Cover
Titel
The Politics of the Urban Poor in Early Twentieth-Century India.


Autor(en)
Gooptu, Nandini
Reihe
Cambridge Studies in Indian History & Society 8
Erschienen
Anzahl Seiten
489 S.
Preis
£26.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Melitta Waligora, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die anzuzeigende Arbeit ist in zwei Teile und 10 Kapitel gegliedert, wobei die jeweiligen Überschriften den Inhalt kaum preisgeben. Das erste Kapitel ist als Einführung in das Thema konzipiert und skizziert prägnant sowohl den zeitlichen und räumlichen Schwerpunkt der Studie als auch die begrifflichen und methodischen Ausgangspunkte. Nandini Gooptu konzentriert sich auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und auf den Raum des nördlichen Indien, genauer auf die vier größeren Städte Kanpur, Allahabad, Lucknow und Benares in Uttar Pradesh. Die Städte erlebten in dieser Zeit einen dramatischen Zuwachs durch Migration aus dem ländlichen Raum, wodurch vor allem die Masse der so genannten „urban poor“ ernorm anschwoll. Den Begriff „urban poor“ wählt sie, um neben den trotz steigender Tendenz doch zahlenmäßig wenigen Fabrikarbeitern mit geregelter Lohnarbeit die große Menge derjenigen zu erfassen, die in den ausufernden Städten eine Existenz als Arbeiter auf den Märkten (bazar), in kleinen Manufakturen, beim Bau und im Transport, in den verschiedenen Servicebereichen wie Stadtreinigung suchten oder sich als Handwerker und Kleinhändler aller Art niederließen. Regelmäßige Arbeitsmöglichkeit und Einkommen waren hier eher selten und die Lebensbedingungen durch Armut, schlechte Wohnverhältnisse und fehlende Fürsorge seitens der Stadtverwaltungen gekennzeichnet. Die „urban poor“ erfuhren in ihrem neuen Lebensraum seitens der Verwaltungen und der höheren Schichten Verachtung und Dominanz und wurden von verschiedenen politischen Kräften zu Objekten entweder von Kontrolle und Repression oder von Reformen, wobei der gleich bleibende Kern beider Ansätze die Disziplinierung dieser Schichten ist. Anliegen von Gooptu ist es nun, die „urban poor“ trotz dieser schlechten Ausgangslage in ihrer Rolle als politische Akteure zu zeigen, die in dem neu entstandenen öffentlichen Raum der Stadt um die Formulierung und Durchsetzung ihrer Interessen kämpften. Sie stellt ihre Arbeit in ein kritisches Verhältnis zur Schule der Subaltern Studies, denn sie möchte einige Aspekte dieses Ansatzes genauer fassen, so etwa die Formen des Widerstandes der „urban poor“ herausarbeiten und die Bedeutung von Religion hinterfragen. Die Zeit zwischen 1920 und 1941 ist eine der wachsenden politischen Unruhen, in der nationale Agitation und kommunaler Aufruhr eskalieren und Arbeitskämpfe zunehmen. Die „urban poor“ haben darin ihren eigenen Platz, ihre eigenen Gegner und nicht zuletzt ihre eigenen Methoden und Ideologien.

Teil I widmet sich dem spezifischen Kontext der Städte als Aktionsrahmen für politisches Handeln. Kernpunkte der Darstellung sind die Entstehung einer expandierenden „bazar industrialisation“, die vor allem durch Händler und Geldverleiher getragen und im kleinen Rahmen wechselnde Produkte herstellte. Gebraucht wurde gering bezahlte ungelernte und Gelegenheitsarbeit, die ausreichend zur Verfügung stand. Für die „urban poor“ bedeutete dies unsichere Beschäftigung und Einkommen, Verschuldung und obwohl eher permanent in der Stadt angesiedelt doch eine geringe Verwurzelung im hart umkämpften Arbeitsmarkt. Daraus erwachsendes Konfliktpotential wurde durch die Politik der Stadtverwaltungen verschärft, die in der Menge der „urban poor“ eine Gefahr für die Dominanz, Gesundheit und Moral der Mittelschicht sah. „Improvement Trusts“, gedacht zur Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse in der Stadt, erwiesen sich in den Händen der Mittelschicht als Instrument zur weiteren Marginalisierung der „urban poor“, insbesondere durch ihre Vertreibung aus zweifellos schlechten Wohnverhältnissen ohne Schaffung eines adäquaten Ersatzes. Der ökonomische Druck erhöhte sich u.a. durch die Finanzpolitik der Stadtverwaltungen, die nun verstärkt Steuern von den Armen erhoben, allerlei Regelungen und Gebühren erfanden und diese mit Strafgeldern eintrieben. Zunehmend wurde die Polizei, die dem Kolonialstaat unterstellt war, für Disziplinierungs- und Zwangsmaßnahmen gegen die als kriminell und gewaltbereit eingeschätzten „urban poor“ sowohl vom Staat als auch von den einheimischen Eliten eingesetzt. Dies alles ist mit der Detailfreude einer Historikerin aufgeschrieben und liefert wichtige Hintergrundinformationen für das Verständnis des zweiten Teiles.

