P. Chu: The Life of Permafrost

Cover
Titel
The Life of Permafrost. A History of Frozen Earth in Russian and Soviet Science


Autor(en)
Chu, Pey-Yi
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
$ 56.25
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Kindler, Osteuropa-Institut, Freie Universität Berlin

„Gefahr für Mensch und Umwelt“, „Die unberechenbare Gefahr fürs Klima“ oder auch „Tauender Untergrund setzt Gifte, Mikroben und Klimagase frei“ – Beiträge mit solch alarmierenden Überschriften erscheinen in jüngster Zeit in immer rascherer Folge. In ihrer Dringlichkeit lassen sie keinen Zweifel daran, dass die tauenden Permafrostböden in der russischen Arktis ein überaus ernsthaftes Problem darstellen. Erodierende Infrastrukturen im Norden Russlands sind dabei noch die geringste Herausforderung. Viel dramatischere Folgen werden die Emission riesiger Methanmengen in die Atmosphäre und die mögliche Freisetzung lang verborgener Krankheitserreger haben. Kurzum: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist „Permafrost“ gleichermaßen Gegenstand und Chiffre apokalyptischer Bedrohungsszenarien geworden.

Was aber ist Permafrost eigentlich? Diese Frage führt zum Kern von Pey-Yi Chus wissenschaftshistorischem Buch, in dem es um die akademische Auseinandersetzung mit dauerhaft gefrorenen Böden im Russischen Imperium und in der Sowjetunion geht. In fünf chronologisch aufeinander aufbauenden Kapiteln vollzieht die Autorin detailliert nach, auf welche Begriffe Naturforscher und Wissenschaftlerinnen das Phänomen zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und den 1950er-Jahren brachten. In diesem Zeitraum, so ihre Beobachtung, lassen sich zwei grundlegende Konzeptionen mit je unterschiedlichen epistemologischen und praktischen Implikationen identifizieren. Eine Tradition sah Permafrost in erster Linie als „Struktur“, während eine andere Betrachtungsweise ihn als „System“ begriff. Im ersten Fall standen Beschaffenheit und Eigenschaften gefrorener Böden im Vordergrund. Die zweite Perspektive konzentrierte sich hingegen auf die komplexen Zusammenhänge von Frieren und Tauen und den damit verbundenen Prozessen. Diese Dialektik wurde historisch niemals aufgelöst und strukturiert das gesamte Buch.

Für die Erforschung des Phänomens, das kann man hier lernen, war diese Konkurrenz der Konzepte alles andere als trivial. Denn nicht zuletzt deshalb blieben selbst grundlegende Begrifflichkeiten und Definitionen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein umstritten. So entzündete sich etwa an der russischen Bezeichnung „večnaja merzlota“ immer wieder Kritik, denn „večnyj“ bedeutet „ewig, immerwährend“ und implizierte damit einen dauerhaft statischen Zustand. Eine solche Deutung hatte aber mit den dynamischen Realitäten auf und im gefrorenen Boden nur wenig zu tun. Das alles schien auf den ersten Blick eine jener akademischen Kontroversen zu sein, die zwar das Potenzial hatte, aus hochspezialisierten Experten unversöhnliche Feinde zu machen (was in einigen Fällen auch geschah), der ansonsten aber keine größere Bedeutung zukam.

Doch Pey-Yi Chu bleibt an diesem Punkt nicht stehen. Vielmehr interessiert sie sich für die Kontextgebundenheit von Wissensproduktion und die daraus resultierenden Folgen. Denn Permafrost war kein artifizielles Problem, sondern eine konkrete Herausforderung bei der infrastrukturellen Expansion des russischen bzw. sowjetischen Staates in Sibirien. Im ausgehenden Zarenreich und mehr noch in der frühen Sowjetunion waren deshalb anwendungsorientierte Formen des Wissens gefragter denn je. Ingenieure und Beamte benötigen Informationen darüber, ob und wie sich auf gefrorenem Untergrund Gebäude errichten oder Bahnschienen verlegen ließen. Dies war die Stunde jener Experten, die Permafrost vor allem als „Struktur“ begriffen. Einer unter ihnen war etwa Michail Sumgin (1873–1942). An seinem Beispiel führt die Autorin vor, wie sich wissenschaftliche Expertise, politischer Einfluss und damit auch Definitionsmacht in Sachen „večnaja merzlota“ verbanden. Seine Kollegen und er lieferten in den 1930er-Jahren solche Informationen, die für das bolschewistische Projekt der Unterwerfung der Natur nützlich waren. Auf diese Weise gelang es ihnen auch, ihren Forschungsgegenstand zu institutionalisieren und in der sowjetischen Öffentlichkeit zu popularisieren.

