H. Melber (Hg.): Genozid und Gedenken

Cover
Titel
Genozid und Gedenken. Namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart


Herausgeber
Melber, Henning
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Brandes & Apsel Verlag
Anzahl Seiten
204 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Diepes, Departement van Afrikanistiek, Universiteit Leiden

Die vorliegende Anthologie behandelt den Krieg der deutschen Schutztruppe gegen die namibischen Gruppen der Herero und Nama (1904-1908) aus einer geschichts- und erinnerungspolitischen Perspektive. Der Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika endete mit der Dezimierung großer Teile der Hererobevölkerung und gilt in weiten Teilen der geschichtswissenschaftlichen Forschung sowie im politischen Diskurs als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Schwerpunkte der verschiedenen Aufsätze sind die Auswirkungen dieses Genozids auf das (bundes-)deutsche und das namibische Geschichtsbild. Die insgesamt acht Beiträge des Buches verfolgen geschichtswissenschaftliche, juristische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen, zu denen sich die AutorInnen meist schon mit anderen Veröffentlichungen zu Wort gemeldet haben. Insofern bietet dieses Buch nicht wirklich neue Einsichten. Jedoch ist es eine sehr informative Zusammenstellung maßgeblicher Positionen zu diesem Thema. Da die Diskussion um die deutsche Kolonialgeschichte in Namibia bereits vor einigen Jahren ansetzte und mit dem Erinnerungsjahr 2004 einen vorläufigen publizistischen Höhepunkt (aber gewiss noch kein Ende) fand, konnten einzelne AutorInnen nun außerdem auf Ergänzungen und Kritiken ihrer Positionen eingehen bzw. sich von – nicht immer rein inhaltlichen – Angriffen abgrenzen. Was in einigen Beiträgen auch eifrig unternommen wird.

Natürlich fällt gleich zu anfangs auf, dass die Auseinandersetzung mit der deutsch-namibischen Vergangenheit hier eine fast rein deutsche Auseinandersetzung bleibt. Bis auf den niederländischen Historiker Jan-Bart Gewald sind alle AutorInnen dieses Bandes Deutsche, wenn auch mit zum Teil langjährigen biografischen Verbindungen mit Namibia. Henning Melber, Direktor des Nordischen Afrika-Instituts in Uppsala und ehemaliger Leiter eines namibischen Forschungsinstituts, betont in seinem Vorwort denn auch, die inhaltliche „Auseinandersetzung geleitet von unserer europäisch geprägten Perspektive und zuvorderst für uns selber“ (S. 10) führen zu wollen. Engagement und Parteinahme nimmt er dabei ausdrücklich in Anspruch.

In dem ersten Beitrag unter dem Titel „Ein deutscher Sonderweg?“ greift Melber die vor allem von Jürgen Zimmerer vertretene Kontinuitätsthese auf, die einen Zusammenhang zwischen der Kolonialherrschaft und der NS-Herrschaft, zwischen dem Völkermord an den Herero und dem Holocaust herstellt. Dabei präzisiert Melber, dass der deutsche Kolonialismus keine deterministische Entwicklung bis hin zum Nationalsozialismus einleitete, wohl aber eine Weiche für entsprechende Denkmuster stellte. Die Erforschung des Herero-Genozid ist seiner Ansicht nach für die Erforschung des Holocaust sowie auch für aktuelle Formen von Völkermorden fruchtbar.

Jürgen Zimmerer zeichnet in seinem Beitrag „Rassenkrieg und Völkermord“ den Verlauf des Herero-Krieges nach und analysiert die zeitgenössische Kriegsrhetorik, die die physische Beseitigung der kolonisierten Bevölkerung bereits beinhaltete. Die Behandlung der Kriegsgefangenen analysiert der Autor plausibel als einen Bestandteil der Vernichtungspolitik. Eine Gleichsetzung von Herero-Genozid und Holocaust lehnt Zimmerer ab. Wohl aber war der Kolonialismus ein Ideengeber für die NS-Politiker: „Die kolonialen Erfahrungen stellten ein kulturelles Reservoir dar, aus dem man während des Dritten Reiches schöpfen konnte.“ (S. 48)

