H.-H. Nolte (Hg.): Auseinandersetzungen mit den Diktaturen

Titel
Auseinandersetzungen mit den Diktaturen. Russische und deutsche Erfahrungen


Herausgeber
Nolte, Hans-Heinrich
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Kamissek, Berlin

Auch im Ausland hat die spezifisch deutsche Variante einer doppelten „Aufarbeitung der Vergangenheit“ nach 1945 und 1989/90 Interesse an der Möglichkeit der Übertragung einer derartigen Geschichts- und Erinnerungskultur auf andere Kontexte geweckt. Der „zentralen Frage“, wie besonders Deutschland und Russland, „die beiden hauptsächlichen historischen Akteure […], in denen die beiden Diktaturen [Stalinismus u. Nationalsozialismus] hervorgebracht oder zumindest geduldet wurden, heute mit dem Gedächtnis an sie umgehen“ (Hans-Heinrich Nolte, S. 191) hat das Institut für Allgemeine Geschichte der Russländischen Akademie der Wissenschaften (RAdW), der Verein für die Geschichte des Weltsystems (VGWS) und die Friedrich-Ebert-Stiftung Moskau Ende September 2004 eine Tagung gewidmet, deren Erträge nun Hans-Heinrich Nolte (Hannover) in Form des vorliegenden Sammelbandes herausgegeben hat.

Die damit geweckte Erwartung, es würde hier eine vergleichend angelegte Perspektive eingenommen, wird leider nicht erfüllt. Einzig Bernd Bonwetsch (DHI Moskau) nimmt sich in seinem Aufsatz „Zweimal totalitäre Vergangenheit in Deutschland. 1945 und 1990“ in einer diachronen Perspektive der doppelten deutschen Vergangenheitsbewältigung an und skizziert grob die gescheiterte Entnazifizierung, die schleppende juristische Aufarbeitung des NS-Unrechts nach 1945 sowie die verspäteten finanziellen Entschädigungsversuche für Zwangsarbeiter. Kürzer fällt seine Bilanz der „’Bewältigung’ der DDR-Vergangenheit“ (S. 21) aus. Ob die politisch Verantwortlichen eventuell ihre eigene Sozialisation in der Nachkriegszeit auf die Verhältnisse nach 1990 übertragen und damit die Verfahren nach oder entgegen einem bestimmten historischen Vorbild gestaltet haben, bleibt offen. Diese Frage stellt sich aber spätestens bei der durchweg positiven Bewertung der „geistige[n] Auseinandersetzung mit dem DDR-Regime“, die nach Bonwetsch „wesentlich systematischer und gründlicher vorgenommen“ worden sei, als diejenige mit dem Nationalsozialismus nach 1945 (S. 25). Hier und auch an anderen Stellen wäre eine systematische Reflexion der unterschiedlichen Kontextbedingungen der jeweiligen „Vergangenheitsbewältigung“ notwendig gewesen, die sich nicht einfach durch salvatorische Klauseln ersetzen lässt.

Pavel Polian (RAdW/Freiburg) unternimmt eine Zusammenschau der sowjetischen bzw. russischen Gedenk- und Archivpolitik vor und nach Gorbatschow. Er zeichnet die ideologischen Konjunkturen und nur quälend langsam errungenen Zugeständnissen nach, die nun unter Putin sukzessive wieder rückgängig gemacht werden. Dem folgt Alexander Boroznjak (Lipeck), in dessen kurzem Beitrag „Bewältigung der Vergangenheit: deutsche Erfahrungen aus der Sicht eines russischen Historikers“ die zentrale Frage „Braucht Russland die deutsche Erfahrung der Vergangenheits-bewältigung [sic]? Kann man sie den russischen Bedingungen, die sich so krass von den deutschen unterscheiden, anpassen?“ (S. 48) zwar gestellt, aber nicht weiter systematisch verfolgt wird. In gewisser Weise nimmt Marianna Kortschagina (RAdW) diesen Faden wieder auf, indem sie in „Die russische Diskussion über Totalitarismus“ die Rezeption des „klassischen“ Totalitarismusmodells von Carl Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski durch russische Historikerinnen und Historiker rekonstruiert. Welche Schlussfolgerungen aus dieser Zusammenschau verschiedener Forschungsrichtungen gezogen werden sollen, bleibt leider unklar, so wie insgesamt zahlreiche Beiträge des Bandes eher als Literaturüberblick angelegt sind und eine klare Bewertung und Stellungnahme vermissen lassen. Dies gilt ebenso für die kurzen Ausführungen von Vadim Damiers (RAdW) über die „Frühe linke Kritik des Totalitarismus“.

