C. Miller: We Shall Be Masters

Cover
Titel
We Shall Be Masters. Russian Pivots to East Asia from Peter the Great to Putin


Autor(en)
Miller, Chris
Erschienen
Cambridge, MA 2021: Harvard University Press
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 29,20
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Renner, Historisches Seminar, Lehrstuhl Russland-Asien-Studien, Ludwig-Maximilians-Universität München

Den ersten Zeilen auch eines wissenschaftlichen Buchs ist oft eine besondere Magie eigen. Im besten Fall machen sie die Leser neugierig und ziehen sie unaufhaltsam in den Text. Diese Chance vergibt Chris Miller in seinem neuen Buch, das versucht, die Geostrategie des Zarenreichs wie der Sowjetunion in Ostasien auf eine einfache Formel zu bringen: Selbstüberschätzung. Für den amerikanischen Zeithistoriker sind alle Anstrengungen des politischen Zentrums, seinen Einfluss in dem (geografisch nicht klar abgegrenzten) Untersuchungsraum auszudehnen, nur eitle Kurzzeitprojekte: „the bubbling up from within Russian society and politics of a new optimism about what can be accomplished“ (S. 13). Das Buch stellt acht solcher Blasen vor. Immer wieder hätten ambitionierte Akteure in Petersburg oder Moskau versucht, Ostasien nach ihren Wünschen umzugestalten, doch nie die dafür nötigen Ressourcen mobilisieren können. Sämtliche „hopeful bubbles were burst by logistical realities“ (S. 13). Eine schlichte These, die nicht überzeugt. Und die sich auch nicht aus den im Detail vorgestellten Beispielen ergibt.

Miller beginnt mit dem Kosakenführer Wladimir Atlasow, den er als Erforscher von Kamtschatka vorstellt. Er habe seine Expedition im Fort Anadyrsk begonnen und nebenbei den Nachweis erbracht, dass Asien und Amerika durch eine Meeresstraße getrennt sind. Nichts davon trifft zu. Atlasow war ein brutaler Eroberer, der Kamtschatka an der Wende zum 17. Jahrhundert überfiel; Fort Anadyrsk liegt tausend Kilometer nördlich von Kamtschatka – auf Kamtschatka gab es, logischerweise, vor dem Eindringen der kosakischen Beutemacher keine russischen Forts. Und die erste (dokumentierte) Durchquerung der Beringstraße, etwa achthundert Kilometer nördlich von Anadyrsk, gelang bereits 1647 einem anderen Kosakenführer, Semjon Deshnjow. Der danach in der Region von Anadyrsk strandete und jenes erwähnte Fort gründete.

Warum ist es nicht kleinlich, Millers Fauxpas so herauszustellen? Zum einen, weil er typisch für die oberflächliche Lektüre ist, mit der sich der Autor in die Geschichte des russländischen Imperiums eingearbeitet hat. Zum anderen hätte die Zeit von Zar Peter dem Großen, in welche die Eroberung Kamtschatkas fiel, ein großartiges Beispiel für eine erfolgreiche und nachhaltige Ostasienpolitik abgegeben. Erfolgte doch gleich in Peters erstem Herrschaftsjahr (1689) der Abschluss eines Handels- und Grenzvertrags mit dem chinesischen Reich, der für anderthalb Jahrhunderte stabile und einträgliche Beziehungen zwischen den beiden Imperien garantierte. Das war kein nur en passant erwähnenswerter Misserfolg. Westeuropäische Monarchen hätten sehr viel dafür gegeben, einmal wie Peter auf Augenhöhe mit einem chinesischen Kaiser verhandeln zu dürfen.

Millers erste Fallstudie ist das Verhältnis von Zar Alexander I. zu Russisch-Amerika (Alaska). Ob diese damalige Kolonie russländischer Pelzhändler am Nordwestende des amerikanischen Kontinents noch zu Ostasien gehört, sei dahingestellt. Dem Autor geht es um das angeblich offene Ohr des russischen Imperators für die Rufe der Kaufleute nach staatlicher Unterstützung. Denn selbst konnte sich deren Stützpunkt nicht versorgen. Er geriet zunehmend in Abhängigkeit von Lebensmittellieferungen ausgerechnet amerikanischer Händler, der Konkurrenz im Kerngeschäft mit Rauchwaren. Zar Alexander war bereit, die Russisch-Amerikanische Kompanie über den Ozean zu versorgen. Doch expansionistischen Projekten Richtung Kalifornien und Hawaii erteilte er eine Absage. Letztlich geht es in diesem Kapitel mehr um die in der Tat rasch zerplatzten Träume nicht-staatlicher Handelsimperialisten vor Ort, aber nicht um eine imperiale Vision des Zaren. Dass Alaska erst unter Alexanders Sohn, Zar Nikolaj I., eine offizielle Kronkolonie wurde, erwähnt Miller ebenso wenig wie die Verleihung der Handelsprivilegien an die Russisch-Amerikanische Kompanie durch Alexanders Vater, Zar Paul I.

