R. Henrich u.a. (Hrsg.): Johann Conrad Ulmer (1519–1600)

Cover
Titel
Johann Conrad Ulmer (1519–1600). Vollender der Reformation in Schaffhausen
Weitere Titelangaben
Referate der Jubiläumstagung zu seinem 500. Geburtstag Schaffhausen, 28.–30. März 2019


Herausgeber
Henrich, Rainer; Specht, René
Reihe
Schaffhauser Beiträge zur Geschichte (92)
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
CHF 48.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Schönau, Lehrstuhl für Kirchengeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Anlässlich des 500. Geburtstags von Johann Conrad Ulmer (1519–1600) fand in Schaffhausen eine Fachtagung statt, die dem Leben und dem Werk des Reformators gewidmet war. Über die Hälfte der Aufsätze im vorliegenden Sammelband gehen auf Vorträge dieser Tagung zurück. Als Herausgeber fungieren Rainer Henrich, der Ulmer betreffende Archivalien der Stadtbibliothek Schaffhausen seit 2016 erschlossen und digitalisiert hat, und René Specht, der bis 2013 diese Stadtbibliothek leitete und seit 2015 Redaktor der Reihe ist, in der der Band erschienen ist.

Der Band umfasst 13 Beiträge und verfolgt, so Oliver Thiele im Vorwort, zwei Ziele: dem einheimischen Publikum „eine der bedeutendsten Schaffhauser Persönlichkeiten der Frühen Neuzeit“ (S. 9) bekanntzumachen und in der überregionalen und internationalen Reformationsgeschichtsforschung Schaffhausen und Ulmer eine angemessene Sichtbarkeit zu verschaffen und die weitere Forschung zu stimulieren (S. 9). Die vorliegende Rezension erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern widmet sich kursorisch ausgewählten Inhalten, zeigt dabei Stärken des Bandes auf und behandelt Grenzen, die sich aus dem Zugriff auf den Gegenstand und das methodische und formale Vorgehen ergeben.

Unter den frühen Reformatoren Schaffhausens war auch Sebastian Hofmeister, der bei Jacques Lefèvre d’Etaples studiert hatte, an der ersten Zürcher Disputation von 1523 teilnahm und bei der zweiten Disputation in Zürich präsidierte. 1525 musste er zusammen mit Sebastian Meyer Schaffhausen verlassen. 1529 wurde die Reformation, wie in anderen Orten der Eidgenossenschaft durch den Rat, in Schaffhausen eingeführt. In den folgenden Jahrzehnten fehlte indessen eine starke Figur, die die Einführung der Reformation begleitete und weiterentwickelte. In Ulmer, der 1566 nach Schaffhausen berufen wurde, erkennt Roland E. Hofer deshalb den zweiten Reformator, den Vollender der Reformation (S. 32). In seinem Beitrag („Ohne Ulmer keine Reformation? Johann Conrad Ulmer, Schaffhausen und die Reformation“, S. 17–32) betont Hofer besonders die Konstanz, mit der sich Ulmer über einen längeren Zeitraum der Kirchenpolitik und -ordnung in der Stadt widmen konnte.

Rainer Henrich führt den Leser in den Ulmer-Nachlass („Die Erschliessung der Ulmeriana. Ein neuer Blick auf Johann Conrad Ulmers Nachlass“, S. 33–50) ein. Die Korrespondenz und die Kirchenakten, die auch Dokumente von Ulmers Nachfolgern bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts umfassen, lagern in der Schaffhauser Stadtbibliothek und in der Bayerischen Staats- und Universitätsbibliothek München. Die Münchener Akten liegen bereits digitalisiert vor; die Schaffhauser Bestände sollen digitalisiert zugänglich gemacht werden. Sie liefern darum einen wichtigen Baustein für die Rekonstruktion von Ulmers Wirken.

Ulmer, der in Schaffhausen geboren wurde, studierte ab 1537 in Basel, ab 1538 in Straßburg und ab 1541 in Wittenberg. Auf Vermittlung Luthers und Melanchthons wurde er als Hofprediger Graf Philipps III. von Rieneck nach Lohr am Main berufen. Theodor Ruf („Johann Conrad Ulmer in Lohr am Main, 1544–1566“, S. 51–78) ordnet Ulmers Wirken weniger in den neueren reformationsgeschichtlichen Forschungsdiskurs ein, urteilt aber quellengestützt und verschafft einen Überblick über ältere Forschungsliteratur.

