Titel
Russia's Foreign and Economic Expansion in the Seventeenth Century. Windows on the World


Autor(en)
Jarmo, Kotilaine
Reihe
The Northern World. North Europe and the Baltic c. 400-1700 AD. Peoples, Economies and Cultures 13
Erschienen
Anzahl Seiten
XVIII, 611 S., 6 Kart., 25 Abb.
Preis
€ 147,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Selbst diejenigen Europahistoriker, welche die russischen Reichsbildungen als Teil der europäischen Geschichte auffassen, setzen den Beginn der “Europäisierung” des Zarenreiches in der Regel erst mit der Regierungszeit Peters I. – des Großen – von 1689 bis 1725 an. Kiewer und Moskauer Rus’ gelten mehrheitlich als “eurasisch” und damit “uneuropäisch”, und auch der Moskauer Staat der Frühen Neuzeit, der sich im 17. Jahrhundert unter der Romanov-Dynastie reorganisierte und stabilisierte, wird ganz überwiegend als (noch) “nicht europäisiert” eingestuft. Das Bild von Peters Vater und Vorgänger Aleksej Michajlowitsch (1645-1676) als zielstrebigem Modernisierer und “Westernizer”, das etwa der Berliner Russlandhistoriker Hans-Joachim Torke gezeichnet hat, hat dabei kaum Niederschlag gefunden.

Auch der in Harvard tätige US-amerikanische Nordosteuropahistoriker Jarmo T. Kotilaine vertritt die These, dass der Moskauer Staat bereits ein Säkulum vor dem Aufstieg zur Regionalvormacht im Ostseeraum und zwei Jahrhunderte vor Erlangung der Hegemonie über das gesamte östliche Europa ein genuin europäisches Gemeinwesen war – aufgrund dynamischer Wirtschaftsentwicklung samt internationaler ökonomischer Verflechtung, ja Integration in die europäische Weltwirtschaft. Entsprechend datiert er den Beginn der Verwestlichung Russlands nicht auf das Ende, sondern auf den Anfang des 17. Jahrhunderts.

Für seine Sichtweise führt Kotilaine zwei zentrale Argumente an: Zum einen war ihm zufolge die Wirtschaft des Moskauer Russland mitnichten rückständig, unterentwickelt und isoliert, sondern vielmehr in dramatischer Expansion und Modernisierung begriffen sowie offen gegenüber anderen Märkten. Dies belegt er durch eine akribische Untersuchung der Handelsrouten zum und vom russischen Markt, nämlich der maritimen Route von Archangelsk aus über das Weißes Meer, die Barentssee und Nordsee einerseits sowie derjenigen von Nordwestrussland durch das schwedische Baltikum in die Ostsee andererseits, desgleichen der Landroute durch Ostmitteleuropa nach Zentraleuropa und der verschiedenen Landrouten nach Asien, vor allem in den safavidischen Iran und nach China, aber auch nach Indien, ins Osmanische Reich sowie in die mittelasiatischen Zentren Buchara und Chiva.

Außerdem hält er die russische Wirtschaft des 17. Jahrhunderts deswegen für eine moderne und auf der Höhe der Zeit befindliche, weil sie dynamisch auf die steigende externe Nachfrage nach „naval stores“ wie Pottasche, Mastholz, Seile, Taue, Segel usw. und begehrte Luxuswaren wie Juchtenleder und Pelze, periodisch aber auch nach Getreide, gar persischer Rohseide, reagierte. “Demand-driven trade” und “Russian supply response”, so seine Quintessenz, griffen hier ineinander. Schließlich nennt er auch den Europäisierungsschub, den Russland von den 1630er-Jahren an sowohl durch den Zustrom ausländischer Experten, Diplomaten und vor allem Fernkaufleute als auch durch massiven Technologietransfer im Bereich protoindustrieller Produktion erfuhr.

Kotilaines Darstellung des gesteigerten englischen, niederländischen, hansischen, dänischen und schwedischen Interesses am russischen Markt, der flexiblen ökonomischen wie wirtschaftspolitischen Reaktionen darauf russischerseits sowie des Funktionierens der vier genannten Haupthandelswege ist eine in qualitativer wie quantitativer Hinsicht überaus dichte Beschreibung, die auf einem gewaltigen Quellenfundament ruht. Der Autor hat zahlreiche Archivalien in den verschiedensten Städten von Moskau über Tartu bis Lübeck ausgewertet, den vorhandenen Fundus gedruckter Quellen in etlichen Sprachen genutzt sowie ein veritables Gebirge an Fachliteratur rezipiert – das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst mehr als 60 Seiten.

