D. Elm v. d. Osten (Hrsg.): Texte als Medium und Reflexion von Religion

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Titel
Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich.


Herausgeber
Elm von der Osten, Dorothee; Rüpke, Jörg; Waldner, Katharina
Reihe
Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 14
Erschienen
Stuttgart 2006: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Losehand, Oldenburg

Unsere Wahrnehmung von Texten mit religiösem Inhalt wird nolens volens vom Selbstverständnis der in unserem Kulturkreis vorherrschenden Offenbarungsreligionen beeinflusst. Wo verschriftlichte und kanonisierte Offenbarungen mit einer – durch ihre postulierte Abgeschlossenheit bedingten – Endgültigkeit den religiösen Überzeugungen zugrunde liegen, wird ein diskursiver und evolutionärer Charakter verschriftlichter religiöser Vorstellungen in den Fragen, die die Leser an die Texte richten, ausgeblendet, weil dieser Charakter als nicht gegeben vorausgesetzt wird.

Entsprechend werden religiöse Schriften vornehmlich als Quellen für eine bestimmte, im Text fixierte religiöse Vorstellung (oder Lehre) herangezogen, sei es aus der zurückhaltenden Distanz des Beobachters oder des an der Wahrheit interessierten Gläubigen. Der Wissenschaftler als intellektueller Jäger und Sammler nimmt – so vermitteln es die sekundären Darstellungen über Religion – oftmals überhaupt nicht oder nur zu wenig den dynamischen und damit offenen Charakter von Texten mit religiösem Inhalt wahr, sondern beschränkt sich auf die enzyklopädische Archivierung von gegebenen Varianten. Wo antiker Diskurs über Religion nur als im Mythos gebrochener Logos, als Ringen um die vera philosophia verstanden wird, kommt der Gedanke beispielsweise an ein textinhärentes Kerygma nicht auf; zu dominierend ist die Trennung von (prophetischer und monotheistischer) Schriftreligion mit ihrem zwar dogmatisch erstarrten Textkorpus, aber einer durch den prophetischen Hintergrund und einem daraus folgenden missionarischen Impetus des Heilsangebotes unausweichlichen Dynamik auf der einen Seite und einem sich in seinem Inhalt wandelnden und entwickelnden, in vielen Erscheinungsformen auftretenden Polytheismus auf der anderen Seite, der fern davon scheint, seine Religion in Texten zu transportieren oder darüber – außer in der Philosophie – zu reflektieren.

Es ist Aufgabe und Pflicht jeder Generation, wenigstes probehalber, die Standpunkte und damit die Blickachsen und -richtungen der Eltern zu verlassen und die Welt und die Dinge neu und „anders“ zu betrachten; neue Sichtweisen bekommt man nicht durch vererbte Brillen. Wissensdurstige Forscher sind also weniger Archivare, mehr Liebhaber, die ihre Objekte immer wieder zur Hand nehmen, um neue Facetten zu entdecken, um mehr von ihnen und über sie zu erfahren. In den auf Quellentexten basierenden Wissenschaften nennt man dies Verfahren relecture. Auf dem Teilkolloquium, das 2003 in Erfurt im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Römische Reichsreligion und Provinzialreligion: Globalisierungs- und Regionalisierungsprozesse in der antiken Religionsgeschichte“ stattfand und dessen Ertrag der vorliegende Band ist, wurde genau dies in verschiedenen Beiträgen unternommen. Die Ordnung der Aufsätze erfolgte mehr oder minder anhand der Chronologie ihrer Inhalte.

