G. Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt

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Titel
Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft


Autor(en)
Metzler, Gabriele
Erschienen
Paderborn 2005: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
478 S.
Preis
€ 67,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Weinhauer, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

In populären Rückblicken erscheinen die 1960er-Jahre vorrangig von ihrem Ende her bestimmt, dominiert durch jugendkulturelle Lebensstilrevolten und politische Proteste, kurz: durch „68“. Beim Blick auf das Spektakuläre sollte jedoch nicht vergessen werden, dass es auch weniger auffällige Entwicklungen gab. Dazu gehört die allmähliche Erosion der weit verbreiteten Gewissheit, gesellschaftliche Prozesse planen und steuern zu können. In den 1960er-Jahren entstanden Planungen für nahezu alles und jedes; mittels kybernetischer Modelle und „Information“ schien jedes Problem bis hin zur „Menschenführung“ bewältigbar. Was dies konkret für Konzepte politischen Handelns bedeutete, analysiert Gabriele Metzler in ihrer Tübinger Habilitationsschrift. Im Mittelpunkt steht die „Bedeutung von Wissen und Deutungsmustern für politisches Handeln“ (S. 21). In den von Metzler untersuchten „langen“ 1960er-Jahren (1955/57 bis 1972/74) galten gesellschaftliche Integration und soziale Sicherheit als wichtige Orientierungspunkte für politisches Agieren. Darüber hinaus ging es aber auch um politische Partizipation in einer pluralistischen Gesellschaft: Wie war eine sich zunehmend ausdifferenzierende Gesellschaft zusammenzuhalten, und wie waren Risiken der Industriegesellschaft abzumildern? Wie konnte staatliches Handeln Demokratisierung und Partizipation zusammenführen?

Untergliedert in vier Großkapitel bietet die Studie Politikgeschichte als Strukturgeschichte. Kapitel A nimmt die „Neuvermessung des politischen Raums“ seit Ende der 1950er-Jahre in den Blick. Dabei spielt die Frage nach Deutungen gesellschaftlicher sowie wissenschaftlich-technischer Entwicklungen eine wichtige Rolle. Metzler verwendet die Begriffe „politische Räume“ und „Diskursräume“ als Metaphern, um zu verdeutlichen, welche Möglichkeiten politischen Handelns denkbar waren (S. 21). In diesem Kapitel kann sie zeigen, dass in den späten 1950er-Jahren eine wachsende „Zukunftsgewissheit“ in der bundesdeutschen Gesellschaft entstand. Nun ließ sich politische Macht dadurch gewinnen, so Metzler, dass „man von der Zukunft sprach, sich der Zukunft als bewältigbarer Herausforderung stellte“ (S. 33).

Unter der Überschrift „Wissen, Politik und Wissenspolitik: Die Verwissenschaftlichung der Politik“ wird im zweiten Hauptkapitel geschildert, wie Wissen zunehmend als Grundlage für politisches Handeln herangezogen wurde – unter anderem durch den Ausbau der Bundesstatistik und durch die Entwicklung der Politikberatung. Es geht aber auch um den wachsenden Stellenwert von Entideologisierung und Rationalität. Dass Rationalität als „politische Leitvokabel“ (S. 151, siehe auch S. 208f.) immer wichtiger wurde, ging wiederum mit einem Aufschwung von Planungskonzepten und Konvergenztheorien einher. Immer mehr wissenschaftliche Experten meldeten sich im politischen Prozess zu Wort und fanden auch Gehör. Zudem verlor der Kalte Krieg an politischer Prägekraft und Bedrohungspotenzial; das „Ende der Ideologie“ schien nahe.

Abschnitt C („Der Weg zum Regimewechsel“) widmet sich den miteinander verbundenen Debatten um Modernisierung und Demokratisierung sowie um deren Umsetzung in Finanzpolitik und Verwaltung. In diesem Kapitel entfaltet Metzler ihre These, dass der Amtsantritt der sozialliberalen Koalition nicht nur einen Regierungswechsel mit sich brachte, sondern ein tieferer Einschnitt war: ein Regimewechsel. Die überzeugenden Ausführungen zum Wandel des Staatsverständnisses zeigen, wie der moderne Sozialstaat mit dem planenden Staat gleichgesetzt wurde, dem es nicht um Statik und Stabilisierung ging, sondern um die Steuerung gesellschaftlichen Wandels. Im letzten Großkapitel („Modernisierung als Programm. Politische Planung, innere Reformen und institutioneller Wandel nach 1969“) stehen die letztlich gescheiterten inneren Reformen im Mittelpunkt. Mit welchem Anspruch wurde praktische wissenschaftliche Politik betrieben, welche „modernen“ Leitbilder prägten die Verwaltung? In welchem Verhältnis standen politische Planung und demokratische Praxis?

