L. Deile u.a. (Hrsg.): Brennpunkte heutigen Geschichtsunterrichts

Cover
Titel
Brennpunkte heutigen Geschichtsunterrichts. Roachim Rohlfes zum 90. Geburtstag


Herausgeber
Deile, Lars; van Norden, Jörg; Riedel, Peter
Reihe
Wochenschau Wissenschaft
Erschienen
Frankfurt a.M. 2021: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Björn Onken, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Joachim Rohlfes zählt trotz seines nun 90. Geburtstages aus guten Gründen noch immer zu den bekanntesten Vertretern der Geschichtsdidaktik und war in seiner Generation sicher einer der wirkmächtigsten. Es ist daher eine wohlverdiente Ehre, dass seine „Nachfolger“ in der Bielefelder Geschichtsdidaktik anlässlich des bemerkenswerten Geburtstages eine Festschrift herausgegeben haben. Dabei haben sie wohl nahezu alle noch lebenden namhaften Vertreterinnen und Vertreter des Faches um Beiträge gebeten und viele sind diesem Aufruf gefolgt. Dass der Band trotz der 37 Beiträge nicht zu einem dicken Wälzer angeschwollen ist, sondern noch unter 300 Seiten Umfang geblieben ist, verdankt sich dem Konzept, das nur kurze Beiträge von in der Regel weniger als zehn Seiten erlaubt hat. So findet man hier Texte, die man als „geschichtsdidaktische Denkanstöße“ bezeichnen könnte, denen man auch bei Public History Weekly begegnet. Damit eignet sich der Band hervorragend zur „Lektüre zwischendurch“, denn mitunter liegt bei den Beiträgen in der Kürze eine inspirierende Würze.

Naturgemäß werden nicht alle der Lesenden jedem Beitrag Inspiration entnehmen können: So könnte es Markus Michael Zech vielleicht nicht besonders interessant finden, dass Lale Yildirim in ihrem Beitrag die fehlende Einsicht in der bundesdeutschen Gesellschaft in den Charakter Deutschlands als Einwanderungsland kritisiert (S. 110). Zech schreibt dagegen in seinem eigenen Beitrag: „Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft. Dass sich dies seit Jahrzehnten auf den Schulunterricht auswirkt, ist längst festgestellt und auch im geschichtsdidaktischen Diskurs berücksichtigt“ (S. 114). Zech zitiert dazu die Monographie zum Interkulturellen Geschichtsunterricht von Elisabeth Gentner mit umfangreicher Bibliographie1. Dass bei der konkreten Umsetzung dieser Erkenntnis in Geschichtsunterricht und Geschichtskultur Handlungsbedarf besteht, wird damit nicht bestritten. Zech tritt dafür ein, die Kulturgeschichte mehr in den Vordergrund zu stellen und vor allem die Lernenden dazu zu befähigen, selbst individuelle „Narrative auszubilden, zu durchdenken und zu artikulieren“ (S. 121). „Identität“ ist in diesem Zusammenhang ein Schlüsselbegriff, den Frank Oliver Sobich in seinem Beitrag kritisch beleuchtet. Er verweist auf Valentin Groebner, der „kollektive Identität“ als Erbin von fragwürdigen Konzepten wie „Wesen“, „Volksgeist“ und „Nationalcharakter“ identifiziert hat. Sobich sieht den Bezug auf kollektive Identität im politisch rechten Spektrum sicher zu Recht als in der Regel problematisch an. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dies nicht auch im politisch linken Spektrum so sein könnte, denn insbesondere im Rahmen der „Identitätspolitik“ haben die von Karl Marx noch zutiefst verachteten kulturellen Identitätskonzepte neuerdings auch bei der politischen Linken Konjunktur.