Reinhart Kößler wendet in seinem Aufsatz „Im Schatten des Genozids“ Theorien zur Erinnerungskultur auf die namibische Gesellschaft an. Deren Charakteristikum liegt in ihrer extremen sozialen Ungleichheit. Sozialer Status oder räumliche Situation bedingen unter anderem den Zugang von Gruppen z.B. zu den Medien als den maßgeblichen Erinnerungsspeichern. Kößler betont die enge Verknüpfung der historischen Erinnerung mit der aktuellen politischen Konstellation in Namibia. Entscheidend sind hierbei wieder die ungleichen Möglichkeiten innerhalb der Bevölkerung, eine wahrnehmbare Erinnerungspolitik zu gestalten. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der namibischen Geschichte hält Kößler daher eine Parteinahme für unerlässlich.

In ihrem gemeinsamen Beitrag „Genozid, Herero-Identität(en) und die Befreiungsbewegung an der Macht“ analysieren Jan-Bart Gewald und Henning Melber die identitätsstiftende Funktion der Erinnerung an den Herero-Krieg gegenüber dem konkurrierenden Geschichtsbild des offiziellen Nation Building der Regierung. Sie weisen nach, dass innerhalb der Rekonstruktion der Herero-Gesellschaft nach der deutschen Kolonialzeit das kollektive Kriegsgedenken ein wesentliches Element war. Im Zuge des Dekolonisationsprozesses der 1970er und 1980er-Jahre und des von der SWAPO geführten und nordnamibisch geprägten Befreiungskampfes gingen Teile der zentralnamibischen Herero-Gesellschaft ein Bündnis mit den weißen Machthabern ein. Dabei wurde das Gedenken an den Völkermord zugunsten eines politisch-pragmatischen Versöhnungsgedankens vernachlässigt. Seit der Unabhängigkeit wird die Forderung nach einer bundesdeutschen Wiedergutmachung ein zentrales Anliegen oppositioneller Herero-Politiker. Der Diskurs über den Genozid „ist deshalb ein Jahrhundert später die erste wirklich verbindende Gemeinsamkeit aller otjiherero-sprachigen der Gegenwart“ (S. 101). Demgegenüber verneint die SWAPO den exklusiven Charakter des Hererokrieges und reiht ihn ein in eine Abfolge des afrikanischen Widerstandes, welcher in dem von der SWAPO geführten Befreiungskampf seinen Höhepunkt findet.

Janntje Böhlke-Itzen rekonstruiert die deutsche und die namibische Diskussion um den Kolonialkrieg und etwaige Reparationen bis zur viel beachteten Entschuldigungsrede der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Ihre sehr kenntnisreiche Beschreibung entspricht in weiten Teilen ihrer bereits im letzten Jahr vorgelegten detaillierten Studie zu „Kolonialschuld und Entschädigung“.1 Sehr lesenswert ist ihre Analyse der Rhetorik des namibischen Ex-Präsidenten Sam Nujoma und der deutschen Reaktionen auf die Wieczorek-Zeul-Rede.

Der Völkerrechtler Malte Jaguttis untersucht die zeitgenössischen Rechtsvorstellungen der deutschen Kolonialzeit, wobei er zwischen dem Rechtsanspruch und der Rechtswirklichkeit der kolonialen Situation unterscheidet. Er weist nach, dass auch gemäß der Rechtsnormen des späten Wilhelminischen Reiches der Krieg gegen Nama und Herero als ein völkerrechtliches Verbrechen eingestuft werden konnte.

