Titel
Die Contraden von Siena. Lokale Traditionen und globaler Wandel


Autor(en)
Warner, Anna-Kathrin
Reihe
Transkulturelle Studien 1
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Campus Verlag
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Annemarie Gronover, Institut für Ethnologie, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Die Ethnologin Anna-Kathrin Warner untersucht in ihrer Dissertation „Die Contraden von Siena. Lokale Traditionen und globaler Wandel“ die sienesischen Stadtteilgemeinden und den Palio, das Pferderennen. Der Palio findet jährlich am 2. Juli und 16. August im historischen Stadtzentrum, der berühmten Piazza del Campo, statt. Das Rennen ist einerseits gelebte Alltagspraxis der Sieneser, andererseits wegen seiner weltweiten Bekanntheit eine beliebte und von den Medien verfolgte Touristenattraktion. Dementsprechend analysiert Warner die Contraden und den Palio im Spannungsfeld von lokaler Traditionsbildung und Globalisierungsprozessen und leistet mit ihrer Studie einen fachkundigen und materialreichen Beitrag für die Stadtethnologie und Europäische Ethnologie, denn es ist neben einzelnen veröffentlichten Aufsätzen die erste ethnologische Studie über die Contraden und ihren Palio. Damit kommt Warner der bereits Mitte der 1980er-Jahre formulierten, bislang aber spärlich eingelösten Aufforderung nach, sich vermehrt italienischen Städten als ethnologischem Feld zuzuwenden und lokale Entwicklungen im Kontext globaler Entwicklungen zu untersuchen.

Ihr gelingt dabei eine differenzierte Sicht auf die Verknüpfung und wechselseitige Durchdringung von Lokalem und Globalem. Überzeugend kann sie darstellen, wie lokale Traditionen erfahrene bzw. gelebte Identität sein können, auch dann, wenn diese von Fremd- und Selbstzuschreibungen durchdrungen sind, und wie die Akteure aktiv an der Herstellung dieser Identitätskonstruktionen beteiligt sind. Die sich im steten Wandel befindlichen Identitäten der Contraden erscheinen den Sienesern als ein historisch gestütztes und verbürgtes eigenes Gut, gerade dann, wenn ihre Lebenswelten immer mehr von globalen Entwicklungen, beispielsweise der Umstrukturierungen des Arbeitsmarkts, von medialen Bildern und den Auswirkungen internationaler Politik, bestimmt werden. Der Palio erlaubt es, sich und die lokale Kultur selbstbewusst gegen den „Rest der Welt“ abzugrenzen. Warner kann zeigen, wie in globalisierten Räumen der lokale Ort zur Ressource wird, durch die soziales Leben reguliert werden kann. Der Rückbezug auf lokale Traditionsbestände erlaubt es, lokale Identitätskonstruktionen herzustellen bzw. zu erhalten, für die räumliche Bezüge, Familienbindungen und freundschaftliche Netzwerke bestimmend sind, und zugleich den Anschluss an Globalisierungsprozesse zu wahren.

Um dem Spannungsfeld von Lokalem und Globalem nachzugehen, untersucht die Autorin die seit dem Mittelalter gewachsenen Traditionen der siebzehn Stadteilgemeinden, der so genannten Contraden, und fragt danach, wie diese Tradition in einer sich rapide verändernden sozialen Welt aufrecht erhalten werden kann. Warner erweitert historische, volkskundliche und nicht wissenschaftliche Publikationen um eine ethnologische Perspektive auf die Sieneser Stadtteilgemeinden, indem sie mit der Darstellung und Interpretation ihrer Daten Einblicke in den sozialen Alltag der Contradenmitglieder bietet. Die Contraden stellen individuelle und kollektive Identitätsangebote bereit, die sich vornehmlich aus der Bindung an das angestammte Territorium, aus Familien- und Contradentraditionen speisen. Am Beispiel des Palio kann Warner die komplexe Vernetzung von territorial gebundenen Stadtteilidentitäten und sienesischen Selbstbildern zeigen, die die Abgrenzung nach außen ermöglichen: Das Pferderennen tritt dabei als ein lang vorbereitetes, lokal geprägtes, intimes und vor allem ritualisiertes Erlebnis in Erscheinung.

