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Titel
Ossip K. Flechtheim. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker (1909-1998)


Autor(en)
Keßler, Mario
Erschienen
Köln u.a. 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
295 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Eberspächer, Institut für Theorie der Geschichte, Ruhr-Universität Bochum

Wenn von Ossip K. Flechtheim heute überhaupt noch etwas bekannt ist, dann sind es seine Bücher zum Thema Zukunft.1 Tatsächlich steht Flechtheim für weit mehr als die Beschäftigung mit der Zukunft, für die er selbst den Begriff „Futurologie“ geprägt hat. In seinem Leben und Wirken in vier Ländern spiegeln sich nicht nur die Brüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Es ist auch beispielhaft für das Schicksal zahlreicher Wissenschaftler und Intellektueller, die das nationalsozialistische Deutschland verlassen mussten und später zurückkehrten. Mario Keßler, der nun die erste Flechtheim-Biographie vorgelegt hat, ist auf diesem Gebiet zweifellos ein ausgewiesener Experte. Von seiner langjährigen Beschäftigung mit emigrierten Intellektuellen – darunter mehreren aus Flechtheims Bekanntenkreis – zeugen zahlreiche biographische Studien.2

Bei der Gliederung der chronologisch angelegten Biographie orientiert Keßler sich an den Zäsuren in Flechtheims Lebenslauf, die durch Wechsel von Wohnsitzen und Arbeitsgebieten markiert werden. Betitelt sind Ober- und Unterkapitel oft mit modifizierten Flechtheim-Zitaten. Damit lässt schon ein Blick ins Inhaltsverzeichnis ahnen, wie der Autor seine Aufgabe als Biograph auffasst: Behutsam, zurückhaltend und objektiv bleibt er so weit wie möglich im Hintergrund.

Wo Analysen, Bewertungen oder Pointen vorkommen, übernimmt Keßler sie häufig von Flechtheim selbst oder von dessen Zeitgenossen. Im Kapitel über Flechtheims Jugend zeichnet er den Weg zum „doppelten Außenseiter“ nach: Ossip K. Flechtheim, der als Sohn eines deutschen Vaters und einer russischen Mutter jüdischen Glaubens im ukrainischen Nikolajew geboren wurde, musste aufgrund dieses Hintergrundes schon während seiner Jugend in Münster und Düsseldorf die Erfahrung machen, ein unfreiwilliger, ein existenzieller Außenseiter zu sein. Zum intentionellen Außenseiter wurde er durch sein politisches Engagement: Mit Beginn seines Jurastudiums in Freiburg trat er aus der Synagogengemeinde aus, dafür in die KPD ein. Die Kategorien des existenziellen (durch die Person begründeten) und intentionellen (durch Absichten und Handeln begründeten) Außenseitertums übernimmt Keßler vom ebenfalls jüdischen Emigranten Hans Mayer.3

Weitere Studiensemester verbrachte Flechtheim in Paris, Heidelberg und Berlin. Unmittelbar wirksam waren aber vor allem die Erfahrungen einer mehrmonatigen Reise in die Sowjetunion, nach der Flechtheim sich vom „Parteikommunisten und dogmatischen Marxisten zum undogmatischen Sozialisten wandelte“ (S. 37). Mit dieser pointierten Bewertung zitiert Keßler Flechtheims engsten Freund Hans (später John) Herz. Kein Wunder, dass bei solch einer Jugend „Kein Platz für Patriotismus“ blieb. Dieser überaus treffende Titel des ersten Hauptteils der Biographie stammt von Flechtheim selbst, es ist der Titel eines Interviews, das er 1989 für einen Sammelband gab.4

In den folgenden Kapiteln zeichnet Keßler die Stationen von Flechtheims Leben nach. Auf die Entlassung aus dem Staatsdienst und eine Verhaftung im Jahr 1935 folgte die Emigration nach Genf und später in die USA, die Arbeit an mehreren US-amerikanischen Colleges, die Heirat mit Lili Faktor 1942, die vorläufige Rückkehr nach Deutschland als Bürochef des Hauptanklägers der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und später als Gastprofessor in Berlin. 1952 kehrte Flechtheim endgültig nach Deutschland zurück, arbeitete als Dozent und Professor für Politische Wissenschaft in Berlin und weitete seine Autorentätigkeit aus. Die Veröffentlichung des Bestsellers „Futurologie – der Kampf um die Zukunft“ im Jahr 1970 markiert seine Wendung zur Beschäftigung mit der Zukunft, der im Jahr 1975 die Mitbegründung des „Institut für Zukunftspolitik“ folgte. Flechtheims letzte Lebensphase bis zu seinem Tod 1998 war davon geprägt, als Publizist und aktives Mitglied der neu gegründeten Partei „Die Grünen“ vor Wettrüsten, Kriegsgefahr und terroristischen Regimes zu warnen.

Über sein Leben hinaus stellt Keßler Flechtheims Werk vor, dabei ist sein Ziel „eine Kombination aus biographischer Darstellung und Werkanalyse“ (S. 9). Die Beschreibung von Flechtheims Leben wird daher immer wieder von Zusammenfassungen seiner wichtigeren Bücher unterbrochen, die zum Großteil aus Zitaten bestehen. Eine prosopographische Komponente kommt hinzu: An den Punkten, an denen Flechtheim mit ihnen zum ersten Mal zusammentraf, sind Biogramme eingeschoben, so etwa von Richard Löwenthal, Franz Borkenau, Ernst Engelberg, Hans Mayer und vielen anderen. Meist handelt es sich um Personen aus dem Kreis derjenigen oft jüdischen und tendenziell sozialistischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Emigranten, mit denen Keßler sich schon seit langem beschäftigt – entsprechend fundiert fallen die Biogramme aus.