Teil II untersucht die spezifischen politischen Vorstellungen und Handlungsweisen der „urban poor“. Gooptu teilt sie in Unberührbare und „Hindu and Muslim poor“ und zeigt, dass die drei Gruppen ganz spezifisch gefärbte Aneignungen religiöser und politischer Ideen aufwiesen, wodurch sich einerseits diese Gruppen untereinander unterschieden und in Konflikt brachten, trotz bemerkenswerter Gemeinsamkeiten der sozialen Situation, und andererseits mit den Mittelschichten und Eliten ihrer eigenen „religious community“ in den politischen Kampf traten. Die Religion erwies sich als ein Mittel der Selbstverteidigung wie Selbstbehauptung und wurde dabei kräftig umgestaltet. Die Bedeutung der Religion im Nationalismus war eben nicht, so eine These Gooptus, eine Folge eines angeblich besonderen Traditionsbewusstseins der Inder, sondern ein Resultat einer „history of religiuos change“ (S. 356). Eine weitere These lautet, dass die gemeinsame Teilnahme unterschiedlicher sozialer Schichten an religiösen Ritualen und Festen keineswegs soziale Distanz oder Klassenschranken auslöschte und die Integration in eine „religious community“ beförderte. Im Gegenteil, Gooptu will zeigen, dass in dem untersuchten Zeitraum religiöse Rituale zu Orten des Machtkampfes verschiedener sozialer Schichten einer Glaubensgemeinschaft wurden, in denen jeder der Beteiligten nach Dominanz der eigenen Interpretation, Praxis und Identität strebte.

Für die Gruppe der Unberührbaren bedeutete das Stadtleben nicht automatisch das Ende ihrer diskriminierenden Sonderstellung hinsichtlich Erwerbs- und Wohnmöglichkeiten. Ihr Selbstverständnis und ihre politischen Interessen suchten sie einerseits mit Hilfe einer heterodoxen Version der bhakti-Tradition auszudrücken, die eine Botschaft der sozialen Gleichheit und Ablehnung ritueller Hierarchie enthält. In der Adi Hindu Bewegung andererseits präsentierten sie sich als ursprüngliche Bewohner Indiens und leiten daraus ihren Anspruch auf einen Anteil an der politischen Macht ab.

Die „Hindu and Muslim poor“ behandelt Gooptu in zwei umfangreichen Kapiteln. Trotz unterschiedlicher Traditionen, Kontexte und religiöser Vorstellungen verbindet beide Gruppen ein gleiches Kernverhalten in der Formulierung und Durchsetzung ihrer Interessen. Sie kehrten den kriegerischen Geist ihrer jeweiligen Religion hervor und etablierten sich als militante Verteidiger derselben. Religiöse Feste – Ramlila, Holi, Mohurram u.a. – wurden jetzt im großen Stil und unter Teilnahme der „urban poor“ gefeiert, die sich im kriegerischen Outfit präsentierten. In speziellen Schulen (akharas) übten sich die Männer im Ringen und Kämpfen mit Schwert, Keule und Stock, bildeten Freiwilligenkorps und schoben Nachtwachen in ihrer Nachbarschaft. Sie suchten nach Helden in der mythischen wie in der realen Welt und schafften sich eine Volkskultur mit heroischen Liedern und Theaterstücken. Unterstützt wurde dieses Gemisch aus Maskulinität, Muskelprotzerei, Machismo und Militanz durch ein Übergewicht der männlichen Bevölkerung unter den „urban poor“. Die jeweiligen Eliten sahen diese Entwicklung der Militanz mit gemischten Gefühlen. Einerseits half sie bei der Mobilisierung der Massen zur nationalen Erneuerung und im Widerstand gegen die Kolonialmacht. Doch die sehr eigene Interpretation von Hinduismus und Islam griff die Wertvorstellungen der Eliten an, z.B. das Konzept der Gewaltlosigkeit, und setzte auf autonomes Handeln, womit sie sich der Kontrolle entzog. Die „urban poor“, dies zeigt Gooptu in diesen und den nachfolgenden Kapiteln über die nationale Bewegung und die Arbeit der Congress Socialist Party, hatten ein recht pragmatisches Verständnis von religiöser Identität und „sense of community“ – das Eine bedingt keineswegs das Andere. Sie waren nicht bereit, weder den Führern der Muslim League noch des Congress’, und seien es die Sozialisten, zu folgen, wenn sie das Gefühl hatten, nur mobilisierte Masse zu sein. Ihre Militanz richtete sich wenn nötig gegen diese Führer wie gegen Stadtverwaltungen, Kolonialstaat und dessen Polizei, Fabrikbesitzer, Händler und Nachbarn anderer Religiosität in der Auseinandersetzung um die knappen Plätze auf dem Arbeitsmarkt, um Lebensräume in der Stadt, um Artikulation ihrer Kultur und Lebensweise und um politische Einflussnahme.

Nandini Gooptus Studie ist ein wertvoller Beitrag zum Verständnis der politischen Kultur des kolonialen Indien und deren grundlegender Veränderungen in den 1920er und 1930er-Jahren. Indem sie von der Perspektive der „urban poor“ aus politische Geschichte schreibt, ermöglicht sie einen differenzierten kritischen Blick auf die politische Elite der Zeit, auf die Ideologie der nationalen Befreiungsbewegung und die komplexe Entstehung des Kommunalismus. Dies gelingt ihr auch durch Rückgriff auf den Klassenbegriff als Instrumentarium der politischen Analyse. Verwunderlich ist die nur beiläufige Erwähnung der Communist Party of India. Manchmal wünschte man sich die Darstellung beispielhafter und unterstützt durch Kartenmaterial zu den ausgewählten Städten. Die Frauen der „urban poor“ bleiben gänzlich unterbelichtet, obschon es die Zeit war, in der die bürgerlichen Frauen an den verschiedenen nationalen Bewegungen aktiv teilnahmen. Dies sind kleine Mängel im Vergleich zu dem Gewinn an Erkenntnissen, die unerlässlich sind auch für das Verständnis der Regierungspolitik nach der Unabhängigkeit – als Klassenpolitik mit kommunalistischer Prägung, mit der u.a. die Weichen für die gegenwärtige hindunationalistischen Bewegungen gestellt wurden.

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