Während ihrer neunmonatigen Feldforschung in Siena nahm Warner aktiv am Leben von zwei der siebzehn Contraden teil. Ihre Datenbasis besteht aus Einzel- und Gruppeninterviews, teilnehmender Beobachtung, Archivmaterial und literarischen Quellen. Sie nähert sich ihrem Thema in fünf Kapiteln.

Im ersten Kapitel erörtert Warner theoretische Konzepte der kulturellen, territorialen und nationalen Identität. Ihren Fokus bildet die Frage, wie lokale Gemeinschaften sich unter Bewahrung von Traditionen in nationale wie internationale politische, wirtschaftliche und kulturelle Prozesse einbinden lassen bzw. wie sie durch Prozesse der Globalisierung eingebunden werden. Da der Anschluss an die empirischen Daten erst im zweiten Kapitel erfolgt, wirkt dieser Abschnitt in seiner theoretischen Breite etwas zu wenig auf die eigene Fragestellung fokussiert.

Im zweiten Kapitel erläutert die Autorin die historische Entwicklung der sienesischen Contraden und die Geschichte des Palios. Hierzu fächert sie elegant die Stadtgeschichte auf, um auf dieser Folie die heutigen Identitäten der Contraden mit ihren Werten und Normen in ihrem Alltagsleben zu erörtern. Sie kann auf diese Weise den Zusammenhang zwischen Raum, Territorium und Identitätskonstruktionen herausarbeiten. Gut gelingt es ihr durch ihren detaillierten Blick, Siena geografisch so zu erfassen, dass der Zusammenhang von Territorium und Identität augenscheinlich wird. Die Stadt wurde nach einer Legende von Remus’ Söhnen gegründet; tatsächlich aber von den Römern unter Kaiser Augustus als kleine Militärkolonie angelegt. Sienas Stadtbild erschließt sich heute noch durch die drei Hügel, die die Form des Stadtkerns prägen, um das ein vernetztes geografisches System von gegeneinander abgegrenzten Territorien gelagert ist. In jedem dieser Gebiete ist eine Contrada ansässig. Bereits ab 1546 sind Embleme der Contraden dokumentiert: Sie stellen Tiere dar oder enthalten Tiere, die als kraftvoll, aggressiv sowie sexuell potent gelten, beispielsweise die Gans, den Hahn, den Drachen oder den Adler. Die Embleme sind zudem mit Namen und spezifischen Farben versehen, die für die jeweilige Contrada stehen. Jedes dieser Territorien besitzt seit den 1930er-Jahren einen Brunnen: Das Wasser als Symbol des Lebens steht gleichsam für den Erhalt des Territoriums, und hier finden die Contradentaufen statt. Die geografischen Grenzen des Territoriums schließen dessen Bewohner zu einer korporativen Einheit zusammen, die sich von den angrenzenden Territorien abgrenzt und die sich gleichsam aus sich selbst regeneriert. Alle Contraden sind jedoch in ihrer räumlichen Vernetzung auf ein Zentrum konzentriert: die Piazza del Campo, auf der der Palio alljährlich stattfindet. Diese Piazza ist neutrales Territorium und geteilter Besitz aller Contraden.

Die Darstellung des städtischen Systems gelingt Warner hervorragend: Sie beschreibt eindrücklich, wie die Territorien in einer modernen Stadt die Grundlage des sozialen Lebens bilden, als reale geografische Einheiten wie als imaginäre Räume, die durch die subjektive Perspektive der Contradenmitglieder auf ihr Territorium greifbar werden. Obwohl die meisten Contradenmitglieder nicht mehr in den Altstadtvierteln leben, denn diese werden immer mehr von Touristen und Studenten bewohnt – Zeichen des sozialpolitischen und kulturellen Wandels in Siena –, lebt die tradierte Bedeutung des Territoriums in den Köpfen der Contraden fort, wie ihre Erzählungen deutlich machen.

