T. Lorenz: Von Birnbaum nach Miedzychod

Cover
Titel
Von Birnbaum nach Miedzychod. Bürgergesellschaft und Nationalitätenkampf in Großpolen bis zum Zweiten Weltkrieg


Autor(en)
Lorenz, Torsten
Reihe
Frankfurter Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas 10
Anzahl Seiten
441 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Dyroff, Europa Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Email:

„Von Birnbaum nach Miedzychód“ hat Torsten Lorenz seine Dissertation betitelt. Er unternimmt darin jedoch keinesfalls eine Reise, sondern beschreibt, wie die im westlichen Großpolen gelegene Stadt Birnbaum (poln. Miedzychód) und der sie umgebende Landkreis sich im Zeitraum von 1793 bis 1945 gewandelt haben. Er versucht dabei nach eigener Aussage eine mikrohistorische Fallstudie vorzulegen, die den Alltag dreier Nationalitäten betrachtet, ohne den Kontext der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte aus den Augen zu verlieren. Gegenüber dem Großteil der bisherigen deutschen und polnischen Forschung ist sein integrierender Ansatz hervorzuheben, der versucht, die Region nicht durch das Prisma „Nation“ zu erfassen. Er verfolgt damit einen ähnlichen Ansatz wie Matthias Niendorf 1, nur dass sich Lorenz bewusst von diesem dadurch absetzt, dass er mit seiner Untersuchung zeitlich früher einsetzt. Er begründet dies damit, dass sich seiner Meinung nach der Konflikt des deutschen und polnischen Nationalismus bereits um 1850 abzeichnete und spätestens 1871 offensichtlich wurde (S. 22). In diesem Zusammenhang erscheint es nur konsequent, dass Lorenz den Begriff „Nationalitätenkampf“ in den Untertitel seines Buches aufgenommen hat, obwohl die Lektüre einen anderen Eindruck vermittelt: Die städtische Bürgergesellschaft wurde mehrheitlich nicht durch den Nationalitätengegensatz geprägt. Sie verhielt sich in weiten Teilen pragmatisch, da das eigene wirtschaftliche Wohlergehen von einem intakten Nachbarschaftsverhältnis abhing. Auch in der ländlichen Umgebung war das nationale Moment keineswegs dominant. Lorenz’ Ausführungen sind daher ein Beleg dafür, dass mitnichten alle lokalen Entwicklungen analog zu den Erwartungen einer nationalen Meistererzählung verliefen.

Beispielsweise führte selbst der Aufbruch des konfessionellen Gegensatzes zwischen den überwiegend evangelischen Deutschen und den fast ausschließlich katholischen Polen im Kulturkampf nicht automatisch zur nationalen Trennung, was am Beispiel eines polnischen Staatspfarrers sichtbar wird, der anfangs noch von seiner mehrheitlich polnischen Pfarrgemeinde unterstützt wurde (S. 127f). Der Kulturkampf machte dennoch den sich verschärfenden nationalen Konflikt zwischen dem preußisch-deutschen Staat und seinen polnischsprachigen Bürgern vor Ort greifbar und leistete somit einen wesentlichen Beitrag zur Trennung zwischen Deutschen und Polen, was Lorenz’ eingangs erwähnte These teilweise bestätigt. Trotz allem arbeitete der Großteil der polnischsprachigen Bevölkerung weiterhin aktiv in der lokalen Bürgergesellschaft mit, worauf zahlreiche polnische Innungsmitglieder oder auch die Teilnahme des polnischen Handwerkervereins an der Feier des 100. Geburtstag Wilhelms I. im Jahr 1897 verweisen (S. 196). Die Grenzen der Trennung verliefen jedoch nicht immer zwischen deutsch und polnisch, sondern auch zwischen christlich und jüdisch, was in Birnbaum zur vorübergehenden Popularität des antisemitischen Christlich-Sozialen Vereins während der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts führte. Die Bürgergesellschaft schaffte es jedoch meist von sich aus das Ausbrechen offener Konflikte zu verhindern, da dies dem Wohl aller geschadet hätte. Das Alltagshandeln des Großteils der Bevölkerung wurde daher mehr von wirtschaftlichem Pragmatismus denn von der Verfolgung nationaler Interessen bestimmt.

Dies setzte sich auch nach dem staatlichen Übergang des Gebiets an Polen 1920 fort. Lorenz führt zahlreiche Beispiele auf, die der staatlichen propagierten Tendenz einer schnellst möglichen Repolonisierung entgegenwirkten. Beispielsweise sei hier auf den Antritt einer sich aus Polen und Deutschen zusammensetzenden bürgerlichen Liste zu den Kommunalwahlen 1921 verwiesen (S. 257). Das Miteinander im ländlichen Raum, das noch in den 1930er-Jahren des 20. Jahrhunderts beträchtliche Ausmaße annahm, stellt eindrucksvoll eine der zahlreichen Abbildungen dar, die zeigt, wie die polnischen Arbeiter des deutschen Gutes Muchocin das Erntedankfest in polnischer Nationaltracht feierten (S. 243). Allgemein ist positiv anzumerken, dass zahlreiche Tabellen und Grafiken den Text veranschaulichen. Lediglich das Fehlen einer Karte des Kreises Birnbaum sowie einer Übersichtskarte, die eine Verortung Birnbaums im deutsch-polnischen Kontaktbereich ermöglicht, ist zu bedauern.

Am Ende geht der Autor kurz auf das endgültige Zerbrechen der deutsch-polnisch-jüdischen Nachbarschaft in den Jahren 1939-1945 ein, wobei er für diesen Teil der Geschichte wesentlich weniger Quellen heranzieht als für die Schilderung des Wandels der demografischen und sozioökonomischen Strukturen im vorhergehenden Zeitraum. Dies erscheint jedoch im Hinblick auf die relativ gute Aufarbeitung gerade dieses Zeitraums in der großpolnischen Regionalgeschichtsschreibung legitim. Ansonsten stellen die zahlreich eingesehenen Archivmaterialien sowie die Lokalpresse eine solide Grundlage für die Ausführungen von Lorenz dar, der damit einen überzeugenden Nachweis für den Wert chronologischer und quellenintensiver regionalhistorischer Forschung liefert. Lediglich an einigen Stellen hätte er seine Quellen indes stärker hinterfragen müssen. Gerade sein einleitendes Zitat eines „großpolnischen Landsmanns“, das Lorenz als Beweis dafür sieht, dass für Teile der Bevölkerung Nationalität nicht die führende Kategorie war, könnte man auch anders lesen. Da es aus einem Antrag auf Rücknahme der Option für Deutschland im Jahr 1923 stammt, könnte es sich auch um eine taktische Aussage handeln, um dies zu begründen.

Anmerkung:
1 Niendorf, Matthias, Minderheiten an der Grenze. Deutsche und Polen in den Kreisen Flatow (Zlotów) und Zempelburg (Skpolno Krajenskie) 1900-1939, Wiesbaden 1997.

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