Das Osmanische Reich in Schülervorstellungen und im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I und II

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Titel
Das Osmanische Reich in Schülervorstellungen und im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I und II. Eine rekonstruktiv-hermeneutische Analyse von Passungen und Divergenzen unter Berücksichtigung der Bedingungen der Migrationsgesellschaft


Autor(en)
Altun, Tülay
Reihe
Mehrsprachigkeit (51)
Erschienen
Münster 2021: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
563 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lale Yildirim, Universität Osnabrück

Schule, Geschichtsunterricht und historisches Lernen können in unserer pluralen Gesellschaft nur im Kontext von Migrationsgesellschaft betrachtet und analysiert werden. Dennoch stellen Arbeiten, die sich transdisziplinär verorten und einen diversitätssensiblen historisch-didaktischen Forschungsblick haben, als Desiderate der geschichtsdidaktischen Forschung dar. Forschungen zu Schüler:innen mit Migrationsbezug oder migrantische gelesenen Schüler:innen findet sich meist in den Bildungswissenschaften oder aber auch in den Sprachwissenschaften. Verschärft wird diese kritische Bestandsaufnahme durch die mehrheitlich Weißen Forscher:innen in der Wissenschaft. Eine tatsächliche Bereicherung durch Diversifizierung gelingt selten.

Tülay Altuns Buch „Das Osmanische Reich in Schülervorstellungen und im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I und II“ geht das beschriebene Desiderat auf mehreren Ebenen an. Sie fokussiert sich in ihrer Forschung nicht nur auf Vorstellungen von Schüler:innen mit Migrationsbezug, sondern widmet sich einem thematischen Feld, das zumeist nur peripherer unter dem Schlagwort „Türken vor Wien“ oder im Kontext von Islam oder Islamisierung im Geschichtsunterricht zur Sprache kommt (S. 284). Dies steht im großen Gegensatz zur demografischen Zusammensetzung von Schulklassen. Laut Mikrozensus 2021 wird jeder fünften Person ein sogenannter statistischer „Migrationshintergrund" zugewiesen. In der in der Bevölkerungsgruppe der fünf- bis 15-Jährigen sind es fast doppelt so viele Jugendliche (ca. 40 %). In nicht deutsch-Weißen Familien ist das Osmanische Reich nicht nur im kommunikativen Gedächtnis und in vertrauten privaten Peergroups in Form von Diasporageschichten präsent 1, sondern auch in Form von Histotainment und Histosoaps ein Bestandteil der medialen und digitale außerschulischen Geschichts- und Erinnerungskultur und prägen nachhaltig durch den oft affirmativen Konsum Geschichtsbilder von Schüler:innen mit nicht nur ausschließlich türkischem Migrationsbezug.

Ihre Motivation zu ihrer Forschung entstand, so beschreibt Tülay Altun es (S. 7), durch ihre eigenen Erfahrungen als Geschichtslehrerin und konstatiert „that students perspectives are not sufficiently taken into account in the institutional teaching of history […]. A history class that intends to relate to the experiences, concepts and knowledge of all students must take into account all students’ reality of life, which is, in late modernity, the continuous reality of migration…” (ebd.). Dieses praxisorientierte Forschungsinteresse bereichert die theoretische und empirische Untersuchung in der Zusammenführung von Theorie, Empirie und Pragmatik.

Das primäre Forschungsinteresse der Untersuchung ist es, den Zusammenhang zwischen Unterrichtsinhalten und mitgebrachten Wissensstrukturen von Schüler:innen, die durch die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft, Institution und Individuum beeinflusst werden (S. 21), zu erheben und kritisch zu analysieren. Hierbei werden Inklusion und Exklusion und das Wirken dieser Mechanismen auf „Schülervorstellungen“ betrachtet und am konkreten thematischen Beispiel des Osmanischen Reiches unter entwickelten Leitfragen (S. 23) untersucht, um einen fachdidaktischen Diskussionsbeitrag aus einer transdisziplinären Sicht zu leisten.

Ausgangspunkt der komparatistischen Analyse ist die Auseinandersetzung mit migrationsinduzierter und sozialer Diversität. Im Zentrum stehen dabei Rekonstruktion von „Schülervorstellungen“ zum Osmanischen Reich sowie Kernlehrpläne und Geschichtsschulbücher in Nordrhein-Westfalen und die resultierenden „Passungs- und Divergenzverhältnisse“. Im Buch werden Theorie (Kapitel 2 bis 6), Empirie (Kapitel 7 bis 9) und Praxisperspektive (Kapitel 10) explizit erörtert, zusammengedacht und kritisch hinterfragt. Zentraler Grundstein der theoretischen Überlegungen zur Re-/Produktion von Ungleichheit ist Pierre Bourdieus Habitus-Theorie (S. 46ff.), aus der das Begriffspaar „Passung und Divergenz“ zwischen institutioneller Erfahrung und individueller „Schülervorstellung“ dargelegt wird. Im Anschluss an diese Diskussion konzentriert sich Altun im dritten Kapitel auf den Geschichtsunterricht und reflektiert unter migrationspädagogischen Perspektiven Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur. Hierbei bezieht sie sich auf Paul Mecherils Ansatz des natio-ethno-kulturellen „Wir“ und „Nicht-Wir“.2 Des Weiteren bindet sie in ihre Diskussion die Kompetenzorientierung in Form des Gautschi-Kompetenzmodells ein und schlägt den Bogen zur Wirkung und Bedeutung von Narrativität bei der Identitätskonzeption in einer Migrationsgesellschaft.3 Im Anschluss wendet Altun ihren Blick Geschichtslehrwerken zu und beleuchtet zunächst den Diskurs zur Schulbuchforschung und formuliert Desiderate einer migrationssensiblen Schulbuchforschung. Im fünften Kapitel wendet sich die Autorin nach ihrer ausführlichen theoretischen Vorarbeit empirisch „Schülervorstellungen“ zu. Hierbei nutzt sie transdisziplinär sprach- und wissenssoziologische Ansätze, um die Relevanz von „Schülervorstellungen“ für Historisches Lernen herauszustellen. Sie argumentiert, dass erst im Prozess der Eruierung von „Schülervorstellungen“ Passung und Divergenz beim Lernen bemerkt und in den Geschichtsunterricht integriert werden können, um Lebensweltbezug und historisches Interesse zu wecken. Im sechsten Kapitel widmet sich Tülay Altun der Geschichte des Osmanischen Reiches bis 1915/16.

