M. Neugebauer-Wölk: Kosmologische Religiosität am Ursprung der Neuzeit

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Titel
Kosmologische Religiosität am Ursprung der Neuzeit 1400–1450.


Autor(en)
Neugebauer-Wölk, Monika
Erschienen
Paderborn 2019: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
838 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Zander, Faculté de Théologie, Université de Fribourg

Monika Neugebauer-Wölk, emeritierte Professorin für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Halle und dort zeitweilig Direktorin des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung, stellt eine große Frage: Wo liegen die Wurzeln dessen, was wir heute Esoterik nennen? Und sie hat eine große Antwort: in der Rezeption antiker Literatur im frühen 15. Jahrhundert. Sie war auf diesen Komplex im Rahmen ihrer Forschungen zur Freimaurerei gestoßen, als sie die ausgetretenen Pfade der Aufklärungsforschung verließ: Die Meistererzählung der Freimaurerei als Avantgarde von Rationalisierung, Säkularisierung und Religionskritik konnte so nicht stimmen, denn sie traf auf die esoterische Freimaurerei. Ein Ergebnis dieser Forschungen waren drei Bände zu „Esoterik und Moderne“1, ein Markstein der Esoterikforschung im deutschsprachigen Raum.

Nun also, nach der Emeritierung, das Opus magnum zu den Wurzeln der Esoterik, das ich vornehmlich hinsichtlich der Perspektiven einer Neuausrichtung der europäischen Ideen- und Religionsgeschichte bespreche. Das Werk beinhaltet eine problemorientierte Einleitung in den Forschungskontext, ein Resümee und dazwischen das 700-seitige Hauptstück. Hier finden sich mit intimer Kenntnis von Einzelheiten unter anderem Informationen zur Rezeption griechischer Literatur, insbesondere der (neu-)platonischen, sodann zu den Konsequenzen der Migration byzantinischer Intellektueller in den Westen, nicht zuletzt zu Konzilien als Umschlagplätzen devianter Ideen. Im Zentrum steht der Philosoph Georgios Gemistos „Plethon“ (um 1355/1360–1452), und an seiner Seite Kardinal Bessarion (1399/1408–1472). Plethon vertrete eine „kosmologische Religiosität“, für deren Konzept sie auf Jan Assmanns „Kosmotheismus“ zurückgreift (S. 21–24) und in dessen Kern sie die Vorstellung eines beseelten, göttlichen Kosmos und eines Menschen, der dieses Göttliche durch sein göttliches Inneres erkennen könne, festmacht. Dahinter steht die Rezeption paganer, neuplatonischer Vorstellungen. Mit diesem Komplex bildeten Plethon und seine Vorgeschichte den entscheidenden „Auftakt“ (S. 20) einer religiösen Alternative zum etablierten Christentum mit seiner Schöpfungs- und relationalen Erlösungstheologie. In ihren Überlegungen findet sich eine Vielzahl anregender Thesen zu Detailfragen, deren Diskussion Fachleuten überlassen bleiben muss: etwa die Datierung von Plethons polytheistischem Paganismus schon in seine frühen Jahre (aufgrund einer Frühdatierung von dessen Gesetzen, Kap. 28) oder, höchst spannend, die Entwicklung von zugehörigen Ritualen, deren Wurzeln sie in nigromantischen Zeremonien verortet (Kap. 2f.).