Doch – und an dieser Stelle kommt die Dialektik von „Struktur“ und „System“ ins Spiel – Sumgins Berechnungen konnten nur bedingt erfassen, wie sich Böden veränderten, wenn sie bebaut wurden oder wenn sich mikroklimatische Bedingungen veränderten: Mancherorts taten sich Löcher auf und Wasser trat aus, andernorts sackten Gebäude ab oder der Boden hob sich. Konfrontiert mit solchen Phänomenen gewannen ab Ende der 1940er-Jahre jene Wissenschaftler wieder an Bedeutung, die für einen umfassenderen Ansatz plädierten, um die komplexen Vorgänge zu verstehen. Dies habe auch mit ihrer geschickten Positionierung im Zuge spätstalinistischer Kampagnen zur ideologischen Festigung der Gesellschaft zusammengehangen. Und anders als etwa in der Biologie, wo Trofim Lyssenko mit seinen kontrafaktischen Theorien in dieser Zeit viel Unheil anrichtete, hätten die Auseinandersetzungen der Permafrostforscher einen echten Erkenntnisfortschritt bedeutet, argumentiert Pey-Yi Chu. Was dieser Befund für eine grundlegende Bewertung der Stalinschen Wissenschaftspolitik bedeuten könnte, bleibt indes offen.

Bis in die 1940er-Jahre hinein war die Erforschung dauerhaft gefrorener Böden fast ausschließlich Sache russischer bzw. sowjetischer Wissenschaftler. Die Autorin kann zeigen, dass die von ihnen gewonnenen Einsichten den globalen Diskurs maßgeblich formten und beeinflussten. Der Wissenstransfer über die sowjetischen Grenzen hinaus hing wesentlich mit Entwicklungen während des Zweiten Weltkriegs zusammen, als das US-Militär Informationen über Eisböden in Alaska benötigte und die Übersetzung relevanter russischer Texte veranlasste. Auch hier waren Fragen der Terminologie von großer Bedeutung: Es gab im Englischen schlicht keinen Begriff für „večnaja merzlota“. „Permafrost“ war eine Neuschöpfung des Übersetzers aus dem Russischen – und von Anfang an umstritten. Und zwar aus eben jenen Gründen, die auch in der Sowjetunion für Konflikte gesorgt hatten: Der Begriff bildete aus Sicht seiner Kritiker nicht die den Böden inhärente Dynamik ab, sondern suggerierte eine Permanenz und dauerhafte Stabilität, die es so nicht gab.

„The Life of Permafrost“ bietet eine durchaus anregende Lektüre. Das Buch ist akribisch recherchiert und gut lesbar geschrieben, obwohl – aus nachvollziehbaren Gründen – darauf verzichtet wurde, Schlüsselbegriffe aus dem Russischen zu übersetzen. Auch Aufbau und Struktur sind schlüssig. Allerdings scheint es so, als würde die Autorin schon gar nicht mehr damit rechnen, dass jemand das Buch in Gänze liest. Deshalb werden alle relevanten Informationen und Thesen in jedem Kapitel untergebracht und so entsteht der Eindruck einer gewissen Redundanz. Dieser wird noch dadurch verstärkt, dass sich die Studie intensiv mit Fragen der Terminologie und der damit verbundenen Konzepte beschäftigt. Ungeklärt bleibt hingegen, weshalb die Darstellung im Kalten Krieg der 1950er-Jahre endet. Ist es, weil „večnaja merzlota“/„Permafrost“ zu einem global wirksamen Konzept geworden war? Wir erfahren es nicht, obgleich Pey-Yi Chu erklärt, die Dialektik der unterschiedlichen Zugänge habe unverändert fortbestanden.

In einem Epilog wagt die Autorin einen Ausblick in eine Zukunft der Permafrostböden, in dem sie die verheerendsten Katastrophenszenarien ein wenig relativiert und zugleich darauf verweist, dass Menschen dem Permafrost letztlich nicht entkommen können. Er wird unsere Welt auch künftig beeinflussen und prägen – auf welche Weise auch immer.

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