„Schülervorstellungen“ analysiert sie in dem folgenden Kapitel exemplarisch am thematischen Gegenstand. In ihrer Teilstudie A, die als Prästudie sechs Proband:innen mittels eines qualitativen leitfadengestützten Interviews befragt, entwickelt sie Kategorien für ihre Hauptstudie und dokumentiert ihr Vorgehen und die Generierung ihrer Kategorien transparent. Dem folgt ihre Hauptstudie B (Kapitel 8), in der sie institutionelle Vorgaben und ausgewählte Lehrwerke sowie Kernlehrpläne deskriptiv sichtet und Ergebnisse formuliert. In der Hauptstudie C (Kapitel 9) verknüpft sie nicht nur ihre Teilstudie A und B zusammen, sondern führt mit zehn weiteren Schülern:innen mit Türkeibezug eines Förderunterrichts Einzelinterviews. Fünf der interviewten Teilnehmer:innen nehmen im Anschluss an einer Gruppendiskussion teil. Hierbei legt sie ihr methodisches (empirisches) Vorgehen und ihre Ergebnisse sowie deren Zusammenführung offen nachvollziehbar dar und verbindet die Ergebnisse der Erhebung von „Schülervorstellungen“ zur Analyse und Auswertung von Geschichtslehrwerken und Kernlehrplänen aus Nordrhein-Westfalen. Im zehnten Kapitel werden diese Ergebnisse übergreifend für die Praxis des Geschichtsunterrichts kritisch reflektiert.

Tülay Altun liefert einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um den Geschichtsunterricht in der Migrationsgesellschaft und füllt ein Desiderat. Ihr transdisziplinärer Ansatz und die Betrachtung von Wechselwirkungen zwischen Institution, Individuum und pluraler Gesellschaft sind Aushandlungsfelder zentraler Bedeutung für die Didaktik der Geschichte und den Geschichtsunterricht. Dies exemplarisch an dem thematischen Gegenstand des Osmanischen Reiches zu analysieren, ist vor dem Hintergrund eines Neo-Osmanismus und der synonymen Verwendung von „Migrationshintergrund“ mit muslimisch – türkisch – nicht-Weiß und somit nicht dazugehörig, höchst aktuell und politisch brisant. Die gegensätzlichen Facetten vorhandener „Schülervorstellungen“ beziehungsweise wirksamer Geschichtsbilder des Osmanischen Reiches enthalten nicht nur Deutungen, sondern gleichermaßen Identitätsangebote wie Identitätszumutungen. Die damit zusammenhängende Konstruktion der historischen Identität in einem Weißen Geschichtsunterricht führt zu Kontroversen und zur Reproduktion von „Nicht-Wir“ (S. 520) als Konsequenz der erfahrenen Exklusion. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und des transdisziplinären Ansatzes wäre ein Einbezug von Diversity Studies oder dem Konzept der Transkulturalität eine Perspektiverweiterung möglich gewesen, da der Ansatz der Interkulturalität (S. 521) einer Migrationsgesellschaft nicht voll gerecht werden kann, die durch dynamische und reziproke Veränderungen und begründet ist. Uneingeschränkt muss Altun beigepflichtet werden, wenn sie schreibt: „Es zeigt sich, dass eine macht- und differenzkritische Perspektive auf den geschichtsdidaktischen Diskurs dringend berücksichtigt werden muss, um Homogenitätsfiktionen und Monolingualitätsvorstellungen von Schule aufzubrechen.“ (S. 526). Sie trägt damit produktiv zur Diskussion um Diskriminierung und Rassismus durch den Geschichtsunterricht und seine institutionellen Strukturen und Medien bei, die bereits z.B. bei Schulbuchstudien zu Migration im Schulbuch oder bei Untersuchungen von Identitätskonstruktionen von Schüler:innen mit Migrationsbezug konstatiert wurden. Die Produktion von Fremden beziehungsweise des Anderen durch den Geschichtsunterricht evoziert eine Abwehr von oder die Resignation vor historischen Orientierungsangeboten und fördert nur bedingt historische Narrativität bei allen Schüler:innen. Ein thematischer Einbezug des Osmanischen Reichs ohne eine dichotome „Wir“- und „Nicht-Wir“-Konstruktion könnte aufgrund des lebensweltlichen Anknüpfungspotenzials und der damit verbundenen Anerkennung und Inklusion eine reflexive historische Selbstverortung in der deutschen Gesellschaft fördern. Die dezidierte und gründliche Zusammenführung der Untersuchungsperspektiven und methodischen Annäherungen sowie die disziplinäre Perspektiverweiterung bei der Verbindung von Theorie, Empirie und Praxis sind zu betonende Prädikate der Arbeit, die neue Diskussionsräume eröffnet und bestehende unterstreicht.

Anmerkungen:
1 Peter Gautschi, Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise, Schwalbach/Ts. 2009.
2 Paul Mecheril, Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit, Münster 2003.
3 Lale Yildirim, Der Diasporakomplex. Geschichtsbewusstsein und Identität bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation, Bielefeld 2018.

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