Dass Defizite bei der Umsetzung geschichtsdidaktischer Diskurse und Konzepte im Unterricht keine Besonderheit der Themen mit Bezug zu Einwanderung sind, zeigt der Beitrag von Tobias Arand, der mit einem Blick in die Schulpraxis in der nichtgymnasialen Schule beginnt. Arand schreibt: „Alle geschichtsdidaktischen ,Säue‘, die in den letzten Jahrzehnten durch die ,Dörfer getrieben‘ wurden, müssen sich auf dem Weg in diese Schulen verlaufen haben – man trifft sie dort nämlich in der Regel nicht“ (S. 64). Ob das in den Gymnasien grundlegend anders ist, bleibt offen, ist aber nicht unbedingt wahrscheinlich. In einem „Denkanstoß“ kann Arand nicht den Stein der Weisen zur Lösung präsentieren, aber die naheliegendste Frage diskutiert er nicht. Die meisten Lehrkräfte, die heute in den Schulen unterrichten, haben eine beachtliche Anzahl von Credits in der Geschichtsdidaktik in ihrem Studium erworben, aber warum wenden sie die dort vorgestellten Konzepte in der Praxis kaum an? Die Gründe dafür liegen weitgehend im Dunkeln. Vielleicht liegt ein Teil der Lösung in dem, was Arand zum Schluss seines Beitrages als „das Wichtigste“ präsentiert: Die Vermittlung der Einsicht, dass „die Begeisterung für Geschichte und die Fähigkeit, diese Begeisterung durch das eigene Vorbild an die SuS weiterzugeben, neben Empathie für Kinder und Jugendliche die entscheidende Basis für gelingendes historisches Lehren und Lernen ist“ (S. 70). Dass hier ein Defizit der aktuellen Geschichtsdidaktik konstatiert werden muss, meint auch Dietmar von Reeken, ohne damit die Sinnhaftigkeit der Ergebnisse der geschichtsdidaktischen Forschung in Frage zu stellen. Von Reeken vermisst im geschichtsdidaktischen Diskurs aber das, was die meisten zum Studium der Geschichte motiviert hat: „Die Freude an Geschichte […], die Lust, sich mit Vergangenem näher zu beschäftigen, die Neugier auf Entdeckungen in vergangenen Kulturen, auf das, was Menschen früher bewegt hat“ (S. 80).

Ein Schritt weiter geht noch Oliver Plessow. Er macht darauf aufmerksam, dass jüngst Versuche, durch ein neues Curriculum die Grundsätze der akademischen Geschichtsdidaktik im Schulunterricht zu stärken, auf teils erbitterten Widerstand der „Betroffenen“ in den Schulen gestoßen sind. Plessow nimmt dies zum Anlass nicht nur nach Ergänzungen der Grundsätze der Geschichtsdidaktik zu fragen, sondern diese selbst auf den Prüfstand zu stellen und diskutiert auf hohem Niveau Fallstricke des Präsentismus, der Historisierung und der Anthropologisierung.

Bei einem Jubilar wie Rohlfes, der in den Debatten zur Genese der Wissenschaftsdisziplin der Geschichtsdidaktik eine maßgebliche Rolle gespielt hat, steht es gut an, dass einige Beiträge sich dieser Wissenschaftsgeschichte zuwenden. Insbesondere die Kontroverse zwischen Rohlfes und Annette Kuhn in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre wird mehrfach aufgegriffen. Hans Jürgen Pandel weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es sich damals nicht um einen Kontroverse innerhalb der Geschichtsdidaktik handelte, sondern dass auf der Seite von Rohlfes auch viele Geschichtswissenschaftler standen. Markus Bernhardt ruft hier in Erinnerung, dass es in den 1970er-Jahren viel mehr Aufmerksamkeit in der Geschichtsdidaktik für materiell schlechter gestellte Schichten in der Gesellschaft gab (im Sinne von Karl Marx) und sich die Geschichtsdidaktik im Rahmen des Konzeptes „Geschichtsbewusstsein“ in den letzten Jahrzehnten zu sehr auf den gymnasialen Bereich konzentriert hat.

Mit Lars Deile setzt einer der Herausgeber den Schlusspunkt des Bandes mit einem Beitrag, der eine Zukunftsorientierung des Geschichtsunterrichts einfordert: „Es sollte nicht mehr darum gehen, Geschichtsunterricht als Unterricht zu begreifen, der ausschließlich Vergangenheit thematisiert, sondern dem es um die Entwicklung von Historizitätskompetenz geht, eben die Fähigkeit, abwesende Zeit, Vergangenheit und Zukunft, im Moment der Gegenwart reflektiert und begründet zu repräsentieren“ (S. 276).

In der Rezension konnte hier nur eine Auswahl der Beiträge des Bandes diskutiert werden, aber es sollte deutlich geworden sein, dass es sich bei dem Band insgesamt um einen „bunten Strauß“ (S. 11) handelt, dessen Lektüre sich in vieler Hinsicht lohnt.

Anmerkung:
1 Elisabeth Gentner, Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht, Frankfurt/M. 2019; siehe auch Björn Onken, Geschichtsdidaktische Perspektiven auf den „Orient“. Einführung in den Themenschwerpunkt, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 18 (2019), S. 4–21.

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