B. Müsegades: Heilige in der mittelalterlichen Bischofsstadt

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Titel
Heilige in der mittelalterlichen Bischofsstadt. Speyer und Lincoln im Vergleich (11. bis frühes 16. Jahrhundert)


Autor(en)
Müsegades, Benjamin
Reihe
Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte (93)
Erschienen
Anzahl Seiten
449 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Bröker, Universität Regensburg

Wenn Städte und Personen für ihre Stadtkirchen Patrozinien auswählen, steckte eine bestimmte Geschichte, eine Intention dahinter, die genau diesen speziellen Heiligen zum Patron einer Kirche machte, so würde man vermuten. Jedoch war diese „Geschichte“ häufig kontingenter, als es auf den ersten Blick scheint, oder sie ist aufgrund der Quellenlage gar nicht erst genau zu ergründen. Diese Erkenntnis, die Benjamin Müsegades‘ an der Universität Heidelberg eingereichte Habilitationsschrift vermittelt, ist wichtig. Er hinterfragt, aus welchen Gründen bestimmte Personengruppen in Speyer und Lincoln vom 11.–16. Jahrhundert im Vergleich bestimmte Heilige „und keine anderen auswählten“ (S. 23). Allgemein ordnet sich Müsegades dabei zwischen Heiligenforschung, Stadtforschung und deutsch-englischer Vergleichsforschung ein und möchte die Motive der Heiligenaneignung verschiedener städtischer Gruppen ergründen (S. 24).

Müsegades untersucht dabei das „Zusammenspiel aller himmlischen Patrone, die innerhalb eines geographischen Raumes wirkten“ (S. 15), mit einer neuartigen und umfangreichen Detailliertheit, da solche Phänomene bisher vorwiegend in einzelnen Aufsätzen behandelt und einzelne Heiligenkulte in den Mittelpunkt gestellt wurden.1 In dem Fall sind es sogar zwei geographische Räume. Dieser große Anspruch ist innovativ, denn ein deutsch-englischer Vergleich in Bezug auf verschiedenen Praktiken der Bindung an Heilige wurde noch nicht angegangen. Der Vergleich ist trotz der Verschiedenartigkeit der Städte sinnvoll, wie Müsegades betont und sich damit Heinz-Gerhard Haupt und Jürgen Kocka anschließt: Solange ein bindender Faktor vorhanden ist und der Vergleich auf bestimmte übergreifende Erkenntnisse abzielt, ist eine Diversität kein Hindernis (S. 29).2 Dieser bindende Faktor ist hier die Bischofsstadt und die zweitrangige Stellung beider Städte in ihren jeweiligen Reichen. Bei zwei Städten mit großer räumlicher Entfernung lassen Gemeinsamkeiten trotz fehlender Beeinflussung weitere Schlüsse auf grundsätzliche Dynamiken der vorreformatorischen Bedeutung von Heiligen zu (S. 13).

Nach der Erläuterung der Vorgeschichte und der Sakraltopographie beider Städte am Anfang des Buches (S. 39–87) folgt die Analyse in drei Teilen. Der erste Teil der Analyse fokussiert sich auf unterschiedliche Orte und Akteure in Speyer und Lincoln, dazu gehören Domkapitel und Kollegiatsstifte, Bischöfe, Klöster, Pfarrkirchen sowie die weltliche Ebene von Bürgermeister und Rat hin zu König und Kaisertum (S. 88–285). An all diesen Orten bzw. von all den dazugehörigen Personengruppen wurden auf unterschiedliche Arten unterschiedliche Heilige „angeeignet“. Den Begriff der „Aneignung“ benutzt Müsegades, um die unterschiedlichen Ebenen der Bindung an Heilige im sozialen, politischen und performativen Kontext zu beschreiben, die nicht zwingend auf Frömmigkeit beruhen muss (S. 22). Auch wenn es hier eines Begriffes bedarf, der das Gesamtphänomen besser umfasst, stellt sich die Frage, ob Heilige laut Müsegades‘ Erarbeitungen auch im Sinne Marian Füssels in konfliktreichen Strategien vereinnahmt werden.3 Und wie kann die Definition des Begriffes sonst für die Anwendung bei Heiligen angepasst werden?