Enttäuschend fällt auch der Abschnitt „Unterricht und Schulbücher“ aus. Wolfgang Jacobmeyers (Münster) Analyse der „[…] Darstellung von Diktaturen des 20. Jahrhunderts in deutschen Schulbüchern für das Fach Geschichte“ schließt mit dem recht dünnen Fazit: „Je niedriger Schulform und Schulaltersstufe sind, desto schütterer ist die Präsenz der historischen Erscheinungsformen von Diktatur. […] Je höher die Schulform und das Schulalter sind, desto umfangreicher und desto qualitätsvoller ist das Lehrangebot“ (S. 81). Auf russischer Seite konstatiert Galina Klokowa (Russländische Akademie für Pädagogische Wissenschaften) zwar eine Flut von entideologisierten und didaktisch aufbereiteten Lernmaterialien in Russland nach 1990, bemängelt aber das Fehlen einer systematischen Analyse der Ursachen der jeweiligen historischen Phänomene (S. 110), eine Kritik, die angesichts der Vielfalt und offenbar weitgehenden Qualität der zuvor besprochenen Publikationen übertrieben hart erscheint.

Arkadij Tsfasmans (Tscheljabinsk/Rostock) „Forschungen über Stalins Eingriffe in Schulbücher für das Fach Geschichte“ enthalten wenig Überraschendes, außer der lediglich angedeuteten Möglichkeit, dass die seit 1934 von Stalin initiierte umfassende ideologische Kontrolle der Lehrertätigkeit auf nationalsozialistischen Vorbildern beruhen könnte (S. 113). Der letzte Beitrag von Viktor Artemov (Woronesch) „Das Erbe des Totalitarismus und das Geschichts-Studium in Russland (Überlegungen eines alten Historikers)“ reflektiert dann lediglich kurz eigene Lehrerfahrungen des Autors im post-sowjetischen Russland, verbunden mit Stellungnahmen zum tagespolitischen Geschehen und dem Bekenntnis zur Ablehnung von „Totalitarismus und Faschismus“ (S. 117), das nur deutlich macht, wie wenig hier insgesamt zwischen der wissenschaftlichen und der politischen Funktion der entsprechenden Begriffe unterschieden wird.

Leider hinterlassen auch die beiden abschließenden Teile des Bandes „Forschungsansätze“ und „Historiographie“ einen zwiespältigen Eindruck. Leidlich positiv sticht zunächst der Beitrag von Jurij Schabajew (Komi), Alexander Sadochin (Moskau) und Viktor Jatschmenew (Komi) „Der GULAG als Instrument zur Bildung einer Regionalgemeinschaft“ hervor. Die Autoren zeichnen den tiefgreifenden Einfluss des hier ab 1929/30 errichteten GULAG-Systems auf die soziale Zusammensetzung der Republik Komi nach. Letztlich führte dieser zu einer Minorisierung der indigenen Komi-Bevölkerung und zugleich zu interethnischen Konflikten, die bis in die Gegenwart nachwirken. Daneben geben Wolfram Wette (Freiburg) mit „Hitlers Wehrmacht. Etappen der Auseinandersetzung mit einer deutschen Legende“ und Jens Binner (Hannover) in „Die deutsche Historiographie und die Darstellung des Zwangsarbeitereinsatzes im Nationalsozialismus“ anregende Übersichten zur jüngsten historiografischen Behandlung der beiden Themen.

Hans-Heinrich Noltes „Partisanenkrieg ohne Partisanen. Ein Konstrukt“ hinterlässt dann aber wieder einen schalen Beigeschmack, verbindet er doch seine – nicht gänzlich neue – These, die deutsche Besatzungsherrschaft während des Zweiten Weltkriegs sei insbesondere in Weißrussland eine Initialzündung zur Austragung bereits lange schwelender politischer und ethnischer Konflikte gewesen (S. 175f.), mit einer zumindest irreführenden Kritik an Ergebnissen der jüngsten Debatte um die Rolle der Wehrmacht in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Denn die vorgebliche „Entlarvung“ der These vom „Partisanenkrieg ohne Partisanen“ als „Konstrukt“ sowohl der sowjetischen als auch der jüngeren deutschen Historiografie könnte – wenn auch gegen Noltes Intention – als partielle Rechtfertigung der Gewaltanwendung gegenüber der sowjetischen Zivilbevölkerung aus „realen“ Bedrohungen gelesen werden. Trotz des Verweises auf noch ausstehende weitere Forschungen hätte man sich hier mehr differenzierende Ausführungen gewünscht.

