V. Streichhahn u.a. (Hrsg.): Geschlecht und Klassenkampf

Cover
Titel
Geschlecht und Klassenkampf. Die „Frauenfrage“ aus deutscher und internationaler Perspektive im 19. und 20. Jahrhundert


Herausgeber
Streichhahn, Vincent; Jacob, Frank
Erschienen
Berlin 2020: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jessica Bock, Digitales Deutsches Frauenarchiv

Der vorliegende Sammelband widmet sich dem Klassenkampf und dessen Verhältnis zur Frauenfrage aus deutscher und internationaler Perspektive im 19. und 20. Jahrhundert. Sein zentrales Anliegen ist das Zusammenführen der bislang weitgehend getrennten Erforschung der Arbeiter- und Frauenbewegung. Damit möchten die Herausgeber die Erzählung einer gemeinsamen Geschichte etablieren, die nicht nur auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede, sondern auch auf deren Wechselwirkungen blickt.

Der Sammelband gliedert sich in zwei Teile, die jeweils sieben Aufsätze umfassen. Im ersten Teil widmen sich die Autor/innen der Frauenfrage in Deutschland. Den Auftakt macht Gisela Notz. Sie zeichnet in einem kursorischen Überblick die Entstehung der westeuropäischen Frauenbewegung nach, um dann detailliert auf die Spaltung der „bürgerlichen“ und „proletarischen“ Frauenbewegung entlang der Forderung nach dem Frauenwahlrecht einzugehen. Besonders hervorzuheben ist ihre These, wonach ohne den internationalen Kampf der „sozialistischen“ Frauenbewegung die Durchsetzung des passiven und aktiven Wahlrechts für alle Frauen nicht möglich gewesen wäre. Diese Betrachtung kann einerseits als eine Kritik an die im Jubiläumsjahr erfolgte verengte Fokussierung auf die „radikal-/bürgerlichen“ Kämpferinnen verstanden werden. Andererseits ist sie eine Einladung, die Ende der 1970er-Jahre verebbte Erforschung der „proletarischen“ Frauenbewegung wiederzubeleben. Marion Röwekamp knüpft an diese Ausführungen an und thematisiert den Kampf der Sozialdemokratinnen für die Durchsetzung der Frauenrechte im Arbeits-, Sozial- und Eherecht während der Weimarer Republik. Das von Röwekamp gewählte Konzept des Citizenships überzeugt, da dieser Ansatz die demokratiehistorische Dimension der Gleichberechtigung der Frauen betont und somit eine Verknüpfung der Arbeiter- und Frauenbewegung mit der Demokratiegeschichte ermöglicht.

Wie viel Forschungsbedarf und Erkenntnispotenzial in der Verbindung von Arbeiter- und Frauenbewegung nach wie vor besteht, zeigt Anja Thuns exemplarisch in ihrem lesenswerten Beitrag über die Geschlechtergeschichte der Rätebewegung 1918/19. Darin geht sie auf die vielfältigen Quellen ein, die von Räteprotokollen über Polizeiberichte bis hin zu Selbstzeugnissen reichen, und verweist auf bislang unerschlossenes und kaum beachtetes Material der Frauen-, Bauern- und Stadtteilräte sowie zeitgenössische Berichte von Frauen. In diesem Zusammenhang zeigt Thuns die Entstehungsbedingungen der Quellen in einer patriarchalen Gesellschaft auf und betont zugleich, dass die Überlieferungen kritisch zu hinterfragen sind. Ferner überzeugen ihre Ausführungen über die Erfahrungs- und Alltagsgeschichte der Teilnehmerinnen während der Revolution 1918/19.