„Eine Polemik“ kündigt Christoph Marx im Untertitel seines Beitrags an. Tatsächlich sticht sein Aufsatz durch dieses subjektive Element in der Reihe der analytischeren Beiträge hervor. Unerfreulich ist dabei, dass Marx, der die persönlichen und diffamierenden Attacken und die „Intellektuellenfeindlichkeit“ mancher Autoren zurecht und lesenswert bloßstellt, in einen vergleichbaren Stil verfällt, wenn er zum Beispiel die konservative Position eines namibiadeutschen Farmers und Laienhistorikers in schroffer Form verwirft: „Der pensionierte Farmer Schneider-Waterberg versteht demnach von Geschichtswissenschaft etwa soviel wie ich vom Schafescheren.“ (S. 145) Marx verwehrt sich gegen die Kritik von Birthe Kundrus 2, die den Vertretern der Kontinuitätsthese implizit beruflichen Opportunismus unterstellt, und wirft ihr eine inhaltlich verzerrende und rufmordähnliche Argumentation vor. Dem Kölner Afrikanisten Andreas Eckl, der die Anwendung des Genozidbegriffs als eurozentrisch ablehnt 3, bescheinigt er eine inhaltliche Nähe zu kolonialapologetischen Thesen. Ähnlich wie Zimmerer lehnt Marx die Verharmlosung der kolonialen Gewaltherrschaft zu einem reinen Machtaushandlungsprozess ab. In seinen Augen „finden sich Vertreter der neuesten fashionablen postmodernen Trends in trauter Eintracht mit Autoren aus dem rechtsradikalen Spektrum wieder“ (S. 144). Allerdings ist Marx‘ Wahrnehmung postkolonialer Positionen hier unangemessen selektiv.

Die Debatte um die so genannte Kontinuitätsthese ist sicher auch mit dieser Veröffentlichung nicht beendet. Unabhängig von dem deutschen Wissenschaftsdiskurs gehörte der Vergleich mit dem Holocaust bereits seit den 1960er-Jahren zum argumentativen Repertoire von Herero-Organisationen. Ebenso kam auch die Auseinandersetzung um andere Genozid-Phänomene des 20. Jahrhunderts (Armenier, Tutsi) nicht ohne die Referenz zum Holocaust aus. Die berechtigten und notwendigen Nuancierungen der deutschen HistorikerInnen werden die namibische geschichtspolitische Rhetorik sicher nicht erschüttern.

Die intensive und fruchtbare Beschäftigung mit der Geschichte und der politischen Gegenwart der namibischen Herero- und Nama-Bevölkerung bringt verständlicherweise eine Affinität für diese Teile der namibischen Gesellschaft mit sich, die sich bei einigen AutorInnen in gewollter und bewusster Parteinahme niederschlägt. Zu wenig berücksichtigt bleiben dabei die befürchteten oder tatsächlichen zentrifugalen Wirkungen ethnisch-partikularer Geschichtspolitik auf den namibischen Nation Building-Prozess. Sicherlich ist es mittlerweile an der Zeit, die Debatte um die namibisch-deutsche Geschichte und Gegenwart um weitere Stimmen und (Mehrheits-)Positionen aus Namibia zu bereichern. Auf politischer Ebene ist daher der Staatsbesuch des namibischen Präsidenten Hifikepunye Pohamba 2004 beachtenswert. Die in mehreren Beiträgen in „Genozid und Gedenken“ angesprochene namibische Landreform, die mit der Berücksichtigung historischer Landenteignungen natürlich die realen Folgen der namibisch-deutschen Geschichte berührt, könnte dafür ein spannender Ausgangspunkt sein.

Anmerkungen:
1 Böhlke-Itzen, Janntje, Kolonialschuld und Entschädigung. Der deutsche Völkermord an den Herero 1904- 1907, Frankfurt am Main 2004.
2 Kundrus, Birthe, Von den Herero zum Holocaust?, in: Mittelweg 36,4 (2005), S. 82-91.
3 Andreas Eckl präsentiert seine problematischen Thesen in der Einführung zu dem von ihm herausgegebenen „S’ist ein übles Land hier“. Zur Historiographie eines umstrittenen Kolonialkrieges, Köln 2005, S. 13-65. Diese Edition von zwei Soldatentagebüchern wurde am 3. Februar 2006 von Stefanie Michels für H-Soz-Kult treffend rezensiert, vgl. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-076>.

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