Es folgt ein stetiges Abwägen der Motive für die Patrozinienauswahl. Zum Beispiel betont Müsegades, dass eine Unterscheidung zwischen einer Nähe zu Maria entweder aufgrund des jeweiligen Amtes oder einer persönlichen Frömmigkeit nicht ohne weiteres möglich ist (S. 170), und thematisiert damit Probleme bei der Ergründung von Motiven und Identitätsbildung. Zusammenfassend werden dann folgende Motive zur Auswahl eines konkreten Patroziniums plausibel herausgestellt: die Namensgleichheit, familiäre Traditionen, landesspezifische Traditionen und der noch unbesetzte Platz (S. 172).

Das Unterkapitel zum Umgang von Kaiser- und Königtum mit den Patrozinien zeigt einige Besonderheiten dieser Personengruppe durch Betrachtung von drei Aspekten: die Positionierung einzelner Herrscher zu den Kulten um Heiligenreliquien vor Ort, die Haltung zur Patronin des Doms und deren Einfluss auf die Gestaltung der Sakraltopographie (S. 265). Bemerkenswert ist das Bemühen englischer Herrscher, Einigkeit mit den Patronen zu demonstrieren, auch wenn diese sich zu Lebzeiten durchaus im Konflikt mit den Königen befunden hatten, wie Robert Grosseteste (S. 274).

Im zweiten Analysekapitel um „Wallfahrten und Prozessionen“ (S. 286–303) wird untersucht, wie bei den genannten Ereignissen die Zugehörigkeit zu Heiligen sichtbar gemacht wurde und die einzelnen Gruppen zusammenarbeiten mussten (S. 305). Die Strukturierung nach Heiligentypen im dritten Teil der Analyse (S. 307–340) gibt einen Einblick in die Bedeutung einzelner Heiliger und klärt durch diesen Perspektivwechsel darüber auf, dass das Alter des Kultes nicht unerheblich war; und vor allem vermehrt lokale Heilige ausgewählt wurden, wenn die Anzahl der Sakralbauten, wie in Lincoln, dies zuließen (S. 337). Dafür unterscheidet Müsegades vier Heiligentypen: biblische und apokryphe, antike, mittelalterliche und schließlich lokale Heilige.

Durch den insgesamt weiten zeitlichen und räumlichen Rahmen der Kapitel liegt der Fokus nicht darauf, individuelle Qualitäten und Besonderheiten von „Aneignungen“ herauszustellen, obwohl dafür Möglichkeiten aufgezeigt werden. Dass sich zum Beispiel Konflikte zwischen Rat und Stadtherr nicht in der Präsentation der Heiligen widerspiegeln, ist ein Aspekt, der in den Analysekapiteln noch stärker betont und erklärt werden könnte (S. 202f.). Auch der stetige Versuch in Lincoln, Robert Grosseteste vom Papst heilig sprechen zu lassen, zeugt doch von einer durchaus beachtlichen Zielstrebigkeit, die begründet sein muss und weitere Überlegungen hinsichtlich der Motivationen zulässt (S. 107).

Da die Studie allerdings anstrebt, das Gesamtbild der Patrozinienauswahl bzw. das „Zusammenspiel“ zu erfassen und „die vielfältigen Aneignungen von Heiligen […] die identitätsbildende und bestärkende Rolle dieser Prozesse zu analysieren und sie in ihren jeweiligen sozialen, politischen Kontext einzuordnen“ (S. 24), steht die gesonderte Betrachtung einzelner Akteure nicht im Vordergrund. Dies ist zudem durch die Quellenlage begründet, die Müsegades transparent erläutert: Vor allem Korporationen und nicht Individuen wurden für „Aneignungen“ sichtbar. (S. 354) Müsegades nennt das Fehlen von bestimmtem Quellenmaterial hierbei nicht nur, sondern wägt die Gründe dafür plausibel ab (z.B. S. 295).

