A. Schwab: Fremde Religion in Herodots „Historien“

Cover
Titel
Fremde Religion in Herodots „Historien“. Religiöse Mehrdimensionalität bei Persern und Ägyptern


Autor(en)
Schwab, Andreas
Reihe
Hermes – Zeitschrift für klassische Philologie 118
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marie Lemser, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Das ethnographische Denken Herodots ist weiterhin ein wichtiger Gegenstand altertumswissenschaftlicher Forschung.1 Darunter fällt auch seine Betrachtung fremder Religion, der sich Andreas Schwab in seiner Münchener gräzistischen Habilitationsschrift widmet.

Der Autor nutzt die Einleitung, um seine Studie innerhalb der Herodot-Forschung zu verorten (S. 17–28): Pointiert bespricht er Harrison (2000), Mikalson (2003), Mora (1985), Chiai (2013) sowie Burkert (1990) und resümiert, dass diese Autoren eher eine „substanzialistische Definition […] von ‚Religion‘ voraussetzen“ (S. 28).2 Schwab selbst grenzt sich von einem essentialistischen Verständnis ab und legt seiner Untersuchung einen „mehrdimensionalen Ansatz“ zugrunde, der sich an Ausführungen des Religionswissenschaftlers Hock (2002) orientiert: Religion wird hier als ein Bündel von Symbolen und Praktiken verstanden, die sich mit anderen Bereichen wie „Raum“, „Zeit“, dem „Sozialen“ oder dem „Sinnlichen“ überlappen.3 Durch eine Analyse semantischer „religiöser Felder“ (S. 30) möchte Schwab diejenigen Textstellen ausmachen, die seinem Ansatz entsprechend Religiöses enthalten – was den Vorteil habe, dass er, verglichen mit den genannten Gelehrten, mehr und andere Passagen in sein Untersuchungskorpus einbeziehe. Die gesamte Untersuchung konzentriert sich dabei auf die herodoteischen Beschreibungen Ägyptens.

Im zweiten Kapitel wird die zuvor dargelegte Methode nun probeweise auf die Erzählung über den ägyptischen König Mykerinos (Hdt. 2,129–132) sowie die Passage über die Nomoi der Perser (Hdt. 1,131–140) angewandt. Während Schwab am ersten Beispiel aufzeigt, dass Religion auch außerhalb der Betrachtung der ägyptischen Nomoi thematisiert wird (nämlich innerhalb des „historischen Teils“ des Ägyptenbuchs, Hdt. 2,99–182), führt er den Perserlogos an, um Religion gerade als Bestandteil von Nomoi-Darstellungen nachzuweisen – sein Fazit, dass Herodot „um die ambivalenten menschlichen Deutungen von Religion weiß“ (S. 57), ist kaum überraschend. Die folgenden Kapitel widmen sich je einem der vier Aspekte des Religiösen: Soziales, Raum, Zeit und Sinne. Kapitel III „Religion im Sozialen“ behandelt das „Eingebettetsein“ (S. 87) der Religion in die ägyptische Gesellschaft. Schwab zufolge ermögliche der mehrdimensionale Ansatz, hier wichtige ägyptische Phänomene wie die Expertise der Priesterschaft, die Festhandlungen in Bubastis und Papremis sowie die berühmte Mumifizierung überzeugend in Hinblick auf ihre religiöse Dimension zu analysieren.

