Titel
Nordlichter. Geschichtsbewusstsein und Geschichtsmythen nördlich der Elbe


Herausgeber
Lundt, Bea
Reihe
Beiträge zur Geschichtskultur 27
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
VI, 463 S., 27 s/w Abb.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Lenz, Forschungsgruppe „Vergleichende Tradierungsforschung“, Essen/Oslo

Gibt es so etwas wie eine „Erinnerung des Nordens“? Besitzt dieser „Norden“ ein spezifisches Repertoire an tradierten Vergangenheitsbezügen, auf denen ein regionaler Identitätsentwurf basiert? Ist der „Norden“ gar selbst ein Erinnerungsort? Der von Bea Lundt herausgegebene Sammelband will eine regionale Erinnerungslandschaft kartografieren – und trägt damit aktiv zu ihrer Erschaffung bei. Der Band soll ein kulturelles Gedächtnis der Region „nördlich der Elbe von Hamburg über Schleswig-Holstein bis hinein nach Dänemark“ (S. 14) dokumentieren. In Anlehnung an die „Deutschen Erinnerungsorte“ 1 geht es bei den „Nordlichtern“ um eine nationale Grenzen überschreitende Geschichtskultur. Theoretisch lehnt sich der Band ebenfalls an das Norasche Konzept der Erinnerungsorte an, wonach diese an geografische Gegebenheiten, Gebäude oder Denkmäler gebunden sein können ebenso wie an mythische Figuren oder Legenden. Nicht zuletzt können auch institutionalisierte Regelungen Erinnerungsorte sein, da sich in ihnen dauerhafte Wahrnehmungs- und Deutungsmuster manifestieren.

In seiner gesamten Anlage spielt der Band mit der doppelten Bedeutung des „Ortes“ als einerseits geografischer/materieller und andererseits mentaler/immaterieller Kategorie. Die geografische Bezugsgröße des Bandes ist der „Ochsenweg“, der im Mittelalter Handels-, Pilger- und Heeresweg war. Allerdings wird betont, dass „Region“ hier keineswegs rein geografisch zu verstehen sei, sondern als „mentale Ordnung und Konstruktion“, die ein aktuelles Identitätsbedürfnis stillt: „Region wird durch Regionalbewusstsein konstruiert.“ (S. 63) Dabei wird keinesfalls behauptet, dass dieses regionale Geschichtsbewusstsein, die Gebrauchsweisen der Geschichte und die damit verbundenen Identitäten homogen und eindeutig seien. Im Gegenteil: Es werden unterschiedliche Akteure der Geschichtskultur präsentiert, die von historischen Bezügen verschiedenen, zuweilen einander widersprechenden Gebrauch machen. 19 Beiträge umfasst das Buch, die in sprachlicher und auch inhaltlicher Qualität stark variieren und auf die im Folgenden jeweils kurz eingegangen wird.

Im ersten, mit „Erinnerungs-Orte“ überschriebenen Kapitel geht es um Orte im geografischen Sinn. Die Bedeutung und der Gebrauch von Natur und Umgebung als Erinnerungslandschaft wird in einem Beitrag von Bernd Zich am Beispiel von steinzeitlichen Megalithgräbern dargestellt, die im Laufe der Zeit von heiligen Stätten zu Steinbrüchen und wiederum zu Pilgerstätten regionaler Naherholung wurden. Thomas Hill beschreibt den bereits genannten Ochsenweg und seine „Wiederentdeckung“ und Kultivierung durch eine regionale Geschichtsinitiative. Weiterhin begegnet man dem „blanken Hans“, also der Nordsee, der die Menschen im Laufe der Zeit mehr oder weniger erfolgreich ihren Kulturraum abtrotzten und die dabei zu einem mentalen Gegenüber der lokalen Bevölkerung wurde (Manfred Jakubowski-Tiesen). Dieser Erinnerungsort taucht auch in anderen Beiträgen wieder auf. Leider werden diese Bezüge nicht in Verbindung gesetzt, um daraus analytischen Gewinn zu beziehen, was wohl eines der gängigen Probleme solcher Sammelbände ist.

Das nächste Kapitel widmet sich dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Dabei. Volker Scior stellt das Mittelalter als historische Phase vor, in der Geschichtsschreibung – wie heute – zur Herrschaftslegitimierung diente. Jan Rüdiger wiederum präsentiert gegenwärtige popularisierte Darstellungen und Gebrauchsweisen des Mittelalters. Hier wird das Mittelalter zur Folie moderner Bilderwelten, die von Wikinger oder Friesen handeln, während andere historische Bezüge ungenutzt bleiben. Susanne Rau beschreibt, wie Hamburgs Stadtchronisten in der Frühen Neuzeit eine wichtige Rolle im Ringen um den Status als freie Reichsstadt zukam. Marion Kobelt-Koch führt die Geschlechterperspektive in die Untersuchung der „Schlacht bei Hemmingstedt“ ein. Dieses „gendering“ erfolgt nicht allein dadurch, dass die Autorin den bekannten männlichen Heroen eine weibliche Heldin zur Seite stellt. Sie untersucht vielmehr die Umschreibungen von der „alten Jungfer“ zur „jungen Magd“, und fragt nach deren Funktion.