Der besondere Wert dieser Vorgehensweise zeigt sich darin, dass die Einbindung in diesen größeren Kontext die Zusammenhänge aufzuzeigen vermag und die starke Traditionsbindung von Heiligenaneignungen offenbart. Die Beleuchtung des Problems aus unterschiedlichen Perspektiven kann das Konzept der Frömmigkeit zudem gleichzeitig in seiner Bedeutung kontextualisieren und aufweichen, sowie das Bündel an Bedingungen für die Heiligenaneignung in ihrer Komplexität erfassen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Betrachtung der zeitlichen Entwicklung unbedingt sinnvoll. Ohne diese hätte zum Beispiel nicht erklärt werden können, dass vor allem Lücken im Heiligenhimmel geschlossen wurden oder an bereits bestehende im Frühmittelalter begründete Patrozinien angeknüpft wurde (S. 348).

Es gelingt somit, bedeutende Akzente zu setzen und vor allem die umfangreichen Quellen detailliert zu überblicken. Müsegades arbeitet generell mit einem breiten Quellenkorpus, der von Nekrologen bis Hagiographien reicht, und untersucht die „Aneignungsprozesse“ genau und umfangreich, so wie es das Quellenmaterial zulässt. Besonders aufschlussreich sind die erarbeiteten Tabellen, die einen Überblick zum Beispiel über die Anzahl der Schenkungen zu unterschiedlichen Heiligen in Speyer bieten (S. 133–136). Außerdem wird nicht nur der Blick darauf gerichtet, welche Patrozinien zu identifizieren sind, sondern auch, wie diese kommuniziert und präsentiert wurden. Letzteres zeigt sich zum Beispiel durch Wappen und Siegel. Hier wird deutlich, dass Traditionen die Darstellung von Siegeln prägten und spezielle Motive nicht im Einzelnen nachweisbar sind (S. 207).

Abschließend kann Müsegades zeigen, dass Maria sowohl in Lincoln als auch in Speyer bei unterschiedlichen Gruppen eine herausragende Bedeutung einnahm, auch wenn die Formen und die Entwicklung des Kultes unterschiedlich waren (S. 358). Neben dieser Erkenntnis zeigt die Studie aber auch die Diversität der „Aneignungsprozesse“, da sie alle relevanten Gruppen berücksichtigt und kleinere Kulte integriert. Letztendlich war Maria in beiden Städten die bedeutendste Heilige, aber die Wege, wie es dazu kam, waren trotz ähnlicher Voraussetzungen unterschiedlich. Dadurch entstehen wichtige neue Einblicke in städtische Strukturen, indem Prozesse der Anpassung aufgezeigt werden und gezeigt wird, wie zufällig die Zugehörigkeit zu bestimmten Heiligen oft begründet war, da persönliche Frömmigkeit nicht zwingend nachgewiesen werden kann (S. 344).

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. den Sammelband: Michele C. Ferrari (Hrsg.), Saints and the City. Beiträge zum Verständnis urbaner Sakralität in christlichen Gemeinschaften (5.–17. Jh.) (FAU Studien aus der Philosophischen Fakultät 3), Erlangen 2015.
2 Heinz-Gerhard Haupt / Jürgen Kocka, Historischer Vergleich. Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1996, S. 9–54, hier: S. 25.
3 Marian Füssel, Die Kunst der Schwachen. Zum Begriff der „Aneignung“ in der Geschichtswissenschaft, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts, Neue Folge 21, Heft 3, Oktober 2006, S. 7–28, hier S. 20.