A. Jakowlew: Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland

Titel
Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland.


Autor(en)
Jakowlew, Alexander N.
Erschienen
Berlin 2004: Berlin Verlag
Anzahl Seiten
362 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felicitas Schwäbe, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland“, die deutsche Übersetzung des 2002 bei Yale University Press erschienen „A Century of Violence in Soviet Russia“, ist weder ein Beitrag zur theoretischen noch zur praktischen Gewaltforschung. Es ist in erster Linie die Anklageschrift eines Insiders und Renegaten, der sich in keine wissenschaftlichen Debatte einbringen 1, sondern vor einem breiteren Publikum die Männer, an die er selbst einst glaubte, als direkte oder indirekte Massenmörder entlarven will. „Ohne die Entbolschewisierung Russlands ist es undenkbar, dass sich die Nation erholt, eine Wiedergeburt erlebt und erneut ihren Platz in der zivilisierten Welt einnimmt. Erst wenn Russland den Bolschewismus abgeschüttelt hat, kann es auf Heilung hoffen." (S. 339)

Im Wissen um die Eckdaten der Biografie Alexander Jakowlews warten die Leser/innen zu Beginn der Lektüre gespannt auf mögliche, interessante Einblicke in die Schaltzentralen des Gewaltstaates. 1923 in eine Bauernfamilie an der Wolga geboren, profitierte Alexander Jakowlew von den Aufstiegsmöglichkeiten des Sowjetstaats und machte nach einem sozialwissenschaftlichen Studium Karriere in der Propagandaabteilung der Kommunistischen Partei (KPdSU). Als Leiter der Propagandaabteilung von 1965 bis 1973, als Botschafter in Kanada und schließlich als enger Vertrauter Gorbatschows agierte Jakowlew über lange Zeit an höchster Stelle des Sowjetstaates.2 Doch die Hoffnung auf Insiderwissen wird enttäuscht: selbst tritt nur sehr sporadisch als handelnde Person in Erscheinung. Die ausführlichste dieser wenigen autobiografischen Stellen erzählt bezeichnenderweise von Jakowlew als beinah-Opfer spätstalinistischer Säuberungen (S. 301-306).

Der Aufbau des ausgedehnten Essays hält, was sein programmatischer Titel verspricht: Jakowlew erzählt die Geschichte der Sowjetunion von ihren Anfängen im Jahre 1917 bis zu ihrem Zerfall 1991 als Gewaltgeschichte. Strukturiert ist diese Erzählung nach verschiedenen Gruppen von Menschen in der Sowjetunion, die in der einen oder anderen Form Opfer des Gewaltstaates wurden. Im ersten dieser „Opferkapitel“ schildert Jakowlew das dem Sowjetstaat immanente Prinzip der Sippenhaft, unter dem Millionen von Kindern zu leiden hatten (S. 63-91). Er beschreibt zweitens, wie sich im Kampf der Bolschewiki gegen die Feinde im eigenen, sozialistischen Lager das komplizierte und in seiner Konsequenz so katastrophale Geflecht von Gewaltideologie und Gewaltpraxis herausbildete (S. 93-138). In weiteren Kapiteln spricht Jakowlew vom Krieg, den Staat und Partei gegen Bauern, Intelligenzija, Repatriierte, ganze Volksgruppen und gegen die Kirchen führten (S. 139-308). Dabei schenkt Jakowlew der Opfergruppe „Intelligenzija“ besondere Aufmerksamkeit (S. 165-235). Ein Viertel seines Essays widmet er den verschiedenen Formen von Repressionen, denen die „schöpferisch“, „technisch“ oder „wissenschaftlich“ tätigen Intellektuellen seit den Tagen Lenins und bis zum Beginn der Ära Gorbatschow ausgesetzt waren.

Zwei Thesen sind es, die den roten Faden der Abhandlung bilden: Erstens beschreibt Jakowlew die Sowjetunion von der Oktoberrevolution bis zum Beginn von Perestroika und Glasnost als „eine zweiköpfige Diktatur“ (S. 107), die bestimmt war durch die permanente Ausübung und Erfahrung von physischer wie struktureller Gewalt. Zweitens sieht Jakowlew diese siebzig Jahre währende Gewaltorgie in der marxistisch-leninistischen Ideologie und ihrer Institutionalisierung durch die Bolschewiki begründet: „Im Wesentlichen war das System verantwortlich, das er [Lenin] aufzubauen begann, denn es stützte sich auf eine Ideologie der Gewalt.“ (S. 55)

