P. Zimmermann u.a. (Hrsg.): Geschichte des dokumentarischen Films

Jung, Uli; Loiperdinger; Martin (Hrsg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Band 1: Kaiserreich (1895-1918). Ditzingen 2005 : Reclam, ISBN 3-15-030031-2 2120 S. in 3 Bd.; 700 schw.-w. Ill. € 198,00

Kreimeier, Klaus; Ehmann, Antje; Goergen, Jeanpaul (Hrsg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Band 2: Weimarer Republik (1918-1933). Ditzingen 2005 : Reclam, ISBN 3-15-030031-2 2120 S. in 3 Bd.; 700 schw.-w. Ill. € 198,00

Zimmermann, Peter; Hoffmann, Kay (Hrsg.): Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland. Band 3: "Drittes Reich" (1933-1945). Ditzingen 2005 : Reclam, ISBN 3-15-030031-2 2120 S. in 3 Bd.; 700 schw.-w. Ill. € 198,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Corinna Müller, Institut für Germanistik II, Universität Hamburg

Die „Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland“ von 1895 bis 1945 ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Erschließung des deutschen Dokumentarfilmschaffens. Es handelt sich dabei um die Publikation der ersten drei Bände eines großen Forschungsprojekts, das unter der Gesamtleitung von Peter Zimmermann am Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart angesiedelt ist, gefördert vom Südwestrundfunk (SWR), der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem Bundesarchiv/Filmarchiv, das Zugang zu seinen umfangreichen Archivbeständen gewährte, sowie zahlreichen weiteren Filmarchiven und Institutionen. Die Publikation basiert daher nicht nur auf gedruckten Quellen, die in eindrucksvollen Bibliografien dokumentiert sind, sondern auch auf einem Konvolut von über 800 Filmen – allein dies schon macht die „Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland“ herausragend. Dass sie nun vorliegt, ist umso mehr zu begrüßen, als unser Geschichtsbild der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich auf diesen dokumentarischen Filmen beruht – oder besser: darauf, was das Fernsehen aus ihnen macht. Die letzten Aufsätze im dritten Band befassen sich daher analytisch mit Fernsehdokumentationen speziell über das „Dritte Reich“ in der Bundesrepublik und der DDR sowie mit dem Umgang mit Dokumentarfilmen in der Geschichtswissenschaft.

Der im Titel dokumentierte Anspruch, eine Geschichte des „dokumentarischen Films“ vorzulegen, ist als Abgrenzung zur Spielfilmgeschichte zu verstehen. Die Diskussion der Problematik des Begriffs durchzieht alle Bände, denn die Vorstellung vom Dokumentarfilm als „cinéma verité pur“, das „ungestellte Bilder der Wirklichkeit“ (Wilfried Basse) einfängt, ist eine schon von der filmischen Avantgarde der 1920er-Jahre wie später auch in den 1960er 1970er-Jahren postulierte Idealvorstellung, so dass man inzwischen nicht mehr vom „Primat der Realität vor dem Film“, sondern von „Adressierungsweisen“ und „Authentizitätsstrategien“ spricht (Bd. 2, S. 69). Zudem ist das Dokumentarische im Film „keine Qualität, die den Filmen ein für allemal eingeschrieben ist, sondern wird in Prozessen gesellschaftlicher Kommunikation stets neu diskutiert“, was auch für die jeweils historisch und national gebräuchlichen Terminologien und Genrebezeichnungen gilt. Es wird daher von „einer weit gefassten Definition des dokumentarischen Films“ ausgegangen, um diesem historischen Wandel Rechnung zu tragen – eine eher pragmatische Lösung im Umgang mit der historischen Dimension des Gegenstands, die sich eindeutigen definitorischen Kategorien gegenüber sperrig zeigt.

Daher sollte man über die sich ergebenden Widersprüche im terminologischen Umgang wohlwollend hinwegsehen: Die beiden letzten Bände unterscheiden nur unscharf zwischen „Kulturfilm“ und „Dokumentarfilm“, und der erste Band neigt mit dem Terminus des „non-fiktionalen“ Films, der den frühen Film von den in den beiden weiteren Bänden behandelten Zeiten abgrenzen soll, zur Überterminologisierung. Der schon in der Kaiserzeit für dokumentarisches Filmschaffen in Deutschland entstandene Begriff des „Kulturfilms“, von dem vorwiegend die Rede ist, wird hier in einer Begriffsbestimmung als ein „Kino-Genre“ fürs Beiprogramm beschrieben, wie auch als ein „(populär)wissenschaftliches Unterrichtsmedium und Repräsentations- und Werbemedium der Industrie“ (Bd. 2, S. 68). Was sich unentschlossen anhören mag, stellt tatsächlich eine wissenschaftliche Abstraktionsleistung dar: Zwischen Kaiserreich und NS-Zeit wurde im Branchenjargon eigentlich alles dokumentarische Filmschaffen im Oberbegriff als „Kulturfilm“ bezeichnet, und mit engeren Eingrenzungen hielt man es nicht so genau (was sehr schön ein abgebildeter Werbezettel für „Filme der Wissenschaft und Industrie“ und das darunter versammelte Sammelsurium an Filmtiteln zeigt, Bd. 2, S. 48). Der Kulturfilm war in Deutschland insgesamt gesehen alles andere als ein randständiges Genre – allein die Kulturfilm-Abteilung der Ufa, die keineswegs ein Monopol auf dem Gebiet besaß, selbst wenn sie das größte Herstellungszentrum von Kulturfilmen in Deutschland bildete, beschäftigte bereits 1921 120 feste Mitarbeiter und unzählige assoziierte Kräfte vor allem aus der Wissenschaft.