Überhaupt merkt man deutlich, wie souverän Keßler den Stoff beherrscht und wie akribisch er recherchiert hat. Außer Flechtheims Werk, das immerhin 18 Bücher und fast 500 Aufsätze und Artikel umfasst, wertete er dessen Nachlass in Frankfurt am Main und weitere Archivmaterialien in Deutschland und den USA aus. Zudem hat er alle noch lebenden unter den bedeutenderen Kollegen und Angehörigen Flechtheims befragt, vor allem seine Tochter Marion Thimm und seinen engen Freund John Herz.

Nicht nur die sorgfältig recherchierte Quellenbasis, auch Keßlers Objektivität und Neutralität lassen seine Biographie – etwa aus angelsächsischer Sicht – als ein „typisches“ Produkt deutscher Wissenschaft erscheinen. Dass Flechtheim beispielsweise die Festanstellung am Colby College in Maine verwehrt wurde, erklärt Keßler – anders als Flechtheim selbst – nicht mit dessen jüdischem und sozialistischem Hintergrund, sondern tendiert zu einer sowohl unspektakuläreren als auch plausibleren Erklärung: Der europäische Bildungsbürger Flechtheim habe einfach nicht zu seinen Kollegen gepasst, und indem er in seiner Freizeit nicht mit ihnen zum Angeln und Jagen gegangen sei, habe er die Akkumulation „sozialen Kapitals“ unterschätzt (S. 95).

Was erfreulicherweise nicht zum „deutschen Stil“ des Buches passt, ist seine Sprache. Keßler formuliert in kurzen und verständlichen Sätzen, die ohne überflüssige Fremdwörter auskommen. Allenfalls die zahlreichen Partizipialkonstruktionen bremsen den Lesefluss, Nebensätze wären hier häufig die bessere Alternative gewesen. Ein großes Minus ist die äußere Form. Sie lässt vermuten, dass der Verlag einfach die MS-Word-Vorlage reproduziert hat. Das Buch hätte wirklich ein professionelleres Erscheinungsbild verdient, als den äußeren Eindruck einer Seminararbeit zu hinterlassen!

Mit einem Darstellungsteil von 224 Seiten ist die Biographie aber angenehm überschaubar geblieben. Jedoch leidet unter den drei durchaus unterschiedlichen Gesichtspunkten der Biographie, des Werkes und des Netzwerks um Flechtheim bisweilen die Stringenz der Darstellung. Eine Zeittafel im Anhang vermag den Überblick nur teilweise zu retten. Als Nachschlagewerk eignet sich das Buch, schon aufgrund des detaillierten Personenregisters, aber durchaus.

Keßlers Flechtheim-Biographie ist sorgfältig recherchiert, verständlich geschrieben und entspricht allen Ansprüchen an wissenschaftliche Neutralität. Gleichzeitig analysiert und pointiert sie zu wenig, bleibt zu deskriptiv und zu trocken. Sicher aber bereitet Keßler mit ihr „den Boden für kommende und mehr theoretisch-analytische“ Studien, für die vor allem ein Blick auf die Rezeption des Flechtheimschen Werkes ergiebig sein dürfte.5 Wahrscheinlich gilt aber in Zukunft noch mehr als heute: Vom „Futurologen“ Flechtheim werden wohl in erster Linie seine Bücher zum Thema „Zukunft“ bleiben.

Anmerkungen:
1 Im Wikipedia-Eintrag beispielsweise wird Ossip K. Flechtheim zur näheren Bestimmung und zur Abgrenzung von seinem Onkel Alfred mit dem Prädikat „deutscher Futurologe“ versehen, vgl. <http://de.wikipedia.org/wiki/Flechtheim> (25.8.2007).
2 Zu nennen sind hier die Sammelbände von Keßler, Mario (Hrsg.), Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Köln/Weimar/Wien 2001; Ders., Exil und Nach-Exil. Vertriebene Intellektuelle im 20. Jahrhundert, Hamburg 2002; Ders., Arthur Rosenberg. Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen (1889-1943), Köln/Weimar/Wien 2003; Ders. (Hrsg.), Deutsche Historiker im Exil (1933-1945). Ausgewählte Studien, Berlin 2005 sowie eine Vorstudie zur hier besprochenen Biographie: Ders., Ein Dritter Weg als humane Möglichkeit? Zu Leben und Wirken von Ossip Kurt Flechtheim (1909-1998), Berlin 2004.
3 Mayer, Hans, Außenseiter, Frankfurt am Main 1975.
4 Flechtheim, Ossip K., „In unserer Familie war kein Platz für Patriotismus“, in: Funke, Hajo, Die andere Erinnerung. Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil, Frankfurt am Main 1989, S. 422-439.
5 So die Einschätzung von Axel Fair-Schulz in einer Rezension von Keßlers Rosenberg-Biographie (vgl. http://library.fes.de/fulltext/afs/htmrez/80721.htm (20.3.2006).

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