Zur Untermauerung dieser beiden Thesen führt Jakowlew überzeugende Belege an. Eine große Anzahl von ausführlich zitierten Quellen aus den staatlichen Archiven – Erlasse, Telegramme und Protokollauszüge aus den Schaltzentren der Macht einerseits, Bittschreiben oder Erinnerungen von Opfern andererseits – vermittelt einen nachhaltigen Eindruck von der Sowjetunion als „siebzigjährige[m] Hexenprozess“ (S. 57). Im Kapitel zum Antisemitismus (S. 289-308) etwa zitiert Jakowlew aus einem Bericht der Sonderkommission des Parteikomitees der Moskauer Staatsuniversität. Diese Sonderkommission war im Rahmen der Kampagne gegen den „wurzellosen Kosmopolitismus“ in den letzten Jahren des Stalinismus gebildet worden und hatte eines solchen Verbrechens verdächtige Personen im Universitätsbetrieb ausfindig zu machen. Fünf Mitglieder des Physikalischen Instituts werden in diesem Kommissionsbericht mit Namen und Begründung für ihre Verdächtigung genannt. An dritter Stelle ist dort nichts weiter zu lesen als: „c) Lehrstuhlinhaber Professor G. B. Spiwak hat eine in Palästina lebende Schwester“ (S. 292).

Die eindrucksvollen Quellen machen allerdings nur einen kleinen Teil der Abhandlung aus. Über weite Strecken werden Aneinanderreihungen von Daten, Institutionen und Namen referiert. Insbesondere in den Abschnitten zur Intelligenzija nennt Jakowlew Hunderte von Personen aus Kultur und Wissenschaft, die im Namen der Sowjetmacht ermordet, deportiert, ausgewiesen oder für psychisch krank erklärt wurden (S. 190-204). Die bisweilen ermüdende Lektüre wird darüber hinaus immer wieder durch moralisch-prophetische Ergüsse erschwert: Warnungen und Vorgaben, die Jakowlew der heutigen russischen Gesellschaft mit auf den Weg geben will. „Wie kurz unser Gedächtnis ist“, schreibt Jakowlew etwa im Kontext von Entkulakisierung und Hungersnot zu Beginn der 1930er-Jahre, „wo wir doch den heutigen Agrarbaronen [...] gestatten, das Feudalsystem in den Dörfern aufrechtzuerhalten. Die Sklavenmentalität ist so tief in unserem Bewusstsein verwurzelt, dass viele der Bauern [...] es ablehnen, das Land zu bewirtschaften. Vom Alkohol verwirrt, sind sie nicht in der Lage, einen unabhängigen Haushalt zu führen oder von den Früchten ihrer Arbeit zu leben. Und den Baronen könnte es nicht gleichgültiger sein. Wir beziehen Getreide, Fleisch und Butter aus dem Ausland, doch hier in der Heimat verteilen wir Billionen von Rubel in Form von Subventionen an die Schmarotzer der Agrarbürokratie“ (S. 160).

Es bleibt unklar, an welches Publikum der Berlin Verlag bei der Herausgabe dieses Buches dachte: Es enthält keine neuen Erkenntnisse oder Fragestellungen, und von der Verantwortung der Bolschewiki/ KPdSU für Millionen Opfer muss hoffentlich niemand mehr überzeugt werden. Auch einem breiteren, mit der wissenschaftlichen Debatte nicht vertrauten, Publikum kann „Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland“ aufgrund des befremdlichen Tons und der Aneinanderreihungen von Namen und Institutionen nicht unbedingt empfohlen werden.

Anmerkungen:
1 Alexander Jakowlew bezieht sich ausschließlich auf Primärquellen. Der Fußnotenapparat enthält weder westliche noch russisch-sowjetische Forschungen zur Gewalttheorie oder zur Gewalt in Russland bzw. in der Sowjetunion.

2 In den letzten anderthalb Jahrzehnten seines Lebens und nach dem Ausschluss aus der Partei im Jahre 1991 konzentrierte sich Alexander Jakowlew auf seine Arbeit als Vorsitzender der „Kommission für die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen“ sowie auf eine historisch-politische Analyse des Experiments Sowjetunion in Vorträgen und Essays, zum Beispiel: Jakowlew, Alexander; Fitzpatrick, Catherine A., The Fate of Marxism in Russia, Yale 1993.

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