Drei Beiträge widmen sich Ulmers Briefwechsel. Quantitativ und in Bezug auf die Bedeutung ragt der Briefwechsel mit Zürcher Vertretern der Reformation, insbesondere mit Heinrich Bullinger (1504–1575) und seinem Nachfolger Rudolf Gwalther (1519–1586), hervor. Urs B. Leu („‚Nihil te dignum habeo, quod scriberem, sed...‘. Johann Conrad Ulmers Briefwechsel mit Zürcher Gelehrten“, S. 79–111) führt detailreich und prägnant in Aspekte ein, die Ulmer vor allem mit Bullinger besprach und klärte. Der Kontakt mit Zürich diente ihm dazu, sich mit Nachrichten zu versorgen, die seinem Umfeld entgingen, und theologische und kirchenrechtliche Fragen zu klären: Ulmer erörterte mit Bullinger auch Fragen zur Eheschließung, die an ihn herangetragen wurden und die er zu entscheiden hatte. Zu einem dieser Fälle, einem exemplarischen (so S. 131), steuert Rezia Krauer einen eigenen Beitrag zu „Briefe[n] über das Heiraten“ (S. 129–146) bei. Sie vergleicht dabei mit einem St. Galler Fall, in den der humanistische Gelehrte und Reformator Vadian (1484–1551) involviert war und für den er gutachtete. Der Vergleich zeige, so Krauer, „dass Streitigkeiten zwischen den Entscheidungsträgern zu einem grossen Niederschlag in der amtlichen Überlieferung führten“ (S. 131). Zum Schaffhauser „Fall“ sind allerdings nur wenige Quellen überliefert – wie die Verfasserin selbst am Ende ihres Beitrags konstatiert (S. 145).

Leu arbeitet heraus, wie der Briefwechsel die Bedrohung der Reformierten im Reich, das Schicksal der Protestanten in Frankreich und die Bedrohung durch die Altgläubigen thematisiert. Ulmers Frage, ob er nicht das Abendmahl häufiger feiern lassen könne, lässt Bullinger unbeantwortet. Was die Täufer anbetrifft, so erkennt er Ulmers Resignation über deren Niederlassung in der Landschaft und konstatiert Grenzen von Herrschaftsdurchsetzung und Konfessionalisierung. Béatrice Nicollier widmet sich eigens der im Vergleich zu den Zürcher Vertretern zahlenmäßig weniger bedeutenden, dafür aber schon vollständig edierten Korrespondenz Ulmers mit dem Genfer Reformator Theodor Beza (1519–1605).1 Nicollier betont dabei, dass das „Netz“, dessen Teile Beza und Ulmer gewesen seien, häufig auch über Zürich verlief. Leu und Nicollier zeigen, dass Ulmer sowohl seine Zürcher als auch Genfer Kontakte dazu dienten, Schaffhauser Studenten Hilfe und berufliche Anstellungen zu vermitteln.

Die zweite Hälfte der Beiträge ist dem Werk Ulmers gewidmet. Erich Bryner, der bereits mehrere Beiträge zu Schaffhauser Katechismen vorgelegt2 und Ulmers Katechismus von 1568/9 herausgegeben und kommentiert hat3, geht auf eine handschriftliche Version von Ulmers Katechismus von 1568 ein. Der Katechismus weise, so Bryner, teilweise substantielle Übereinstimmungen mit einem Summarium aus dem Katechismus Johannes Brenz’ (1499–1570) auf. 1566 war Ulmer als Pfarrer an das Münster in Schaffhausen berufen worden, wo er 1600 verstarb. Bryner behandelt auch die Umstände des Amtsantritts Ulmers in Schaffhausen und die Konflikte, die sich an seiner Person entzündeten.

