice versa untersucht werden (S. 21). Die Quellengrundlage der Untersuchung bildet neben zeitgenössischen Veröffentlichungen der Wissenschaftler im Besonderen die archivalische Überlieferung der preußischen Statistik im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Die Arbeit ist ansprechend entlang der zentralen Forschungsfragen in drei Kapitel gegliedert. Das erste Kapitel fragt nach den Voraussetzungen der Internationalisierung der Statistik, das zweite untersucht diese anhand des internationalen Expertenaustausches und das dritte Kapitel spürt der Integration internationaler Standardisierungsaspirationen in der Amtsstatistik nach.

Für die im Verlauf des 19. Jahrhunderts einsetzende Internationalisierung der Statistik bietet Horstmann im ersten Kapitel eine Erklärung, die sich auf die „Entwicklung des statistischen Wissenschaftsbegriffs“ stützt und für dessen Veränderung er drei Ursachen ausmacht (S. 25). Erstens stelle die Ablösung der Universitätsstatistik Gottfried Achenwalls, einer qualitativen Methode, durch die sogenannte quantifizierende Tabellenstatistik eine Bedingung der Veramtlichung der Statistik dar. Zweitens folge der Beginn staatlicher Datenproduktion im ausgehenden 18. Jahrhundert zwar nationalen Eigenlogiken, sei jedoch dadurch zur Triebfeder der Internationalisierung geworden. Für diese sei, drittens, der vom belgischen Statistiker Adolphe Quetelet angestoßene Universalisierungsprozess und damit die „Definition einer gemeinsamen Forschungsagenda“ zentral (S. 75): Durch Quetelets Verbindung von politischer Arithmetik und Wahrscheinlichkeitsrechnung setzte sich ein quantitatives Verständnis der Statistik durch. Insgesamt zeichnet Horstmann somit den „Werdegang des statistischen Wissenschaftsbegriffs zwischen Akademisierung und Veramtlichung“ nach (S. 88).

Dieses Spannungsverhältnis zwischen akademischen beziehungsweise wissenschaftlichen Interessen einerseits und amtlichen, also nationalpolitischen, andererseits, sei, so das zweite Kapitel, durch den in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden internationalen Expertenaustausch verstärkt worden. So ließe sich zwar von einem „transnationalen Ideendiskurs“ eines Expertennetzwerks sprechen, dieser sei jedoch durch den „halbamtlichen Charakter des Austausches“ beeinflusst worden (S. 91): Nationale Interessen hätten den internationalen Austausch eingeschränkt, zugleich ermöglichte der halbamtliche Charakter erst dessen sich in nationalen Reformprozessen zeigende Wirkmächtigkeit. Vor diesem Hintergrund beleuchtet Horstmann den Internationalen Statistischen Kongress, das Internationale Statistische Institut sowie die Experten in ihrer Doppelrolle als Amtsstatistiker und Wissenschaftler selbst. Zwar scheiterte, so ein Ergebnis, der Internationale Statistische Kongress an jenem bereits erwähnten Spannungsverhältnis, doch war dieses zugleich produktiv: So lassen sich etwa „internationale Normierungsprozesse“ (S. 170) ausmachen, die von den halbamtlichen Experten getragen wurden und die zugleich die Ergebnisse des internationalen Austauschs im nationalstaatlichen Rahmen implementierten.