Die zweite Fallstudie stellt den vielleicht ehrgeizigsten aller Generalgouverneure von Ostsibirien vor, Nikolaj Murawjow. Er annektierte in den 1850er-Jahren auf eigene Faust die Amurregion, also die 1689 China zugesprochene Grenzregion am Pazifik. Murawjow hatte im britisch-chinesischen Opiumkrieg (1839–1842) eine tiefgreifende Schwäche des Reichs der Mitte erkannt. Im Windschatten des zweiten Opiumkriegs (1856–1860), in dem Petersburg geschickt als Vermittler agierte, folgte die Annexion eines Küstenstreifens südlich des Amur und die Gründung des Marinestützpunkts Wladiwostok. Diese riesige Region war damals wie heute ökonomisch „strukturschwach“ – dennoch ist die ehemalige Provinz der chinesischen Qing-Dynastie immer noch unter russischer Herrschaft. Die öffentliche Begeisterung für die Neuerwerbungen am Pazifik verpuffte in Russland allerdings schnell.

Schon in den siebziger Jahren sieht Miller das nächste Ostasienfieber aufsteigen, diesmal im zentralasiatischen Grenzgebiet zwischen dem Zarenreich und dem Chinesischem Imperium. Petersburg versuchte Ablösungserscheinungen an der chinesischen Nordwestgrenze für eine Grenzverschiebung zu nutzen, scheiterte aber am entschlossenen chinesisch-britischen Widerstand. Ein Krieg mit London wegen einer marginalen Territorialfrage mochte niemand riskieren, außer dem Forschungsreisenden Nikolaj Przewalski. Schwerlich können die Auslassungen dieses Wegbereiters eines antiasiatischen Rassismus als Blase „der“ russischen Politik gelten.

Das vierte Beispiel nimmt den russischen Ostasienimperialismus der Jahrhundertwende in den Blick, der mit dem Namen von Finanzminister Sergej Witte einerseits und dem für Russland unglücklich verlaufenden Krieg mit Japan andererseits verbunden ist. Der Kompromissfriede mit Tokio war eine peinliche Niederlage des Zarismus, er beendete aber keineswegs die Präsenz Russlands in der Region; Petersburg behielt die Kontrolle über das durch chinesisches Territorium gebaute Endstück der transsibirischen Eisenbahn. Entlang dieser Strecke blühte bis zum Untergang des Zarenreichs eine moderne, exportorientierte (Land)wirtschaft. Die Argumentation in diesem Kapitel fokussiert dagegen auf einen kriegsbereiten Zaren und einen angeblich friedwilligen Witte.

In der fünften Fallstudie geht es um die Chinapolitik der Bolschewiki nach ihrer Machtergreifung. Je mehr in den frühen zwanziger Jahren die Aussichten auf Revolutionen in den westeuropäischen Industriestaaten schwanden, desto mehr faszinierte in Moskau die Aussicht auf einen Revolutionsexport nach China. Seit dem Sturz des Kaisers (1911) befand sich das Riesenreich in einem Gärungsprozess, den Moskau durch Unterstützung der stärksten Kraft, die nationalrevolutionäre Bewegung der Guomindang, für sich nutzen wollte. Das misslang – wie mit den antikommunistischen Säuberungen in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre schmerzhaft deutlich wurde. Hier platzte tatsächlich eine Blase hochfliegender Erwartungen.