Das von beiden Herausgebern attestierte „ambivalente Verhältnis“ der Arbeiterbewegung zur Frauenfrage zieht sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Textbeiträge. Während in der Frühphase der Arbeiterbewegung die Klassen- und Frauenfrage stärker gleichwertig diskutiert wurden, fand mit der Zeit eine Priorisierung der Klassenfrage statt. Zugleich gehen einzelne Autor/innen darauf ein, welche Faktoren die (proletarischen) Frauen daran hinderten, politisch aktiv zu werden. Vincent Streichhahn betont in seinem Beitrag über die Frauenfrage und Sozialdemokratie im deutschen Kaiserreich die Auswirkungen der konservativen und frauenfeindlichen Positionen (proletarischer Antifeminismus) innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung gegenüber Frauen und der weiblichen politischen Partizipation. Ferner trugen die geringe Bildung und Doppelbelastung der Arbeiterinnen zu deren geringen Organisierung in Vereinen und Parteien bei. Das rigide Reichsvereinsgesetz, das bis 1908 die Mitgliedschaft von Frauen in Parteien und Vereinen untersagte, verstärkte diese Entwicklung.

Gleichzeitig entfalteten die Akteurinnen der „proletarischen“ Frauenbewegung Maßnahmen, um Frauen stärker für die Arbeiter- und Frauenbewegung zu mobilisieren. Einen zentralen Beitrag leistete hierfür die proletarische Frauenzeitschrift Die Gleichheit, die Mirjam Sachse in ihrem Beitrag genauer vorstellt. Demnach bestand das zentrale Ziel ihrer politischen Bildung darin, bei den proletarischen Frauen eine „Bewusstseinsumbildung“ (S. 88) bzw. ein Klassenbewusstsein für den revolutionären Umbruch der Gesellschaft zu erreichen. Die wechselvolle Geschichte der Zeitschrift und ihre Funktion als bildungspolitisches Agitationsmedium zeichnet Sachse anschaulich nach. Allerdings wären strukturierende Zwischenüberschriften für eine bessere Nachvollziehbarkeit hilfreich gewesen. Axel Hilpert geht in seinem Beitrag auf die Konzepte und Praxen von Frauen in der Rätebewegung zwischen 1918 und 1921 ein. Sozialdemokratische und sozialistische Akteurinnen wie Toni Sender, Martha Arendsee, Gertraude Kötze, Wally Zepler und Clara Zetkin formulierten Strategien, wie eine stärkere Inklusion von Frauen in die Räte möglich gewesen wäre. Diese reichten von eigenständigen Räteorgane bis hin zu einem Proporzsystem. Allerdings führten unter anderem patriarchal geprägte Familienverhältnisse, Macht- und Politikstrukturen sowie das im Zuge der Demobilisierung systematische Herausdrängen der Frauen aus dem Beruf dazu, dass Frauen kaum in der Rätebewegung vertreten waren.

Zugleich verdeutlichen die Beiträge, wie heterogen die Frauenfrage innerhalb der Arbeiter- und Frauenbewegung diskutiert und angegangen wurde. In diesem Zusammenhang ist zum Beispiel der Artikel von Jule Ehms zu nennen, der sich mit der Frauenpolitik der syndikalistischen Freien Arbeiter-Union Deutschlands und des Syndikalistischen Frauenbundes in den 1920er-Jahren beschäftigt. Während die Kommunist/innen und Sozialdemokrat/innen die Lohnarbeit als einen grundlegenden Schritt zur Emanzipation der Frau bewerteten, sahen die Syndikalist/innen darin ein „notwendiges Übel“ (S. 146), das die Situation der Frau eher verschlimmere. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Richtungen jedoch, dass sie das Rollenbild der Frau als Mutter und Ehefrau weiter tradierten. Anarchistinnen wie Emma Goldmann lehnten wiederum die Ehe als eine „Perversion der Liebe“ (S. 214) ab und sahen in der „nichtbesitzenden Liebe und sexuellen Unabhängigkeit“ der Frauen eine wesentliche Voraussetzung für die Gleichberechtigung (S.205), wie Frank Jacob in seinen Ausführungen über die US-Anarcha-Feministin Emma Goldman betont.