Die Aufteilung der Bände folgt politischen Zäsuren, was sich auch in der Perspektive aufs dokumentarische Filmschaffen in Deutschland in allen Bänden niederschlägt. Die seit Siegfried Kracauer verbreitete Sicht des dokumentarischen Films als Propagandainstrument und Indoktrinationsmittel, die notwendig und angebracht ist, dient hier jedoch nicht als einzige Messlatte der Auseinandersetzung mit dem Material und wird stark differenziert. So wird als ein Ergebnis der Untersuchung festgehalten, dass selbst der Dokumentarfilm im „Dritten Reich“ „vielfältiger, widersprüchlicher und in weiten Teilen weniger propagandistisch [war], als es das kritische Stereotyp wahrhaben möchte“ (Bd. 3, S. 47). Politische Zäsuren bewirkten auch nicht immer, wie mit Beginn des „Dritten Reichs“, zugleich Einschnitte für die Kultur. Die politischen Umwälzungen der Jahre 1918/19 etwa bedeuteten in kultureller Hinsicht „keinen totalen Bruch oder völligen Neubeginn, weder im Bereich der Höhenkünste noch der Massenkünste“ (Bd. 2, S. 229). Der methodische Untersuchungsansatz erfolgt entsprechend nicht nur unter politischen, sondern ebenso „ästhetisch-strukturellen, stilistischen und typologischen als auch unter medien- und kulturgeschichtlichen Aspekten“ (Vorwort). So werden auch filmhistorische Zäsuren (Tonfilm, Bd. 2) und filmtechnische Innovationen (Farbfilm, dem der Kulturfilm ein gutes Jahrzehnt lang als Experimentierterrain diente, Bd. 3) ebenso wie institutionelle (Zensur) und industrielle Entwicklungen eingehend berücksichtigt. Zudem reicht der Blick durch Rück- und Vorausschauen, sei es auf die Kultur der Laterna magica (Bd. 1/2) oder des Fernsehens (Bd. 2/3) über den engeren Untersuchungszeitraum und schließlich durch internationale Vergleiche selbst über die Ländergrenzen hinaus.

Eingeleitet werden die Bände durch umfangreiche Forschungsüberblicke. Der erste Band konzentriert sich dabei auf die Forschung zum frühen Film, die erst Mitte der 1980er-Jahre entstand. Viel Raum ist hier der Darlegung des Verlaufs filmhistorischer Entwicklungen gewidmet, so vor allem dem Forenwandel von ambulanten Präsentationen im Varieté und auf dem Jahrmarkt zum ständig spielenden Unterhaltungsangebot im ortsansässigen Kino. Mit diesem Forenwandel war der Übergang von sehr kurzen Filmen aus meist nur einer Einstellung zu längeren, montierten Filmen und eine Umorientierung von ursprünglich vorherrschend dokumentarischen Filmen zum Spielfilm verbunden, die sich allerdings bereits bei reisenden Filmvorführungen auf dem Jahrmarkt anbahnte. Die Forschungsberichte der beiden folgenden Bände betten den Gegenstand in Überblicke zu historisch-politischen Kontexten ein, insbesondere den Diskussionen zur Modernisierung in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Im Rahmen der Forschungsüberblicke wird auch die filmhistorisch-spezifische Perspektive zeitgenössischer Publizistik und retrospektiver Filmgeschichtsforschung aufs dokumentarische Filmschaffen dargelegt; speziell hier sind Pionierarbeiten von großem Informationsgehalt entstanden.