Kapitel IV („Religion im Raum“) nimmt das Verhältnis zwischen Raum, Umwelt und Religion in den Blick: Religion und Raum, so Schwab, stehen in Wechselwirkung miteinander – religiöse Monumente prägen den natürlichen Raum; andererseits beeinflussen Aspekte von diesem, beispielsweise der Nil oder die Tiere Ägyptens, die religiösen Praktiken. Ferner weist der Autor auf die „religionsgeographischen Lokalisierungen“ (S. 138) hin: Herodot erläutert, wie an verschiedenen Orten unterschiedliche Gottheiten auf verschiedene Arten verehrt wurden. Im Kontext dieses Kapitels stellt Schwab, Thomas (2000) folgend, in Frage, ob Herodot als „Umweltdeterminist“ bezeichnet werden könne (S. 136–138; 151).4 Er argumentiert, dass Hdt. 2,35–37 über den Zusammenhang zwischen „Himmel“ und „Fluss“ Ägyptens und den dortigen Sitten nicht notwendigerweise kausal verstanden werden müsse. Dies mag auf rein sprachlicher Ebene überzeugen, allerdings lässt die Lektüre der Historien in ihrer Gesamtheit durchaus den Schluss zu, dass Herodot eine Kausalverbindung zwischen den geographischen Bedingungen eines Lebensraumes und den Sitten von dessen Bewohnern herstellte.5 Leider definiert Schwab auch nicht, was genau er unter „Umweltdeterminismus“ versteht.

Im Kapitel V zur „Religion in der Zeit“ arbeitet Schwab den Kontrast zwischen der griechischen und der ägyptischen Vorstellung von Zeit heraus. Zum Thema Zeit, so das Fazit, konsultiert Herodot vorrangig ägyptische Innenperspektiven; verschiedene Herrscher wirken als Initiatoren bzw. Katalysatoren religiösen Wandels. Kapitel VI, „Religion und Sinne“, sucht in Herodots Ägyptenlogos nach Niederschlägen von „Gefühle[n], Stimmungen und menschliche[m] Erleben“, die im Zusammenhang mit Religion stehen (S. 195), kurz: nach religionsästhetischen Phänomenen. Diese Perspektive des Halikarnassiers sei nicht stark ausgeprägt. Beschrieben werden jedoch religiöse Kunstwerke und sakrale Räume. Zum herodoteischen Traumglauben bespricht Schwab ausführlich die Position, die Frisch (1968) vertritt.6

Das letzte empirische Kapitel „Religion in Interaktion“ (VII.) widmet sich dem Kontakt zwischen verschiedenen Religionen in Form von Begegnungen ihrer Vertreter. Schwab beabsichtigt in diesem Teil zudem, die Frage nach der „komparativen Dimension“ (S. 234) der herodoteischen Darstellung fremder Religion zu beleuchten. Neben der Passage, in der Herodot den Ursprung der Kolcher auf die expansiven Tätigkeiten des Ägypters Sesostris zurückführt (Hdt. 2,102–103), dienen ihm vor allem die Interaktionen des Kambyses mit den Ägyptern als Beispiele, so dessen Misshandlung des Leichnams des Amasis in Sais (Hdt. 3,16), der Frevel am Apis in Memphis (3,27–29) und die Zerstörung ägyptischer Gräber und Tempel (3,37). Die Analyse führe zu dem Schluss, dass Herodot mit seiner Darstellung zum Vergleichen anregen wollte. Schwab betont insbesondere Herodots Selbstverständnis als Kultur- und Religionsrelativist. Auch die hierfür konsultierten Textstellen dürften eher nicht zu „den bisher nur wenig erforschten Passagen“ (S. 276) gehören, deren Analyse Schwab im Ausblick als Verdienst seiner Untersuchung hervorhebt.7