Obwohl religiöse Fundamentalisten oder Traditionalisten die Unwandelbarkeit ihrer Auffassungen für den idealen und wesensgemäßen Zustand von Religion zum Ausdruck bringen, ist „Bewegung“ in den Religionen auf verschiedenen Ebenen die Regel. Die ersten beiden Beiträge, von Alessandro Barchiesi (Mobilità e religione nell’Eneide. Diaspora, culto, spazio, identità locali) und Hubert Cancik (Götter einführen: ein myth-historisches Modell für die Diffusion von Religion in Vergils Aeneis) nehmen das augusteische „Staatsepos“ Vergils, die Aeneis, in den Blick und zeigen an diesem die augusteische Epoche vorbildenden und für sie vorbildhaften mythischen Modell die Bewegung als Mobilität von und mit Religion. „Den Leser dort abholen, wo er steht“, kann implizit ergänzt werden mit „und ihn dorthin bringen, wohin der Autor will“ oder aber „ihn an seinem Standort bestätigen“. In „Der triumphierende Leser: Die Siegesfeier von Amphipolis in der Geschichtserzählung des Livius“ erörtert Ulrike Egelhaaf-Gaiser das „narrative Siegesmonument“ im livianischen Geschichtswerk und verdeutlicht seine Bedeutung für die römische Ordnungsmacht und ihren Vollstrecker in Makedonien 168 v.Chr., Aemilius Paullus. Die alte politische und sakrale Landkarte wird bei Livius zum Palimpsest, auf dem er die neue – römische – geographische und mentale Weltkarte zeichnet.

Schriftlichkeit von Religion gewinnt im Christentum eine besondere Qualität, nicht zuletzt durch die Identifizierung des Erlösers mit dem Logos, dem Wort, das seit Anbeginn bei Gott ist. Der Erkenntnis des Wortes Gottes und dem Verständnis der Heiligen Schriften kommt dabei neben der Überlieferung ein hoher und höchster Rang zu. Die Schriftwerdung des Zweiten („Neuen“) Testaments vor dem Hintergrund der historischen und geistigen Verwurzelung der frühen Christen in ihren „älteren Brüdern“ und ihrem Leben aus und mit der hellenistischen Kultur ist Thema der folgenden Beiträge von Christoph Auffarth (Euer Leib sei der Tempel des Herrn! Religiöse Sprache bei Paulus) und Ian H. Henderson (Early Christianity, Textual Representation and Ritual Extension). Auffahrt schlägt vor, die religiöse Sprache des Apostels nicht als Abgrenzung des eifrigen Konvertiten vom Judentum und seinem Kult, sondern als Affirmation bzw. Übernahme des in zeitgenössischen Diskursen hellenistisch Gebildeten zu verstehen. Henderson regt an, die Entwicklung und die Varianz der frühen christlichen Texte nicht als Zeichen theologischer Auseinandersetzung, sondern als Beleg für die prozesshafte und lokal flexible Verschriftlichung vom Handeln mit dem Heiligen zu interpretieren. Die Ausfaltungen und Bedürfnisse ritualisierten Handelns finden ihre zweite Form im ritualisierten Text.

Die Gerechtigkeit der Götter bzw. des Gottes gehört zu den großen Themen der europäischen Religionen, sei es der pagane Polytheismus oder der jüdische und christliche Monotheismus. Die Theodizee ist neben anderem einer jener Prüfsteine des Glaubens bzw. der Frömmigkeit eines jeden Einzelnen. Zweifel am gerechten Eingreifen der Götter werden schon in der Antike als Auslöser für Zweifel an den Göttern und Religion überhaupt bis hin zur Ablehnung gesehen (vgl. Plutarchs Schrift de sera numinis vindicata). Katharina Waldner zeichnet in ihrem Beitrag „Die poetische Gerechtigkeit der Götter. Recht und Religion im griechischen Roman“ das Modell der göttlichen Gerechtigkeit als Moment in den Romanen des Chariton von Aphrodisias (Kallirhoë) aus dem 1. Jahrhundert sowie des Xenophon (Ephesiaka) und Achilles Tatios (Leukippe und Kleitophon) aus dem 2. Jahrhundert nach. Die Übersetzung, also die religiös-theologische Aussage des literarischen Kunstgriffs der Auflösung tragischer und komödiantischer Irrungen und Wirrungen durch die Figur eines tatsächlichen (ex machina auftretenden) deus im Diesseits gilt, das sei relativierend angemerkt, auch heute noch im profanen Roman wie auch in den eschatologischen Religionen. Dort wird die Hoffnung auf Gerechtigkeit aber auf das Jenseits verlegt.