Das dritte Kapitel zur Neuzeit eröffnet Martin Rheinheimer, der nachzeichnet, wie der Amrumer Hark Olufs, der den Amrumern zu Lebzeiten fremd geworden und geblieben ist, schließlich zu einem prominenten Bezugspunkt lokalen Geschichtsbewusstseins wurde. Wolfgang Mommsen untersucht die Verfassung Schleswig-Holsteins als ambivalenten Erinnerungsort. Entgegen der Deutung, wonach die Verfassung eine zentrale Wegmarke in der demokratischen Landestradition darstellt, weist Mommsen nach, dass die regionale Demokratiebewegung im 19. Jahrhundert von nationalstaatlichen Interessen zerrieben bzw. diesen geopfert wurde. Jörg Hillmann beschreibt mit dem „Mythos“ um Karl Dönitz einen nationalen Erinnerungsort und dessen Funktion in der Konstruktion der Geschichte der „sauberen Kriegsführung“. Die Marine und das Maritime wurden zum Ausgangspunkt für eine entlastende nationale Gegennarration, der regionale Erinnerungsort wurde im Nationalen aufgehoben. Der Beitrag Jörn Eckerts ist von Gegenstand und Sprache für nicht juristisch vorgebildete LeserInnen recht sperrig. Eckert stellt am Beispiel eines aktuellen Rechtsstreits dar, dass auch regionale Rechtstraditionen Erinnerungsorte sein können, durch die aktuelle Rechtssprechung historische Tiefenschärfe gewinnen könne.

Kapitel vier behandelt „Nationale Gruppen und Religionen“. Im Beitrag von Thomas Steensen und Fiete Pingel geht es um die Friesen, die als Symbol der Unabhängigkeit und Freiheitsliebe gelten. Die Autoren untersuchen, wie sich ungleichzeitigen und unterschiedlichen „Friesen“-Kulturen Mythenbildung und friesisches „Volksbewusstsein“ wechselseitig geformt und überformt haben. Jørgen Kühl zeichnet in seinem Beitrag nach, in welcher Weise eine „virtuelle Kulturlandschaft“ der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein geschaffen und gepflegt wird. So spielt beispielsweise das „Dannewerk“, ein Verteidigungswall der Dänen aus dem 17. Jahrhundert die Rolle eines mythischen und begehbaren (musealen) Bezugspunktes für die Identitätskonstruktion dieser nationalen Minderheit. Zu Konstruktion eigener Identität gehören auch im „Norden“ die Anderen und auch hier erscheint dieses Andere in Form der antisemitischen Figur des „bösen Juden“. Arno Herzig zeichnet Entstehung und Wandel zweier Legenden nach und zeigt auf, dass sich antisemitische Vorstellungen mit der Durchsetzung des lutheranischen Protestantismus massiv verschärft haben. Der Beitrag von Rainer Hering behandelt die Verstrickung der „evangelisch-lutherischen Kirche nördlich der Elbe“ in die nationalsozialistische Herrschaft. Am Beispiel der NS-Karrieren zweier nordelbischer Landesbischöfe wird deutlich, wie weitgehend sich Kirchenleute sich ideologisch an die NS-Ideologie anschmiegen und in deren Dienst stellen konnten.

Das letzte Kapitel, „Arbeit am Mythos und moderne Orte der Memoria“, eröffnet ein Beitrag von Thomas Riis, der nach den Besonderheiten des Schleswig-Holsteinischen Geschichtsbewusstseins fragt. Einen Grund dafür sieht er in dem spezifischen historischen Verhältnis zu Dänemark. Landesspezifische Erinnerungsorte handeln zumeist von der Abgrenzung oder Ablösung von Dänemark, während es auch Anknüpfungspunkte für eine deutsch-dänische Narration gäbe. Inge Adriansen schließt an diesen Befund mit einem Blick auf die andere Seite der Grenze an. Sie untersucht, wie das deutsch-dänische Verhältnis in dänischen Denkmälern figuriert wird. Sie bringt die auf die Formel „Deutschland als Problem Dänemarks“ (S. 392). In seiner Darstellung der unterschiedlichen Bestimmungen, Deutungen und Nutzungen des Marine-Ehernmahl in Laboe berührt Dieter Hartwig einen ernüchternden Punkt in Bezug auf die Rezeption von Erinnerungsorten. Eingeweiht „im Geist des Revanchismus und Revisionismus der 1920er Jahre“ (S. 420), nach 1945 zum Mahnmahl des Friedens umgedeutet, wird das Ehrenmahl, so Hartwig aber auch von tausenden von Besuchern jährlich als schlichte Aussichtsplattform genutzt. Der letzte Beitrag des Bandes verweist auf die aktuelle Bedeutung historischer Bezüge. Michael Salewski behandelt „Konfrontationen und Kooperationen an der Ostsee“. Er betont, dass sich aus der Geschichte des Ostseeraums kein harmonisierendes Geschichtsnarrativ oder eine europäische Zukunftsvisionen ableiten ließen. Vergangenheit also nicht als mythischer Grund für Identitätsstiftung und politische Legitimation, sondern als dessen kritisches Gegenstück.

Damit rückt die Aktualität des Bandes in den Blick: Die Perspektivwahl korrespondiert mit Tendenzen und Bestrebungen zu einer „Europäisierung“ der Geschichtskultur (Stichwort: „Europa der Regionen“). Dies unterstreicht den konstruktivistischen Charakter dieser „Nordung“ des Geschichtsbewusstseins. Sie trägt zur Schaffung ihres Untersuchungsgegenstandes bei – und bestenfalls auch zu seiner kritischen Reflexion. Die formalen Schwächen des Bandes wurden bereits angedeutet – das deutliche qualitative Gefälle zwischen den Beiträgen, die kaum auf einander abgestimmt sind, vieles liest man mehrfach, vor allem wiederholen sich die theoretischen Einführungen, wo ein Verweis auf die Einleitung der Herausgeberin genügt hätte. Dennoch stellt der Band eine gewinnbringende Lektüre dar – nicht nur für „Nordlichter“.

Anmerkung:
1 François, Etienne; Schulze, Hagen (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte Bd. I.-III. München 2001.

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