Inwiefern sich die transnationalen Standardisierungsbemühungen in nationalstaatlichen Reformen widerspiegelten, fragt das dritte Kapitel. Dabei werden die Begründung der Statistischen Zentralkommission in Preußen, die Reform der Gewerbeklassifikation, die Einführung von Erhebungsverfahren sowie des metrischen Systems und die Bilanzierung volkswirtschaftlicher Kennzahlen untersucht. Horstmann entwickelt eine komplexe Systematik: Er entlehnt ein vom Statistiker Manfred Ehling entwickeltes Phasenmodell der statistischen Integration der Europäischen Gemeinschaft, um seine Beispiele in vier hierarchisch geordnete und aufeinanderfolgende Phasen einzuteilen: gemeinsame Programmatik, einheitliche Bestimmung von Begriffen und Systematiken, Harmonisierung der Methodik und die Entwicklung international vergleichbarer Indizes. Diese Phasen werden wiederum mittels jeweils vier Forschungsfragen untersucht, die Horstmann einer Studie des Soziologen Daniel Béland entnimmt. Ideengeschichte und Reformprozesse könnten darüber verknüpft werden, da „zunächst Ideenprofile identifiziert und definiert werden, bevor deren Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse bewertet werden kann.“ (S. 175) Dieses elaborierte Theoriefundament ermöglicht Horstmann einerseits, seine Forschungsfrage zu beantworten: Etwa zeigt er, dass die Begründung der statistischen Zentralkommission in Preußen als „direkte Folge des Kongressdiskurses verstanden werden muss“ (S. 189), während im Hinblick auf die Einführung des Erhebungsverfahrens der sogenannten Selbstzählung von einer „partikularen ‚Verpreußung‘ der internationalen Statistik“ gesprochen werden könne (S. 239). Andererseits ist es aufgrund der Systematik dieses Kapitels nicht immer leicht, Horstmann zu folgen, und es stellt sich im Hinblick auf das Phasenmodell die Frage nach dessen argumentativem Mehrwert – wird dieser doch abschließend nicht reflektiert.

Mit einem Blick auf die theoretischen Annahmen wird eine Schwäche der ansonsten überzeugenden Studie sichtbar. So fehlt es an einer Auseinandersetzung und Problematisierung zentraler Konzepte. Deutlich wird dies etwa bei der Verwendung des häufig genutzten Begriffs des Diskurses. Spricht Horstmann einleitend davon, die internationalen Treffen der Statistiker einer „diskursanalytischen Aufarbeitung“ (S. 18) zu unterziehen, schreibt er im Kapitel von der „Analyse der Kongressdiskurse“ (S. 142) sowie an verschiedener Stelle von einem „Ideendiskurs“ (S. 91). Ist Diskurs hier schlicht ein anderer Begriff für Debatte? Oder geht es um eine Diskursanalyse? Ginge es dann nicht eher darum, Ordnungen des Wissens zu identifizieren, die jenen in dieser Studie untersuchten Debatten und Ideen vorausgingen und diese strukturierten? Dies führt zu einem weiteren Begriff, der in Horstmanns Studie allgegenwärtig ist, jedoch ebenfalls nicht reflektiert wird: Wissenschaft und das analytisch gewendete Begriffspaar Wissenschaft und Politik. So zieht sich eine theoretische Annahme durch den Text, wonach Wissenschaft und Politik getrennte Funktionsbereiche seien, die über die Statistik verflochten werden. Das ist an sich nicht problematisch, bedürfte jedoch einer theoretischen Ausarbeitung. Zumal die Begriffe zwischen analytischer und empirischer Verwendung bisweilen changieren: etwa dann, wenn Horstmann schreibt, dass sich „der Internationale Statistische Kongress explizit von politischen und weltanschaulichen Ideologien“ distanzierte (S. 133). Das politische Moment der Statistik, so ließe sich diese Passage deuten, bestünde damit gerade in der versuchten Trennung von Wissenschaft und Politik.

Insgesamt legt Jan-Philipp Horstmann jedoch eine ansprechend strukturierte und stringent argumentierte Untersuchung vor. Anstatt die Genese statistischer Kategorien vor allem anhand der Wissensproduktion selbst zu untersuchen, findet Horstmann eine andere Antwort, indem er auf institutionelle Arrangements und den sich herausbildenden Status der Statistik als halbamtliche Wissenschaft verweist – eine durchaus überzeugende Antwort.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Wolfgang Göderle, Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016; Michael C. Schneider, Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt am Main 2013.
2 Stefan Haas / Michael C. Schneider / Nicolas Bilo (Hrsg.), Die Zählung der Welt. Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert, Stuttgart 2019.

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