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Titel
Betreuung – Erziehung – Bildung. Die Anfänge der Horte für Schulkinder in der Schweiz, 1880–1930


Autor(en)
Staub, Mirjam
Erschienen
Zürich 2021: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
CHF 38.00; € 38,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Max Gawlich, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Die Autorin Mirjam Staub hat mit ihrer Arbeit „Betreuung, Erziehung und Bildung" eine Studie zur Frühgeschichte der Hortbetreuung in der deutschsprachigen Schweiz vorgelegt. Indem sie diese frühe Geschichte der außerschulischen Kindertagesbetreuung am Ende des 19. Jahrhunderts erschließt, bearbeitet Staub im Rahmen ihrer Dissertation mehrere Desiderate. Sie stellt fest, dass erstens in der Historiographie zum Hortwesen Arbeiten fehlen, welche sich mit der Epoche vor 1945 auseinandersetzen, dass zweitens der Bereich der angewandten Sozialpädagogik historisch unterbelichtet sei und dass drittens aktuelle Auseinandersetzungen mit dem Hortwesen häufig ohne Wissen um die historische Genese der gegenwärtigen Strukturen geführt würden.

Mit den Begriffen außerschulische und Kindertagesbetreuung sind bereits wesentliche Aspekte des Forschungsinteresses der Studie benannt. Im Zentrum steht die Frage, wie die Vorstellung einer organisierten Betreuung nach der Schule realisiert wurde, wie eine solche Institution zwischen Schule und Familie positioniert und wie sie von diesen beiden abgegrenzt werden konnte. Dabei ist die Fragestellung auch dem gegenwärtigen Stand der Betreuung von Schulkindern geschuldet, denn die Autorin strebt eine Genealogie der aktuellen institutionellen Gegebenheiten des Ganztagsschulwesens an, das sich in den deutschsprachigen D-A-CH Ländern so deutlich von den europäischen Nachbarn unterscheidet. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Bildungswesen ist die Ganztagsschule hier überwiegend modularisiert. Das bedeutet, dass Betreuung und Schule getrennt organisiert werden und meist nur oberflächlich miteinander verbunden sind.

Staub bearbeitet die Fragestellung institutionentheoretisch an den Beispielen Zürich, St. Gallen und Winterthur, wobei letzteres aufgrund der Quellenlage nur eine randständige Position in der Arbeit einnimmt. Sie entwickelt ihr Thema chronologisch und unterscheidet drei Phasen der institutionellen Entwicklung: die Gründungsphase, die Konsolidierungsphase und letztlich die Periode der Kommunalisierung. Innerhalb dieser großen Analysekapitel widmet sich Straub quellennah der Entwicklung der Horte und stellt dar, wie es in der Gründungsphase zunächst gelang, die „Leitidee“ schärfer zu umreißen, der neuen Betreuungsform einen Platz zwischen Familie und Schule zuzuweisen und die einzelnen Horte mit Leben – das heißt einer pädagogischen Praxis – zu füllen. Im Folgenden setzt sich die Autorin intensiv mit den unterschiedlichen Ansprüchen der involvierten Interessengruppen (Gemeinden, Schulen, Eltern, Träger, Mitarbeiterinnen) und der sich daraus ergebenden Dynamik auseinander, welche die Konsolidierungsphase prägten. Organisatorisch mündete die Entwicklung in den untersuchten Horten in eine Kommunalisierung und inhaltlich in einer Annäherung an die Fürsorge und Sozialpädagogisierung. Diese Prozesse der Kommunalisierungsphase untersucht Staub im letzten Kapitel.

Die Gliederung scheint zunächst eine klassische monographische Dreiteilung zu sein, entspricht inhaltlich allerdings eher der Aufteilung einer sozialwissenschaftlichen Studie, in der sich an die empirische Deskription eine vertiefte Diskussion und Beurteilung anschließt. So überrascht es etwas, aber erfreut auch, im Fazit eine ausführliche Diskussion der entstehenden Geschlechterordnung im Hort zu finden, die die LeserIn bereits vielfach an anderer Stelle vermisst hatte. Staub gelingt es dabei, die institutionelle Entwicklung und den entstehenden Arbeitsmarkt für (sozial-)pädagogisch ausgebildete Frauen in Beziehung zum breiteren professionellen Feld zu setzen und vor dem Hintergrund der geschlechterhistorischen Forschung einzuordnen. Im Anschluss an jüngere Arbeiten von Angehrn sowie Gildemeister und Herricks bewertet Staub die Entstehung dieses weiblichen Arbeitsfeldes weitgehend positiv.1 Sie geht von einer aktiven Rolle der werdenden Hortleiterinnen und Mitarbeiterinnen aus, die in dieses Berufsfeld drängten. Gleichfalls bemerkt sie, dass die Vergeschlechtlichung der Hortarbeit durch eine Identifikation mit der als weiblich bestimmten Sozialpädagogik und eine Abgrenzung zur männlich bestimmten Schulbildung zu einer Verengung des Aufgabenfelds der pädagogischen Arbeit im Hort führte. Die anfangs noch porösen Grenzen zwischen Schule und Hort schlossen sich ebenso wie die Auswahl möglicher MitarbeiterInnen zunehmend geringer wurde. Die wechselseitige Zuweisung von Bildung und Betreuung resultierte darin, dass der Hort als Institution der (weiblichen) Sozialfürsorge betrachtet wurde und die Schule weiterhin als Bildungsinstitution ohne Betreuungsauftrag rangierte.