Die von ihm dabei gesammelten statistischen Daten lassen ihn zu drei zentralen Ergebnissen gelangen: (1) Der Warenaustausch zwischen Russland und Europa war das gesamte 17. Jahrhundert hindurch intensiv – mit konjunkturellen Spitzen in der Mitte wie am Ende; (2) der Modernitätsgrad der russischen Wirtschaft ist an ihrer doppelten Mobilität ablesbar: gesteigerte Nachfrage resultierte in erhöhter Produktion und politische, militärische, infrastrukturelle oder andere Probleme auf einer der drei Zugangsrouten nach Nordwesteuropa konnten durch rasche Umleitung auf die jeweils anderen Routen im Wortsinne umgangen werden; und (3), die Einbindung des Landes in die europäische Weltwirtschaft veranlasste den Zaren zur Formulierung einer innovativen Wirtschaftspolitik, die – neben Produktionssteigerung und Steuermaximierung – auf die Schaffung einer einheimischen Kaufmannsschicht, “a Russian ‚bourgeoisie‘”, zielte. Damit, so Kotilaine, seien die west- und nordeuropäischen Außenhandelspartner des Zaren de facto zu “midwives of an empire”, also zu Hebammen des petrinischen Reiches geworden.

Kotilainens Thesen bezüglich ökonomischer Expansion des Moskauer Staates samt Öffnung und Internationalisierung sind nicht ganz neu. Der Göteborger Wirtschaftshistoriker Artur Attman hat der Integration des russischen Marktes in die Weltwirtschaft des 17. Jahrhunderts ein Lebenswerk gewidmet, seine Bielefelder Kollegin Elisabeth Harder-Gersdorff hat den durch die westliche Nachfrage nach russischem Juchten bedingten Boom von Viehwirtschaft und Gerbermanufakturen in Zentralrussland eingehend analysiert (und quantifiziert). Der Rezensent hat die Frage der alternativen Ausfuhrwege behandelt und Autoren wie Helmut Piirimäe, Walther Kirchner, Hermann Kellenbenz, Samuel H. Baron, Paul Bushkovitch, Vasilij V. Doroschenko oder Igor P. Schaskolskij haben zahlreiche Aspekte des intensiven Kultur-, Kapital- und Technologietransfers zwischen Russland und anderen Teilen Europas im in Frage stehenden Jahrhundert beleuchtet.

Der Mehrwert von Kotilaines Studie besteht daher zum einen im Zusammenführen der bisherigen vielsprachigen Forschung, zum anderen in ihrer Unterfütterung durch zusätzlich Quellen vor allem baltischer Provenienz. Deutlich gewonnen hätte seine Untersuchung allerdings durch ein quantifizierendes Schlusskapitel, das – über einzelne Grenz- und Hafenorte hinaus – statistische Daten zur gesamten ökonomischen Interaktion zwischen Russland auf der einen und West- wie Nordeuropa sowie Asien auf der anderen Seite, eine Art volkswirtschaftliche Gesamtrechnung also, hätte enthalten müssen. So deuten zwar regionale und sektorale Trends darauf hin, dass das frühneuzeitliche Russland aufgrund seiner “windows on the world” wie Archangelsk, Nowgorod, Smolensk oder Astrachan in Richtung Europäizität transformiert wurde, aber das Gesamtbild bleibt schemenhaft.

Der Band enthält fünf mäßig informative Kartenskizzen sowie 25 zeitgenössische Abbildungen russischer wie außerrussischer Handelsorte einschließlich einiger historischer Karten. Ein detaillierter Index erschließt den Band. Die ebenso kurze wie instruktive Einleitung hätte durch einen Abriss des mittlerweile nur noch schwer überschaubaren internationalen Forschungsstandes deutlich gewonnen.

Jarmo T. Kotilaines Studie mit ihren gut begründeten Hauptthesen, überzeugenden Ergebnissen sowie (mitunter zu langen) eindringlichen Analyseteilen stellt eine umfassende Zwischenbilanz der intensiven Forschung zum russischen 17. Jahrhundert dar. Sie bietet zugleich Teilerklärungen dafür, warum der periphere und bevölkerungsarme Moskauer Staat im 18. Jahrhundert zur Vormacht in Nordosteuropa aufstieg und im 19. die Rolle des „Gendarms Europas” übernahm. Und mit ihren zahlreichen Hinweisen auf die Bedeutung von Waffen- und Rüstungsimporten im russischen Außenhandel weist sie auf das andere Erklärungsmoment, nämlich die Militarisierung des nahezu permanent im Kriegszustand befindlichen Zarenstaates im Zeitalter der Nordischen Kriege von 1558 bis 1721.

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