Wie Metzler betont, orientierte sich eine Politik, die als modern galt, an folgenden Kriterien: Sie war rational, wissenschaftlich orientiert (und damit im zeitgenössischen Sinne ideologiefrei), war nicht punktuell und kurzfristig, sondern möglichst umfassend an der industriegesellschaftlichen Dynamik und damit an der Zukunft ausgerichtet. All dies sollte in die politischen Planungen einfließen. Zwar war Planung an sich kein neuartiges Phänomen. In der Bundesrepublik war sie jedoch nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst bewusst kein Bestandteil politischer Entscheidungen gewesen – nicht zuletzt aus Abgrenzung von der nationalsozialistischen, aber auch von DDR-Planwirtschaft. Erst als sich die planerische Gestaltung von Politik neue Bezugspunkte erarbeitet hatte, fand sie mehr Gehör. Vor allem die Deutung von Gesellschaft nicht mehr als Massen-, sondern als Industriegesellschaft war in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Dem nahezu grenzenlosen Fortschrittsoptimismus folgend, galt als gesichert, dass technische Innovationen permanentes Wirtschaftswachstum und steigenden Wohlstand sichern würden. Gleichzeitig wurden immer mehr Ansprüche und Erwartungen an den Staat herangetragen. Seit Ende der 1960er-Jahre galt staatliche Intervention zudem „geradezu als Voraussetzung dafür, dass individuelle Freiheitsrechte wahrgenommen werden konnten“ (S. 17).

Das von Metzler umrissene dreidimensionale Koordinatensystem staatlichen Handelns aus sozialer Sicherheit, gesellschaftlicher Integration und politischer Partizipation barg jedoch vielfältige Probleme. Um diese zu lösen, musste sich Politik verwissenschaftlichen, d.h. basierend auf vielfältigen Informationen rationale Entscheidungen treffen; so entstanden zahlreiche beratende Expertengremien. Hier kam es speziell unter den um 1929 Geborenen zu Diskurskoalitionen, zu Bündnissen zwischen wissenschaftlichen und politischen Akteuren, zusammengehalten von gemeinsamen Vorstellungen über Rationalität, Modernität und Demokratie. Für viele dieser Akteure signalisierten sowohl die APO als auch die erstarkende NPD einen zu bekämpfenden Rückfall in ideologisches Denken.

Im Untersuchungszeitraum wurde der Staat zu einem Teil der Gesellschaft und stand nicht mehr über ihr. Dieser Wandel des Staatsverständnisses, so Metzler zu Recht, war „sicherlich eine der historisch bedeutsamsten Entwicklungen“ dieser Jahre (S. 13). Staatliches Handeln orientierte sich nun am „government by discussion“. Der so umrissene moderne Staat hatte nicht erst mit der Regierung Brandt, sondern bereits unter der Großen Koalition erste Konturen gewonnen. Das veränderte Politik- und Staatsverständnis hatte auch über die sozialliberale Ära hinaus Bestand.

Die Regierung Brandt, die sich Modernisierung und Demokratisierung auf ihre Fahnen geschrieben hatte, scheiterte mit den inneren Reformen. Wirtschaftliche Entwicklungen (Ölpreiskrise/Stagflation) nagten an der materiellen Basis der Reformen. Zudem entstanden innenpolitische und institutionelle Blockaden sowie angesichts der Komplexität der zu bewältigenden Aufgaben massive Umsetzungsprobleme. Grundsätzlich hatte der Staat der 1970er-Jahre Rückhalt bei den Bürgern verloren. Die eingangs angesprochene Planungseuphorie war längst verflogen, und die Fortschrittsgewissheit wich der skeptischen Annahme, dass gesellschaftspolitische Probleme nicht mittels zentraler Steuerung, sondern durch Selbstbestimmung und basisdemokratische Prozesse zu bewältigen seien. Die „Unregierbarkeitsdebatte“ der 1970er-Jahre spiegelte viele dieser Elemente. Spätestens seit den frühen 1970er-Jahren wurde deutlich: Probleme und Erwartungen waren dem Staat über den Kopf gewachsen.

Die Studie ist souverän geschrieben, argumentiert überzeugend sowie auf der Höhe des Forschungsstands und ist trotz der trockenen Thematik sehr gut lesbar. Sie lädt zu weiteren Fragen ein: So wäre es für zukünftige Forschungen aufschlussreich, den Einstellungs- und Politikwandel konkret nachzuzeichnen – zum Beispiel mit Blick auf Planungen und Praxis der kommunalen Gebietsreformen der 1970er-Jahre. Zudem wäre im Sinne einer „Mikrophysik der Macht“ eine genaue Analyse der Aushandlungsprozesse zwischen wissenschaftlichen und politischen Akteuren ebenso wichtig wie der Blick auf Reibungspunkte und Konflikte bei der Umsetzung von politisch-wissenschaftlichen Planungen. Die Verschränkung von politischen und gesellschaftlichen Wandlungen könnte so genauere Konturen erhalten.

Grundsätzlich könnte die Analyse der Unmöglichkeit gesamtgesellschaftlicher Planung einen Ausgangspunkt für systemübergreifende Studien bilden. So scheiterten auch in der DDR und anderen realsozialistischen Staaten die Regierungen an dem Problem, dass sich Gesellschaft über noch so umfangreiche und komplexe Datensammlungen nicht steuern ließ. Darüber hinaus bliebe sozial- und kulturgeschichtlich zu untersuchen, warum die Gesellschaft plötzlich als etwas erschien, das es zu integrieren galt, weil es anscheinend nicht mehr selbst stabilisierend war, auseinanderdriftete und Unsicherheiten hervorbrachte. In weiteren Studien wäre schließlich zu klären, in welchem Verhältnis die seit Mitte der 1960er-Jahre zunehmenden gesellschaftlichen und staatlichen Unsicherheitsdiskurse (u.a. mit Blick auf eine wie auch immer zu definierende Kriminalität) zur Entdeckung der (Industrie-)Gesellschaft standen. Hatten die Ernüchterung gegenüber Planungsmöglichkeiten und die Erosion des Fortschrittsglaubens vielleicht die Gewissheit geweckt, in einer Risikogesellschaft zu leben?

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