Der zweite Teil thematisiert das Verhältnis zwischen Arbeiter- und Frauenbewegung aus globalhistorischer Perspektive und regt an, in ländervergleichenden Studien stärker ihre gegenseitigen Rezeptionen, Verflechtungen und Abgrenzungen zu erforschen. Vor allem die Aufsätze von Skadie Siiri Krause, Tobias Kaiser und Jana Günther legen nachvollziehbar dar, dass die Frauen sowohl im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts als auch in Großbritannien und Russland Anfang des 20. Jahrhunderts mit „Roten Patriarchen“ (S. 247) zu kämpfen hatten. Neue Perspektiven auf die Frauenbewegung eröffnen sich nicht nur durch eine quellennahe Rekonstruktion, sondern auch durch die Dekonstruktion von Mythen, wie Kaiser anhand des Verhältnisses der Suffragetten zur Arbeiterbewegung ausführt.

Leider wird das Potenzial der internationalen Perspektive nicht ganz ausgeschöpft. Jowan A. Mohammed möchte in ihrem Beitrag eine biografische Studie über die hierzulande kaum bekannte US-Autorin des frühen 20. Jahrhunderts Mary Hunter Austin geben und dabei insbesondere auf ihren proto-feministischen Aktivismus eingehen. Dies gelingt jedoch kaum. Auf Hunters Schlüsselwerk Die junge Frau als Bürgerin geht die Autorin nur ungenügend ein und auch sonst bleiben ihre Ausführungen über Hunter Austins Überlegungen zur Frauen- und Klassenfrage recht vage. Zudem hätte der Beitrag eine bessere Übersetzung verdient. Ebenso enttäuscht der Aufsatz von Frank Jacob über die feministischen Aktivitäten in der Taishō-Zeit. Leider ist hier mehr über die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Ersten Weltkriegs zu erfahren als über die Geschlechterverhältnisse in Japan. Ebenso wären nähere Ausführungen über die Akteurinnen, Debatten und Konzepte der japanischen Frauenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts wünschenswert gewesen.

Bedauerlicherweise fehlen für die beiden Sektionen einleitende Texte, die die zentralen Thesen und Erkenntnisse herausarbeiten und zu einer Synthese zusammenführen. Dieser Mangel wird insbesondere im zweiten Teil spürbar, wo die Beiträge mit den geografischen Schwerpunkten auf Frankreich, Großbritannien, USA, Russland und Japan unverbunden nebeneinanderstehen. Die beiden Aufsätze von Jana Günther stellen jedoch erfreulicherweise vergleichende Bezüge zu den Frauenbewegungen im deutschen Kaiserreich her.

Den im Titel angekündigten Zeitraum löst der Sammelband nur teilweise ein. Alle Beiträge konzentrieren sich auf das 19. und auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Artikel, die die Debatten über den Zusammenhang zwischen der Frauen- und Klassenfrage in der jüngeren Geschichte der Arbeiter- und Frauenbewegung nachzeichnen, fehlen. Diese Leerstelle ist sehr bedauerlich, da die Klassenverhältnisse eine der „Hauptachsen“ in den feministischen Diskursen und Organisationsformen seit den späten 1960er-Jahren waren.1 Insbesondere die Perspektive auf die (post-)sozialistischen Staaten, die in den frauenbewegungshistorischen Betrachtungen immer noch marginal vertreten sind, wäre für den Sammelband eine große Bereicherung gewesen.

Abschließend sei auf das ungenaue Lektorat hingewiesen. Neben häufigen Rechtschreibfehlern finden sich an mehreren Stellen bei biografischen Daten Zahlendreher, so zum Beispiel bei Lida Gustava Heymann, die 1943 und nicht 1934 gestorben ist (S. 109). Nicht hochgestellte Fußnoten in den Überschriften erzeugen zudem verwirrende Jahreszahlangaben (S. 120, S. 285 und S. 305). Ferner steht im letzten Aufsatz in der Kopfzeile der falsche Aufsatztitel.

Diesen kritischen Hinweisen zum Trotz versammelt der Band lesenswerte Beiträge zur Debatte um eine notwendig gemeinsame Betrachtung der Geschichte der Arbeiter- und Frauenbewegung und gibt Anregungen, die vorhandenen Forschungen zu vertiefen.

Anmerkung:
1 Myra Marx-Ferree, Feminismen. Die deutsche Frauenbewegung in globaler Perspektive, Frankfurt am Main 2018, S. 56.