Zentral widmen sich die Bände vor allem Genreuntersuchungen. Sie sind zumeist vergleichbar und schließen aneinander an, selbst wenn die Bezeichnungen im Einzelnen, zum Teil auch historisch zwingend, voneinander abweichen. So gilt im ersten Band dem Filmgeschehen um Kaiser Wilhelm II. als erstem „Filmstar“ ein eigenes Kapitel (wobei man zeitgenössisch sogar von Kaiserbildern als eigenem Genre sprach), und ein weiteres Kapitel schildert die Nutzung des Mediums Film durch den Deutschen Flottenverein schon seit Ende der 1890er-Jahre und deren enorme Expansion vor dem Ersten Weltkrieg. Nicht zuletzt an solch historisch spezifischen Gliederungsabschnitten, die von den weiteren Bänden nicht aufgenommen werden können, zeigt sich die Klugheit der Entscheidung zu einer „weichen“ Terminologie und Strukturierung der Bände. Anschlüsse und Vergleichbarkeiten schaffen die Bände dagegen für dokumentarische Genres wie die Wochenschau, den Städte-, Reise- und Expeditionsfilm, den Tier- und Naturfilm, den Werbe- und Industriefilm sowie experimentelle Filme, die zeitgenössische Avantgardisten zum dokumentarischen bzw. Kulturfilmschaffen beitrugen. Im Rahmen dieser Analysen werden viele Personen eingehend behandelt (so etwa kontrovers der prominente Hans Cürlis, Bd. 2/3) und der Vergessenheit entrissen. Zudem werden hier einzelne Filme ausführlich und unter verschiedenen Aspekten analysiert (am umfassendsten der NS-Naturfilm-Klassiker „Ewiger Wald“ in Bd. 3). Immer wieder wird dabei die Hybridisierung des Dokumentarischen durch die Integration von Spielszenen, fiktionalen Rahmenhandlungen oder Kommentierungen in ihrer historischen Dimension deutlich.

Die Bände bieten dem filmhistorisch bis heute virulenten Klischee überzeugend Paroli, dass der dokumentarische Film – außer zu NS-Zeiten – ein randständiges Dasein geführt habe und beim Kinopublikum, das fiktionale Spielfilme favorisiert habe, unbeliebt gewesen sei. Speziell das Genre des Reisefilms erfreute sich zeitloser Popularität, was sich bis in aktuelle Fernsehformate hinein feststellen lässt. Selbst der belehrende Film war nicht nur ein blutleerer Favorit verknöcherter Kinoreformer der Kaiserzeit, sondern war insbesondere ab Mitte der 1920er-Jahre auf Erfolgskurs (Bd. 2, S. 82ff.). Auch wissenschaftliche Filme erreichten das breite Kinopublikum nun, denn sie wurden oft in drei Fassungen angefertigt: einer für Universitäten, einer für den Schulunterricht und einer unterhaltsam aufgepeppten fürs Kino, die dem Erwartungshorizont des Publikums gegenüber einem Ort der Unterhaltung entsprach, aber gleichwohl Ergebnisse der Wissenschaft popularisierte. Sicherlich gibt es Desiderate, und manchmal hätte man sich gewünscht, dass das große Projekt im Einzelnen mehr Mut zu einer Überprüfung lieb gewordener Sichtweisen entwickelt hätte. Ein Beispiel ist die Beurteilung des Regisseurs und Produzenten Arnold Fanck, der trotz seiner herausragenden Bedeutung für das Format des langen Dokumentarfilms mit seinem Kinoerfolg „Das Wunder des Schneeschuhs“ von 1920 hier nicht in die Speerspitze internationaler Dokumentarismus-Pioniere aufzurücken vermochte.

Insgesamt gelingt es den drei Bänden mit Bravour, den Leser/innen die Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland nahe zu bringen und als Gesamtschau darzulegen. An dieser Gesamtschau waren außer den Herausgebern der einzelnen Bände zahlreiche Autor/innen beteiligt, die in den einzelnen Bänden jeweils kurzbiografisch ausgewiesen werden. Die Bände enthalten außerdem jeweils umfangreiche Bibliografien und Filmografien, letztere verdienstvollerweise mit Findangaben erhaltener Kopien. Der dritte Band versammelt Kurzbiografien zahlreicher dokumentarischer Filmschaffender aus dem Untersuchungszeitraum. Eine Materialien-Datenbank des Hauses des Dokumentarfilms ist auf deren Homepage im Internet zugänglich, und die den Forschungsarbeiten zugrunde liegenden dokumentarischen Filme und Materialien sind zum größten Teil im Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart als Präsenzbestände einsehbar. Eine projektierte, begleitende Publikation wichtiger behandelter Filme auf DVD ließ sich allerdings nicht realisieren, was einen Einsatz der hier vorgelegten Erkenntnisse in der Lehre leider sehr erschwert. An der „Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland“ wird sicher niemand mehr vorbeigehen wollen (und können), der sich mit dem Thema befasst und sich ein Bild deutscher Filmgeschichte machen möchte.

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