Schwabs Studie ist klar strukturiert und dadurch leserfreundlich. Wichtige Quellenstellen sind auf Griechisch und in der Übersetzung von Nesselrath (2017) abgedruckt, entscheidende Formulierungen hervorgehoben.8 Dies macht die Argumentation auch für diejenigen Leser nachvollziehbar, die mit der Materie weniger vertraut sind. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf dem Ägyptenlogos, dessen Verständnis sicherlich gefördert wird. Die im Titel geweckten Erwartungen hinsichtlich der Passagen über Religion bei den Persern werden allerdings nur bedingt erfüllt, da man die Episoden über Kambyses ebenfalls unter Ägypten fassen könnte. Weiterhin bleibt fraglich, ob der „mehrdimensionale Ansatz“ tatsächlich so zahlreiche neue Erkenntnisse ans Licht bringt, wie in Einleitung und Fazit dargestellt. Sicherlich eignet er sich, um die Differenzierungen innerhalb des komplexen ägyptischen religiösen Systems zu verdeutlichen. Unklar blieb der Rezensentin hierbei jedoch, ob dies nicht auch anderweitig bewerkstelligt werden kann, z.B. indem man mit Assmann (z.B. 1980) davon ausgeht, dass die religiöse Sphäre in Ägypten omnipräsent war und Herodot dies erkannte.9 Die Tatsache, dass Schwab seinen gräzistischen Blickwinkel durch andere fachliche Perspektiven (z.B. Religionswissenschaft, Soziologie, Anthropologie) bereichert, ohne jedoch die Quellenbasis aus den Augen zu verlieren, macht das Buch dennoch zu einer lesenswerten Neuerscheinung in der Forschungslandschaft zu Herodot.

Anmerkungen:

1 Das zeigen Neuerscheinungen wie Raimund Schulz, Als Odysseus staunte. Die griechische Sicht des Fremden und das ethnographische Vergleichen von Homer bis Herodot, Göttingen 2020, sowie Thomas Figueira / Carmen Soares (Hrsg.), Ethnicity and Identity in Herodotus, London / New York 2020.
2 Thomas Harrison, Divinity and history. The religion of Herodotus, Oxford 2000; Jon D. Mikalson, Herodotus and religion in the Persian Wars, Chapel Hill 2003; Fabio Mora, Religione e religioni nelle Storie di Erodoto, Mailand 1985; Gian Franco Chiai, Wie man von fremden Göttern erzählt: Herodot und der allmächtige Gott in den anderen Religionen, in: Elisabeth Irwin / Klaus Geuss / Thomas Poiss (Hrsg.), Wege des Erzählens. Logos und Topos in den Historien, Frankfurt a. M. / Berlin 2013, S. 47–74; Walter Burkert, Herodot als Historiker fremder Religionen, in: Guiseppe Nenci / Olivier Reverdin (Hrsg.), Hérodote et les peuples non grecs, Entretiens sur l’Antiquité classique, 35, Genf 1990, S. 1–32 (33–39 Diskussion).
3 Klaus Hock, Einführung in die Religionswissenschaft, 2., durchges. Aufl., Darmstadt 2002.
4 Rosalind Thomas, Herodotus in context. Ethnography, science and the art of persuasion, Cambridge 2000, S. 102–105.
5 Vgl. Schulz (2020), S. 323–326 (siehe Anm. 1).
6 Peter Frisch, Die Träume bei Herodot, Meisenheim am Glan 1968. Neuere Perspektiven beispielsweise bei Alexander Hollmann, The Master of Signs. Signs and the Interpretation of Signs in Herodotus’ Histories, Washington DC 2011, bes. S. 75–93.
7 Für die Passage über die Kolcher vgl. beispielsweise Jessica Priestley, Herodotus and Hellenistic Culture. Literary Studies in the Reception of The Histories, Oxford 2014, S. 138–144; Alan B. Lloyd, Egyptians abroad in the Late Period, in: C Adams / J. Roy (Hrsg.), Travel, Geography and Culture in Ancient Greece, Egypt and the Near East, Leicester 2014, S. 31–43; Askold Ivantchik, Eine griechische Pseudo-Historie. Der Pharao Sesostris und der skytho-ägyptische Krieg, in: Historia 48, 1999, S. 395–441.
8 Edition: Nigel Wilson, Herodoti Historiae, Libri I–IV, Oxford 2015; Übersetzung Heinz-Günther Nesselrath, Herodot, Historien. Deutsche Gesamtausgabe, neu übersetzt, hrsg. und erläutert, Stuttgart 2017.
9 Jan Assmann, Grundstrukturen der ägyptischen Gottesvorstellungen, in: Biblische Notizen 11, 1980, S. 46-62, bes. 47f.