Andere weiterführende Perspektiven eröffnet lediglich noch Klaus-Dieter Müller (Stiftung Sächsische Gedenkstätten) mit seinem Ausblick auf systematisch vergleichende Forschungen zur Kriegsgefangenschaft deutscher und sowjetischer Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg, die durch die jüngste Erfassung, Digitalisierung und Auswertung von Karteikartenbeständen der Wehrmacht möglich geworden sind. Daneben stellt Wigbert Benz (Bildungszentrum Seefälle/Filderstadt) mit Paul Karl Schmidt, Ribbentrops Pressechef von 1940-45, ein weniger bekanntes Beispiel einer „Reintegration“ ehemaliger NS-Funktionäre dar. Ermöglicht wurde diese mit dem publizistischen Forum, das Schmidt – später unter dem Psyeudonym Paul Carell – für die Verbreitung revisionistischer Thesen, wie etwa vom Präventivkrieg Hitlers gegen die Sowjetunion, auch in renommierten westdeutschen Medien geboten wurde.

Derartige Erkenntnisse werden von den verbleibenden Autoren/innen dann nicht mehr angestrebt. Nina E. Waschkau (Wolgograd) gibt in ihrem Beitrag „Russland-Deutsche. Eine Ethnie von den 40er bis zu den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts“ einen gänzlich unkommentierten Überblick über die jüngsten russischen Publikationen zur stalinistischen Repressionspolitik gegenüber der deutschen Minderheit, der die Qualität der angeführten Titel völlig im Dunkeln lässt. Ebenso bescheiden ist der Ertrag der Aufsätze von Lidija Kornewa „Die Diskussion über den Nationalsozialismus in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte 1993-2003“ und Jurij Galaktionow (Kemerowo) zur „[…] Diskussion über die NS-Diktatur in der jüngeren russischen Historiographie“. Beide nehmen eine vorrangig quantitative Auswertung der jüngeren Forschung zum Nationalsozialismus in Deutschland und Russland vor. Die Frage, ob und in welcher Form auch inhaltliche Impulse, etwa von der deutschen auf die russische Forschung bzw. andersherum oder von der zuletzt methodisch höchst innovativen Stalinismusforschung auf die NS-Forschung ausgegangen sind oder ausgehen sollten, bleibt gänzlich außen vor. Im Gegenteil, Galaktionow scheint ironischerweise besonders die nationalen Forschungskulturen stärken zu wollen, wenn er es als Defizit beklagt, dass noch nicht zu allen Facetten der NS-Diktatur eigene Beiträge russischer Wissenschaftler/innen vorliegen (S. 161).

Nach der Lektüre des Bandes stellt sich Enttäuschung darüber ein, dass ein derart wichtiges Projekt wie die Stärkung der russisch-deutschen Wissenschaftskooperation hier mit so wenig Sorgfalt und Enthusiasmus betrieben worden ist. Rechtfertigen lassen sich derartige Bemühungen nur, wenn sie zu einem echten Dialog und zu weiterführenden Erkenntnissen beitragen, die sich dann in den begleitenden Publikationen niederschlagen. Neben deutlichen inhaltlichen Defiziten haben es Herausgeber und Redakteure leider auch versäumt, dem Band eine ansprechende äußere Form zu geben. In allen Beiträgen finden sich zahlreiche orthografische Fehler, Wort- und Silbenauslassungen, falsch geschriebene Eigennamen usw. Die russischen Texte wurden zumindest ungelenk, stellenweise offenbar auch falsch oder sinnentstellend ins Deutsche übersetzt, womit die Lektüre in hohem Maße unattraktiv wird. Diese Nachlässigkeit ist dem Gesamtprojekt und den Bemühungen der einzelnen Autoren/innen unangemessen, sie entspricht aber leider auch dem inhaltlichen Gehalt des Bandes.

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