Reinhard Gruhl beabsichtigt, Ulmer und Theodoret von Kyros in den Kontext der christologischen und eucharistischen Kontroversen des 16. Jahrhunderts einzuordnen („Johann Conrad Ulmer und Theodoret von Kyros im Kontext der christologischen und eucharistischen Kontroversen des 16. Jahrhunderts“, S. 163–177). Von Gruhl erfährt man etwa, dass Ulmer einen deutschen „New Jesuwitspiegel“ (Basel 1586) verantwortete, für den er aus Werken Martin Chemnitzens, Johann Fischarts und Wilhelm Bidenbachs übersetzte. Ulmer wird als Multiplikator, der sich an ein breiteres Publikum richte, vorgestellt. Der Beitrag kann als Einstieg in die in den Anmerkungen verzeichnete neuere Forschungsliteratur genutzt werden. Den Kontext der Veröffentlichung der Ulmerschen Theodoret-Ausgabe erhellt der Beitrag Leus. Gruhls Beitrag bietet ein Potpourri von Beobachtungen zu verschiedenen Schriften Ulmers und Kontroversen um die Eucharistie und Christologie. Eine Einordnung in die christologischen und eucharistischen Kontroversen war vielleicht nicht beabsichtigt; Gruhl spricht selbst abschließend von einer „grobe[n] Skizze einiger wesentlicher Kontroverspunkte“ (S. 176).

Der Germanist Wilhelm Kühlmann hat einen Beitrag über Ulmers Trostgeschrifft für angefochtne und betrübte hertzen (Zürich 1579) beigesteuert, in dem er die Trostschrift (zu diesem texttypologischen Begriff S. 179) in einen literaturgeschichtlichen Kontext einordnet. Von Michael Hanstein und Ute Nürnberg sind dem Band sodann Beiträge über Ulmers Dramen und seine Lieder beigegeben. Von diesen Aufsätzen abgesetzt sind als „[w]eitere Beiträge“ (S. 6) ein Überblick über Ulmer als Leiter der Schaffhauser Pfarrbibliothek, den Rudolf Gamper verfasst hat, und René Spechts „‚Vera effigies‘. Johann Conrad Ulmer im Porträt“ enthalten.

Der Aufsatz zu Ulmers Wirken in Lohr wie auch die Beiträge zu den Briefwechseln ließen es wünschenswert erscheinen, dass ein Abkürzungsverzeichnis Überblick über alle Archive, denen ungedruckte Quellen entnommen wurden, verschaffte und die Nachweise in den Anmerkungen leichter nachvollziehbar machte. Vorhandene Querverweise auf andere Beiträge in den Fußnoten erleichtern es, Verbindungslinien zwischen den Beiträgen herzustellen. Register enthält der Band aber nicht. Hilfreich, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen, ist die Chronologie (S. 13–15), die in die Lebensdaten einführt und auch einige der gedruckten Ausgaben Ulmers aufführt. Die gute Qualität der teilweise farbigen Abbildungen, etwa von Handschriften Ulmers, ist hervorzuheben. Ein System, das bei der Anführung lateinischer Zitate verfolgt wurde, vermag ich nicht zu erkennen: Teilweise werden sie nur in Übersetzung dargeboten (so etwa bei Gruhl S. 167f. mit Anm. 21); teilweise werden den Übersetzungen im Haupttext in den Anmerkungen die Originalversionen beigegeben (so etwa im Beitrag Hansteins, S. 208 Anm. 48).

Ulmers Leben und Werk werden in diesem Sammelband detailreich geschildert. Der Band scheint mir stärker auf ein fachkundiges Publikum zugeschnitten zu sein, weil er neben dem kurzen einleitenden Beitrag von Hofer Detailstudien zu einzelnen Schriften und Aspekten des Wirkens Ulmers enthält. Man kann für die weitere territorialgeschichtliche Reformations- und Konfessionalisierungsforschung dem Band Perspektiven und zahlreiche Einzelbefunde entnehmen, stellenweise ausgehend von den Beiträgen auch gut auf weitere Forschungsliteratur zugreifen und die Beiträge deshalb mit Gewinn lesen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Theodor Beza, Correspondance, hrsg.v. Fernand Aubert u.a., 43 Bde., Travaux d’humanisme et renaissance, Genf 1960–2017.
2 Vgl. Erich Bryner, Die Katechismen in der Schaffhauser Kirche, in: Zwingliana 40 (2013), S. 143–164.
3 Vgl. Erich Bryner (Hrsg.), „Den wahren Gott recht erkennen und anrufen“. Der älteste Schaffhauser Katechismus von Johann Konrad Ulmer 1568/69, Zürich 2019.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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