E. Gantner u.a. (Hrsg.): Interurban Knowledge Exchange

Cover
Titel
Interurban Knowledge Exchange in Southern and Eastern Europe, 1870–1950.


Herausgeber
Gantner, Eszter; Hein-Kircher, Heidi; Hochadel, Oliver
Erschienen
London 2021: Routledge
Anzahl Seiten
XII, 317 S.
Preis
£ 120.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hanna Kozińska-Witt, Aleksander Brückner Zentrum für Polenstudien, Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg

Das sehr sorgfältig herausgegebene Buch geht auf ein Netzwerk zurück, das aus der engeren Zusammenarbeit von drei ForscherInnen entstanden ist, die sich mit urbanen Räumen im Süden und Osten Europas beschäftigen. Die von ihnen veranstalteten Tagungen und der Ideenaustausch fruchteten in den zwölf Beiträgen, die hier unter dem Titel Interurban Knowledge Exchange in Southern and Eastern Europe, 1870–1950 publiziert wurden. Das Buch ist der kürzlich verstorbenen Mitherausgeberin Eszter Gantner gewidmet.

Ziel der HerausgeberInnen war es, die bisherige Fokussierung der Wissenschaft auf westeuropäisch-amerikanische Städte, darunter Paris, London oder Berlin, als alleinige Modellbeispiele urbaner Modernität zu durchbrechen. Eine Alternative fanden sie in der Eisenstadt´schen These der multiple modernities.1 Das Leitmotiv der Publikation stellen demnach unterschiedliche Ausprägungen und Variationen von Modernität dar. Untersuchungsobjekte sind jene Kommunen in Süd- und Osteuropa, die in der bisherigen Literatur als Städte „zweiten Ranges“, „verspätete Städte“ oder aber einfach als Provinzstädte wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben (S. 8), obwohl sie, wie die AutorInnen der Beiträge belegen, sowohl für ihre jeweiligen Regionen als auch darüber hinaus zentrale Bedeutung hatten. Die Zeitspanne der Beiträge reicht von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Kalten Krieg. Die HerausgeberInnen finden die Begriffe „Provinz“ und „Peripherie“ despektierlich, seien diese doch generell mit Rückständigkeit assoziiert. Stattdessen führen sie den Terminus emerging cities ein, der auf die aufstrebende Durchsetzungskraft dieser Städte hinweisen soll.

Gegenstand der Analyse ist die Suche nach den besten Methoden bzw. Lösungen (best practices), um diese Kommunen adäquat zu modernisieren. Alle AutorInnen zeigen, dass für „ihre Städte“ nicht unbedingt etablierte Metropolen, wie Paris oder London, Modell standen, sondern eher andere Städte „niederen Ranges“. Denn abgesehen von der inadäquaten Größe von Metropolen war deren Infrastruktur häufig bereits in die Jahre gekommen und galt als veraltet. Die lokalen Akteure bezogen sich dabei auf mehrere Vorbilder gleichzeitig, von denen jeweils ausgewählte Elemente der für den konkreten Fall besten Lösung übernommen und in eklektizistischer und hybrider Weise kombiniert wurden. Man gewinnt den Eindruck, dass die Reforminteressierten die klassische grand tour zu ihren Zwecken umfunktioniert haben: Ihre Ziele waren nicht so sehr Orte einer vergangenen Kulturblüte, sondern eher Modelle einer vielversprechenden Zukunft, zu denen auch temporäre Fachausstellungen gehörten. Auf der Suche nach den besten Lösungen überschritten die Reformer sogar die Grenzen des alten Kontinents und inspizierten u.a. die amerikanische Provinz. Während die Herausbildung von persönlichen Netzwerken hierbei sehr gut herausgearbeitet wird, berücksichtigen die AutorInnen den Einfluss der Fachpresse leider kaum (eine positive Ausnahme stellt der Beitrag von Tamara Bjažić Klarin über Zagreb dar).

Analysiert werden die Entwicklungen in so unterschiedlichen Städten wie Prag, Berdjansk, Budapest, Zagreb, Moskau, L´viv, Barcelona, Warschau, Bukarest, Mailand. Viele weitere Orte werden gestreift. Das Spektrum der Fallstudien reicht von klassischen Themen, wie der modernen Stadtplanung samt architektonischer Repräsentation und Hygienisierung, bis hin zu weniger bekannten Phänomenen der urbanen Presselandschaft, der Planung von perfekten zoologischen Gärten, der gewünschten Automobilisierung und der Gründung von Technikmuseen. Überzeugend arbeiten die AutorInnen heraus, dass und auch wie die Lösungssuche der einzelnen Experten-Persönlichkeiten zur Etablierung problemorientierter, interurbaner und internationaler Netzwerke führte. Eine große Rolle spielten dabei nicht so sehr ideologische Muster als vielmehr die Charaktereigenschaften der individuellen Protagonisten, z.B. ihre Ausdauer, aber auch Glück und Gelegenheit. Von großer Bedeutung war außerdem der fortschreitende Ausbau der Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur, der die Mobilität förderte und die Kontaktsuche erleichterte.