Staub hebt das Interesse der sozialpädagogisch ausgebildeten Frauen an dem neuen Arbeitsfeld Hort hervor. Im Gegensatz zu einer „klassischen Lesart“ (S. 192), der zufolge die männlichen Lehrer sich aufgrund eines anzunehmenden Ansehensverlust aus dem Berufsfeld „Hort“ zurückzogen, betont Staub im Anschluss an Gildemeister und Herricks die Rolle der bürgerlichen Frauenbewegung bei der Feminisierung des Arbeitsbereichs. Zweifellos hatten Frauen handfeste Interessen diese Autonomie und Auskommen versprechenden Berufe zu ergreifen. Ebenso kann jedoch davon ausgegangen werden, dass auch unter männlichen Lehrern konkrete materielle Interessen in dem Bemühen Ausdruck fanden, das Feld der Sozialpädagogik und Hortbetreuung als weiblich zu markieren und eine Abgrenzung der beiden Bereiche aktiv voranzubringen. Die Autorin geht allerdings in ihrem Forschungszugriff nur wenig auf mögliche Interessen und Strategien von männlichen Lehrern bzw. Vertretern der Institution Schule ein. Dabei ist die Vergeschlechtlichung der jeweiligen Bildungsinstitutionen nicht nur die Grundlage für eine bis heute anhaltende mangelnde inhaltliche Zusammenarbeit von Hort und Schule, wie es die Autorin in ihrem Fazit hervorhebt. Dieser Umstand bildet auch die Voraussetzung der geringeren Entlohnung von schulischer und außerschulischer Bildungs- und Betreuungsarbeit, wie sie durch ein überwiegend weibliches Kollegium außerhalb der Sekundarstufe geleistet wird.2 Es bestanden und bestehen materielle Interessen im institutionellen Gefüge, die Arbeit im Hort – und anderen Bildungsinstitutionen – im Vergleich zur Schulpädagogik und -bildung als „bloße“ Betreuung zu dequalifizieren und monetär zu devaluieren.

Eine intensivere Auseinandersetzung mit den Interessen und den verfügbaren bzw. angestrebten ökonomischen Ressourcen der Akteure im Prozess der Institutionalisierung des Horts hätte an dieser und anderer Stelle möglicherweise mehr Klarheit in die Dynamik zwischen den historischen Akteuren gebracht. Dazu wäre allerdings eine Ausweitung des Forschungsfokus auf das Zirkulieren von Ressourcen, Wissen, Praktiken und Akteuren nötig gewesen, wie es in den zitierten Protokollen der Hortkommission hin und wieder anklingt. Der gewählte Zugang legt dagegen den Schwerpunkt auf die Entwicklung der Institution um Leitwerte und Normen herum, weshalb die Interessen und Strategien der einzelnen Akteure häufig konturlos bleiben.

Mit dem gewählten Vorgehen kann Staub allerdings schlüssig nachzeichnen, wie aus dem Hort eine Institution der Betreuung und Erziehung wurde, die nicht an den Bildungsauftrag der Schule anknüpfte und Betreuungsarbeit für erwerbstätige Eltern nach der Schule leistete. Staubs Arbeit bildet einen wichtigen Baustein für die Historisierung der Sozialpädagogik und des Hortwesens und verleiht der Ganztagsschule in ihrer spezifisch deutschsprachigen Ausprägung eine historische Tiefe, welche unter anderem erklärt, warum es in der Schweiz, in Österreich und Deutschland bis heute schwerfällt, echte Ganztagsschulen zu etablieren. Staubs Arbeit regt ebenfalls dazu an, weitere historische Forschungen in diesem Feld zu verfolgen, welches auch für das Schulwesen maßgeblich ist, gerade weil der Hort und die Sorgearbeit so deutlich aus seinem Zuständigkeitsbereich ausgeschlossen werden.

Anmerkungen:
1 Regine Gildemeister / Katja Hericks, Geschlechtersoziologie. Theoretische Zugänge zu einer vertrackten Kategorie des Sozialen, München 2012 und Céline Angehrn, Arbeit am Beruf. Feminismus und Berufsberatung im 20. Jahrhundert, Basel 2019.
2 Gisela Steins, Frauen im Grundschullehrer:innenberuf, in: Ingelore Mammes / Carolin Rotter (Hrsg.), Professionalisierung von Grundschullehrkräften. Kontext, Bedingungen und Herausforderungen, Bad Heilbrunn 2022, S. 114–124, hier S. 117, 119.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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