Forschungshistorisch integriert sie sich in die Erforschung der „Esoterik“, ohne hier jedoch einen „Leitbegriff“ zu suchen, denn die „Syntheseleistung hin zur Esoterik als Gesamtkonzept“, ihr „Summencharakter“, fehle im 15. Jahrhundert noch (S. 20). Eine derartige Festlegung ist angesichts der extremen Probleme eines Rücktransportes von neuzeitlichen Begriffen in ältere Zeiten angemessen. Ihre Achse ist ein antiker Paganismus, den 2012 auch Wouter Hanegraaff in seinem momentan maßgeblichen Buch zur Konzeptionalisierungsgeschichte westlicher Esoterik präsentiert hatte.2 Punktuell diskutiert sie weitere Elemente dieser alternativen Tradition, etwa einen Polytheismus Leonardo Brunis (S. 385f.). Mit diesem Komplex identifiziert sie meines Erachtens zu Recht zentrale Elemente, die für eine alternative religiöse Tradition im Okzident in Betracht zu ziehen sind. Eine (polythetische) Zusammenstellung möglicher Merkmale einer solchen „Parallelreligiosität“ (S. 376) wäre hilfreich gewesen. Die Option, dafür auf einen Begriff wie Hermetik/Hermetismus anstelle von Esoterik zurückzugreifen, der sich von den Quellen her angeboten hätte, reflektiert sie nicht systematisch. Auch eine intensive Diskussion der Übersetzungsprobleme ihrer Quellen, insbesondere der griechischen, hätte sich angeboten.

Auf die mit großer Vehemenz geführte Auseinandersetzung in der Esoterikforschung, ob und welche Inhalte eines Esoterikbegriffs möglich sind, und um die diskursive Konstruktion von Esoterik geht Neugebauer-Wölk nicht systematisch ein – das aber wäre für ihre Einbindung in die aktuellen Debatten hilfreich gewesen. Schwierig ist auch, dass sie unentschieden bleibt, wie man derartige Kulturkontakte analysieren könnte. Sie hebt „Dechristianisierung und Rechristianisierung als ordnende Kontextbildung“ heraus (S. 777; siehe auch S. 29–39), nutzt Termini wie „Überschreibung“ (S. 44), „Parallelreligiosität“ (S. 376) oder „Hybridreligion“ (S. 777), überraschend oft fällt der Begriff einer „Okkupation“ des Christentums (S. 44, 149f., 255, 262, 751ff.), aber eine systematische Reflexion fehlt. Dies ist auch insofern misslich, als sie mit normativen Annahmen arbeitet: Plethons Chaldäische Orakel seien eine „Grundlage autonomer Religiosität“ (S. 432), es gehe um „selbstbestimmte“ Aneignung (S. 750), „Freiräume“ (S. 758), „vernunftbezogene Argumentation“ anstelle von „Offenbarung und Glaube“ (S. 27) oder um die Abwehr religionspolitischer „Diktate“ (Kapitel 39 und öfter). Vor diesem Hintergrund wären Vereindeutigungen wie – nur als Beispiel – ihre Festlegung, dass Bruni außerhalb des Christentums zu situieren sei (S. 378), zu diskutieren, etwa im Blick auf poröse Grenzen/boundary work oder eine hybride Identität.

Nach der Lektüre dieses überreichen Fundus bleibt eine Frage im Raum: Was geschah zwischen 1450 und dem 19. Jahrhundert, als aus dieser intellektuellen Tradition das entstand, was das Etikett Esoterik erhielt? Um sehr klar und fair zu bleiben: Das war nicht die Frage dieses Buches. Neugebauer-Wölk legt allerdings Fährten aus, denen nachzugehen wäre, etwa zu Vermittlungen über den Cusaner oder, weniger gut erforscht, über Bessarion und seinen Schülerkreis. In einer älteren Veröffentlichung hatte sie schon die Frage aufgeworfen, ob die Genese der Hexenverfolgung im Kontext der Rezeption neuplatonischer Dämonologie zu lesen sei (mit teilweise durchaus kritischen Reaktionen von Fachkolleg/innen).3 Sie selbst hat davon gesprochen, noch die Folgen „esoterischer“ Strömungen auf die Politik, etwa in der Freimaurerei, zu erforschen. Ich hoffe, dass sie dieses Projekt nicht aus den Augen verloren hat.

Anmerkungen:
1 Monika Neugebauer-Wölk u.a. (Hrsg.), Aufklärung und Esoterik, Bd. 1, Hamburg 1999; Bd. 2, Tübingen 2008; Bd. 3, Berlin 2013.
2 Wouter Jacobus Hanegraaff, Esotericism and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, Cambridge 2012, S. 369.
3 Monika Neugebauer-Wölk, Wege aus dem Dschungel. Betrachtungen zur Hexenforschung, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 316–347.

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