Besonders innovativ ist, dass die HerausgeberInnen versuchen, Verbindungen zwischen nationalen bzw. nationalistischen Diskursen und urbanen Reformen aufzuzeichnen, indem sie argumentieren, dass diese keineswegs zwei separaten Forschungsfeldern zuzurechnen seien. Vielmehr seien die universalen Ideale und aufstrebenden lokalen und nationalen Identitäten Bestandteile ein- und derselben Modernität und somit miteinander verwoben. Damit wird die Problematik des Nationalismus als Modernisierungsstrategie einerseits auf das neue Forschungsfeld urbaner Reformen verlagert und andererseits eine historiographische Tendenz gestärkt, die in der Geschichtsschreibung über Ostmitteleuropa seit jeher vorherrschend ist (und durch die gegenwärtigen politischen Entwicklungen in dieser Region erneut untermauert wird).

Aber hat die These einer zwangläufigen Verflechtung von Nationalismus und Stadtmodernisierung im Falle osteuropäischer Regionalmetropolen wirklich Bestand? Hängt die Stärke der Verflechtung des Reformerischen und des Nationalen nicht in starkem Maße vom konkreten Untersuchungsgegenstand ab? Während der nationale Diskurs von den Kommunalbehörden und den Aktivisten der nationalen Bewegungen und derer breiten Anhängerschaft als ein Argument in den Modernisierungsdebatten herangezogen werden konnte, musste er keineswegs im gleichen Maße von den regionalen Expertengremien, darunter den Architektenvereinigungen oder Technikervereinen, benutzt werden. Gaben die nationalen Diskurse also wirklich Impulse zur Modernisierung oder lieferten sie nicht eher Argumente, die die hohen Kosten für modernisierende Maßnahmen rechtfertigten? Eine Antwort auf solche Fragen bleibt der Band schuldig. Es ließen sich sicherlich auch in den polnischen Ländern Experten finden, die auf ihren Reisen nach „besten Lösungen“ suchten, ohne dabei überwiegend national/nationalistisch zu argumentieren. Führte die Durchdringung des öffentlichen Raumes mit den nationalen Diskursen bei manchen Fachleuten nicht gerade zu einer trotzigen, „anationalen“ Gegenreaktion, so wie das bei Künstlern manchmal der Fall war?

Laut der Definition von Eszter Ganter und Heidi Hein-Kircher handelt es sich bei emerging cities um diejenigen Städte, die sich im 19. Jahrhundert zu Regionalmetropolen und nach 1918 gelegentlich zu nationalen Hauptstädten entwickelten. Hier stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, anstelle einer neuen Begrifflichkeit den bereits etablierten Begriff der „Provinzstadt“ aufzuwerten. Denn es erscheint fraglich, ob „Provinz“ wirklich so negativ konnotiert ist, wie es die HerausgeberInnen nahelegen. Ist nicht die Existenz vieler multiple peripheries und imagined peripheries anhand unterschiedlicher Untersuchungsobjekte hinreichend belegt worden? Da Hygienisierungs- und Verschönerungsmaßnahmen im 19. Jahrhundert in fast allen regionalen Zentren populär waren, bleibt darüber hinaus offen, welche Regionalmetropolen nicht zu den emerging cities gehörten und warum.

Indem sie die Aktivitäten und Kontakte ihrer Protagonisten nachverfolgen, skizzieren alle AutorInnen, wie lösungsorientierte Netzwerke entstanden und sich entwickelten. Leider interessiert sich keine/r von ihnen für den nicht-urbanen Kontext der jeweiligen Städte, für deren Hinterland bzw. die Vororte, wo man den kommunalen Müll ablagerte und von wo die Wasserleitungen in die Stadt führten. Dabei strömten die neuen „Städter“ genau aus diesen Gegenden in die Kommunen. Auf diese Weise werden zwar die vielfältigen interurbanen Netzwerke rekonstruiert, die Kommunen selbst allerdings gleichzeitig aus ihrem lokalen Kontext herausgerissen. Dennoch: Es ein sehr gut lesbares, vielseitiges und anregendes Buch. Ich bin sicher, dass es zu weiterführenden Diskussionen beitragen und nachfolgende Initiativen anregen wird.

Anmerkung:
1 Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus 109 (2000) 1, S. 1–29.

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