Kapitel sechs und sieben untersuchen die Ostasienpolitik von Stalin und seinen Nachfolgern. Stalin agierte zunächst defensiv-vorsichtig gegen das hochgerüstete Japan. Doch mit der Annexion der Mandschurei durch Tokio und der Eskalation des chinesischen Bürgerkriegs geriet die Sowjetunion in die komfortable Lage eines interessierten Zuschauers, zementiert in einem Neutralitätsvertrag mit Japan. Eine „bubble“ entstand am Ende des Weltkriegs. Die Niederlage Japans bot Moskau eine Gelegenheit zur territorialen Expansion in Ostasien, die auf Sachalin und den Kurilen-Inseln auch bleibend gelang. Dagegen sollte sich die Hoffnung auf eine dauerhafte Achse zwischen der UdSSR und der neugegründeten Volksrepublik Jahre als Wunschdenken erweisen. Mao lehnte die Rolle eines Juniorpartners ab. Die sino-sowjetische Entfremdung eskalierte 1969 bis an den Rand eines Kriegs; die Grenze zwischen den beiden kommunistischen Supermächten schloss sich. Niemals war Russland (bzw. die UdSSR) militärisch stärker in Ostasien – niemals war zugleich der politische Einfluss schwächer. Das war aber weniger eine plötzlich platzende Blase als ein langer Weg in eine Sackgasse.

Diesen Zustand zu ändern, bemühte sich Michail Gorbatschow, der letzte sowjetische Generalsekretär, in den späten 1980er-Jahren. Um die Öffnung seines Landes anhand der Parameter „Abrüstung“ und „wirtschaftliche Kooperation“ und die wieder aufgenommenen diplomatischen Beziehungen mit der Volksrepublik geht es im achten Kapitel. Zwar gelang es Gorbatschow, so Millers pointiertes Fazit, Moskau in Ostasien weniger furchteinflößend erscheinen zu lassen, aber nicht attraktiver als wirtschaftlicher oder sicherheitspolitischer Partner. Gorbatschows Traum, dass eine verjüngte Sowjetunion eine Führungsrolle in Ostasien übernehmen konnte, platzte mit der Auflösung dieser Union.

Auf ein Fazit verzichtet das Buch, sondern wagt den Ausblick, dass die aktuelle Umorientierung Russlands in Richtung China nur ein weiteres Strohfeuer sein wird. Dafür sprach in der Tat die ökonomische Verflechtung mit Westeuropa – bevor Wladimir Putin den Überfall auf die Ukraine beschloss.

Miller hat eine eigenwillige Interpretation der russischen Ostasienpolitik der letzten zweihundert Jahren vorgelegt, die aber trotz aller Kritik faktenreich und vor allem lesbar ist. Der Umfang der zitierten englisch- und russischsprachigen Forschungsliteratur ist beachtlich. Leider fehlt ein Literaturverzeichnis ebenso wie eine Diskussion des Forschungsstands. Beides kann man in einer akademischen Publikation eines renommierten Verlags durchaus erwarten. Der Fokus der Untersuchung liegt vor allem auf der Außenpolitik und auf prominenten Akteuren, die Analyse erfolgt durch die Augen dieser hauptstädtischen Eliten. Entsprechend deskriptiv ist die Darstellung, oft werden mehr Seiten für den Rahmen der Ereignisse benötigt als für die Vorstellung der „Blasen“ selbst.

Die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Binnensicht und die Wahrnehmung aus Russlands Fernem Osten kommen zu kurz. Vieles ist eine Frage der Schwerpunktsetzung (die aber in der Einleitung nicht begründet wird) – doch manche Lücke bleibt unverständlich. So erwähnt Miller das mandschurische Harbin nicht, das Zentrum des russischen Imperialismus um 1900. Und auch nicht den Orientalismus, dessen Wirksamkeit in Russland zuletzt in der Forschung heftig diskutiert wurde. Ideologien und Asienbilder skizziert Miller holzschnittartig, manchmal auch verzerrt, wenn er Warnungen vor einer „Gelben Gefahr“ bereits seit den 1870er-Jahren als Leitbild wirken sieht. Auch dass er Fjodor Dostojewskij zum Kronzeugen und Zitatgeber für den reißerischen Titel wählt, wirkt unglücklich. Der berühmte Schriftsteller träumte von einer Zivilisierungsmission im transkaspischen Asien und hat wenig zu Ostasien gesagt.

Am Schluss bleibt ein verhaltenes Fazit. Forscher:innen werden in dem Buch wenig Neues außer der einen oder anderen Anekdote finden. Student:innen werden hoffentlich angeregt, zu fragen, was denn eigentlich in Ostasien zwischen den Millerschen „Bubbles“ passierte.