Das dritte Kapitel behandelt den Palio als zentrales Element der Contradenkultur. Der Palio ist das wichtigste Ereignis für die Contradenmitglieder, und er ist das Erlebnis, das das Contradensystem in Bewegung hält. Der Name Palio wird vom lateinischen Begriff „pallium“ abgeleitet, womit im Mittelalter ein Banner bezeichnet wurde, das Schutzheiligen gewidmet war oder als Preis bei einem Turnier oder Rennen verliehen wurde. Ein zentrales Kennzeichen der historischen Tradition der Contraden ist die Übernahme dieser Bezeichnung für das Rennen selbst. Die Autorin beschreibt den Festablauf, die Probeläufe mit den Pferden und das politisch nicht unbedeutende Festmahl, zu dem neben dem Bürgermeister auch Schauspieler und Politiker geladen sind. Detailliert wird geschildert, wie die Auslosung der Pferde und die Bestechung der Reiter stattfinden und die Pferde in der je eigenen Kirche auf dem Contradenterritorium vor dem Rennen gesegnet werden. Die männlichen Reiter, die fantini, „sind der ungeliebte Teil des Palios“ (S. 130). Sie gelten als Söldner, die meist nicht aus Siena kommen und einer niedrigen Schicht angehören. Sie verfolgen ihre Interessen beim Palio: das Entgegennehmen von Bestechungsgeldern, mit denen die einzelnen Contraden ihren Sieg erkaufen wollen. Das Rennen um den Platz dauert dann nicht länger als circa neunzig Sekunden: Die Reiter reiten ohne Sattel, können sich gegenseitig behindern und die Unebenheit der Bahn führt zudem häufig zu Stürzen. Der Sieger erhält das Palio-Banner und in einem Triumphzug marschiert die Contrada zum Dom.

Warner geht mit ihrer Schilderung über bisherige volkskundliche und folkloristische Interpretationen des Festes hinaus. Wurde der Palio bislang etwa als Krieg, als Politik der Stadtteile, als Spiel und/oder als symbolischer und performativer Ausdruck sienesischer Kultur gedeutet, versteht Warner das Ereignis als Ritual. Die Ritualität des Palio wird vor allem dort deutlich, wo die nicht-sienesiche Zuschauerschaft und das Medieninteresse, also gewissermaßen die Außenperspektive, mit einbezogen werden, denn dann treten die ritualisierte Aufregung als Motor des Wettkampfs, die folkloristische Komponente und die städtische Politik in ihrer Regelhaftigkeit in Erscheinung. Hierbei berücksichtigt die Autorin nicht nur den äußeren Festablauf, sondern widmet gerade auch der Sicht der Beteiligten sowie deren subjektiver, emotionaler Deutung des Wettkampfes große Aufmerksamkeit. Denn der Palio hat unter anderem auch die Funktion, die Contraden physisch zu erneuern: Dies gelingt letztlich aufgrund der emotionalen Bindung der Mitglieder an ihre Contraden und durch deren Einbindung in den Alltag. Denn, so schließt Warner ihre Analyse, der Palio ist zwar geschichtlich begründet, er gewinnt „seine Selbstverständlichkeit jedoch aus der Verankerung im Alltagsleben“. (S. 157)