Mit drei – auch heute noch aktuellen – Ebenen religiösen Diskurses in der Zeit der Zweiten Sophistik setzen sich die folgenden Beiträge auseinander: „Religion, Wissenschaftlichkeit und griechische Identität im römischen Kaiserreich“ von Simon Goldhill, „Die Inszenierung des Betruges und seiner Entlarvung. Divination und ihre Kritiker in Lukians Schrift ‚Alexandros oder der Lügenprophet‘“ von Dorothee Elm von der Osten und „Vom Nutzen und Nachteil der Mantik. Orakel im Medium von Handlung und Literatur in der Zeit der Zweiten Sophistik“ von Andreas Bendlin. Die intellektuelle, philosophisch-theologische Beschäftigung mit Religion, ihre unausweichliche Kritik an der Leichtgläubigkeit und dem Missbrauch in der Volksfrömmigkeit sowie die Präsentation eines alternativen Heilsweges werden exemplarisch vermittelt. Von besonderem Reiz ist dabei jene von Andreas Bendlin ins Spiel gebrachte Inschrift eines Diogenes in Oinoanda (S. 161f.). Sie lädt – an prominentester und pointiertester Stelle – alle Menschen ein, sich des Heil(s)mittels der epikureischen Philosophie zu bedienen, als richtige Alternative zu den bisher beschrittenen falschen Wegen. Absichtsvoll an der Wand einer konkurrierenden Philosophenschule auf der alten Agora angebracht, ist sie ein Zeugnis religiös-theologisch-philosophischer Propaganda, der Konkurrenz und des ideologischen Konflikts verschiedener Heils-Auffassungen.

Konkurrenz und Konflikt zwischen monotheistischer und polytheistischer Religion, wie sie sich im Schrifttum von Juden und Christen niederschlagen, werden von Jörg Rüpke („Literarische Darstellungen römischer Religion in christlicher Apologetik. Universal- und Lokalreligion bei Tertullian und Minucius Felix“) und in einem weiteren Beitrag von Hubert Cancik („Wahrnehmung, Vermeidung, Entheiligung, Aneignung: Fremde Religionen bei Tertullian, im Talmud (AZ) und bei Eusebius“) behandelt. Die große Epoche religiöser Vielfalt, Lebendigkeit und Veränderung schließt – zusammen mit dem Tagungsband – Rudolf Haensch mit seinem Aufsatz zu „Religion und Kulte im juristischen Schrifttum und in rechtsverbindlichen Verlautbarungen der Hohen Kaiserzeit“.

Bereits in anderen Rezensionen hatte ich eine Lanze für die inneren und äußeren Vorteile von Sammelpublikationen gebrochen. Der Spezialisierung und Atomisierung von Forschungsthemen, die zu dem berüchtigten Ergebnis führt, „immer mehr über immer weniger“ zu wissen, und dem Versuch, zur Beschreibung der (historischen) Wirklichkeit Modelle zu entwickeln, lassen sich mit einer solchen facettenreichen und diversifizierenden Form der Präsentation begegnen. In der Zusammenschau mit anderen, zeitlich und örtlich auseinander liegenden Phänomenen erlangen wir wenigstens eine Ahnung von dem großen Bild, das wir „die Geschichte der Menschheit“ nennen und zu der wir jeder ein Steinchen hinzuzulegen versuchen. Aufgrund seiner gebotenen umfassenden Schau kann der Band ohne weiteres auch Interessierten der ersten Semester verschiedener Fächer empfohlen werden.

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