Im vierten Kapitel profiliert die Autorin die Contraden als ein segmentäres System, bei dem die Abgrenzungsprozesse untereinander und die gemeinsame Grenzziehung gegenüber allem Nicht-Sienesischen einem doppelten Identitätsbildungsprozess unterliegen. Das Miteinander und die Differenzen äußern sich in reziproken Rivalitätsbeziehungen. Die identitätsstiftende Bedeutung des Territoriums erschließt sich durch die symbolische Manifestierung der Contraden im Raum: durch öffentlich angebrachte Embleme, durch Wege und Eingänge, durch die die Contradenmitglieder den Raum physisch und sinnlich erfahren können. Ein weiterer Ausdruck des Contradensystems ist der traditionelle Faustkampf. Die Cazotti, Faustschläge, sind aggressive, ritualisierte körperliche Auseinandersetzungen, die normalerweise in den Tagen des Palios auf der Piazza del Campo, aber auch alltäglich stattfinden. Mit dem Faustschlag gegen ein Mitglied einer verfeindeten Contrada kann die eigene Contradenidentität bestätigt und das Territorium symbolisch verteidigt werden.

Im letzten Kapitel ihrer Arbeit steht die Wahrnehmung der Contraden, des Palios und Sienas durch die „Welt außerhalb“ im Zentrum der Analyse. Warner richtet den Blick auf die Kritik am Palio von Seiten der Tierschützer, die den unnützen Tod vieler Pferde beklagen. Aber auch die Medien, Fernsehübertragungen wie Printmedien, die das Fest der Öffentlichkeit oftmals unter dem Aspekt der Gewalt und betont gelebter Tradition präsentieren sowie Reaktionen von Touristen und nicht-sienischen, italienischen wie ausländischen Studierenden werden berücksichtigt. Es wird deutlich, dass Außenstehende weder im Alltag, noch weniger aber in der Periode des Palio einen Zugang zur Stadt und ihren Bewohnern bekommen. Diese geben sich zwar als tolerant, aber kapseln sich von den Fremden ab, wenn es um den Palio geht. Dieses Verschließen der Sieneser soll den Palio als „etwas Intimes“ gegen „alle Nicht-Dazugehörigen“ schützen (S. 248).

Siena, das sind die Contraden – die sienische Kultur wird innerhalb der Stadtmauern gepflegt. Außerhalb ist eine Welt, die mit ihren globalen Einflüssen durch den kulturellen lokalen Fundus Sienas reguliert wird. Es geht den Contradenmitgliedern nicht darum, sich mittels Traditionen gesellschaftlichem Wandel und den Veränderungsprozessen in den Contraden zu widersetzen. Vielmehr stellt sich für die Sieneser die Frage, „wie“ mit diesen Einflüssen umgegangen werden soll und wird. Dieses „Wie“ spiegelt die Verhandlungen wider, deren Diskurse zwischen den Contraden selbst und deren Beziehungen nach „außen“ vermitteln. Die territoriale Verortung, die räumlichen Bezüge, die symbolischen Grenzen der Contraden und die persönlichen face-to-face Beziehungen machen deutlich, dass dem Ort als Lokalität von sozialem Leben auch im 21. Jahrhundert trotz medialer Vernetzung und transnationaler Beziehungsnetzwerke eine immense Bedeutung für die Stabilisierung sozialer Strukturen zukommt.

Warners Ethnografie über die Contraden von Siena ist ein außergewöhnlich sensibles Buch, das sich holzschnittartigen Interpretationsansätzen über die Konstruktion von lokalen Identitäten widersetzt. Am Schluss erwartet die LeserInnen eine Zusammenführung der im ersten Teil diskutierten theoretischen Ansätze und deren erneute Betrachtung aufgrund des Datenmaterials. Warner schließt das Buch jedoch mit einer zusammenfassenden Reflexion ihrer Ergebnisse ab, ohne direkt auf die theoretischen Konzepte zurückzugreifen. Dennoch ist diese Arbeit aufgrund der transparenten methodischen und theoretischen Darstellung eine lesenswerte stadtethnologische Studie, die die Lesenden intensiv am italienisch-sienischen Contradenleben und dem Palio teilhaben lässt.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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