B. Aschmann u.a. (Hrsg.): Liebe und tu, was du willst?

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Titel
Liebe und tu, was du willst?. Die "Pillenenzyklika" Humanae vitae von 1968 und ihre Folgen


Herausgeber
Aschmann, Birgit; Damberg, Wilhelm
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte Reihe C: Themen der kirchlichen Zeitgeschichte (3)
Erschienen
Anzahl Seiten
397 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sarah Thieme, Centrum für Religion und Moderne, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

In seinem nachsynodalen Schreiben „Amoris Laetitia“ bestätigte Papst Franziskus 2016 die Gültigkeit des Verbots der künstlichen Empfängnisverhütung für Katholik:innen. In dem Schreiben, das der Sexualmoral sowie Familienvorstellungen der katholischen Kirche gewidmet war, bezog er sich wiederholt auf die bis heute geltende Enzyklika „Humanae Vitae“, die Papst Paul VI. im Juli 1968 veröffentlicht hatte und in der jener das bestehende Verbot der Empfängnisverhütung bekräftigte. Diese sogenannte „Pillenenzyklika“ ist Untersuchungsgegenstand des von der Historikerin Birgit Aschmann und dem Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg gemeinsam herausgegebenen Sammelbandes, dessen Erkenntnisinteresse nicht nur der Vor- und Entstehungsgeschichte der Enzyklika, sondern insbesondere ihrer Wirkungsgeschichte sowie ihren bis heute spürbaren Folgen für die katholische Kirche wie auch für die Gesellschaft insgesamt gilt. Die Herausgeber:innen stellen ihren Band unter das titelgebende Zitat: „Liebe und tu, was du willst“. Diesen Satz des Augustinus beanspruchten Katholik:innen für sich, die auf dem Essener Katholikentag 1968 um ihr Verständnis von Liebe, Autorität, Gewissen und Sexualität rangen und dem Papst in Reaktion auf die Enzyklika den Gehorsam aufkündigten. Jenes Ringen, die Diskussionen und Auseinandersetzungen um Liebe und Sexualität sowie um die päpstliche Autorität infolge der Enzyklika stehen im Mittelpunkt der Analysen. Die Ergebnisse des Bands gehen auf eine gleichnamige, 2018 veranstaltete Tagung zurück.1

Bestechend an dem Sammelband ist, dass er sich der Enzyklika und ihrer Wirkungsgeschichte erstmalig interdisziplinär widmet und hierfür in 14 Beiträgen Historiker:innen, Kirchenhistoriker:innen, Moraltheolog:innen und Kirchenrechtler:innen zusammenbringt.2 Räumlich liegt der Fokus dabei auf der Bundesrepublik Deutschland. Überaus gelungen ist die Einleitung der Herausgebenden, in der sie Thema und Erkenntnisinteresse des Bandes präsentieren und die Beiträge konzise zusammenfassen. Bestechend und für jeden Einstieg in die historische Beschäftigung mit der katholischen Sexualmoral, mit Familien- und Gendervorstellungen innerhalb des Katholizismus seit den 1960er-Jahren unbedingt empfehlenswert sind vor allem die in sieben Unterkapiteln herausgearbeiteten Thesen, die Aschmann und Damberg aus den Beiträgen extrahiert haben. Überzeugend lesen sie die Wirkungsgeschichte der Enzyklika als eine Geschichte des Autoritätsverlustes des päpstlichen Lehramtes: Auf die Veröffentlichung von „Humanae Vitae“ folgte eine Phase „heftige[n] Widerstand[es]“ (S. 4) im Sommer 1968. Viele Katholik:innen, vor allem in den USA und in Westeuropa, die sich in „Ehenot“ befanden und ermutigt worden waren, in der Verhütungsfrage ihrem Gewissen zu folgen, lehnten die Entscheidung offen ab. Es schloss sich eine zweite Phase des Schweigens an, in der die Mehrheit der Katholik:innen die Enzyklika in ihrer Lebensführung praktisch missachteten. Dies bedingte faktisch eine „Erosion“ (S. 22) der päpstlichen Autorität. Auf die vielen Geistlichen, die die Gewissensentscheidung verteidigten und damit im Widerspruch zu „Humanae Vitae“ standen, wurde zunehmend Homogenisierungsdruck ausgeübt, der sie sprachlos machte. Über diese Sprachlosigkeit ziehen die Herausgeber:innen eine Verbindungslinie zu den zahlreichen Fällen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Sie präsentieren diesbezüglich „zwei Vermutungen“ (S. 27): Erstens sei infolge der Sprachlosigkeit über Sexualität auch der Missbrauch nicht mehr thematisierbar gewesen und habe innerhalb der Institution zur Duldung von Widersprüchen und Unaufrichtigkeit geführt. Zweitens habe der Schutz der Institution im Sinne der Autoritätswahrung höchste Priorität erhalten.

Im Kapitel zur Genese der Enzyklika zeichnet der Kirchenhistoriker Franz Xaver Bischof die bereits gut bekannte Entstehungsgeschichte der Enzyklika detailreich nach. Dabei zeigt er, wie sich das Minderheiten-Votum der päpstlichen Kommission mit dem Argument der Unfehlbarkeit des Papstamtes und der Unveränderbarkeit von Lehrentscheidungen durchsetzen konnte und welch großen Anteil Kardinal Wojtyła, der spätere Papst Johannes Paul II., auf die intransparente päpstliche Entscheidungsfindung hatte.

Die Beiträge von drei Historiker:innen thematisieren die Wirkungsgeschichte der Enzyklika in der Bundesrepublik und nehmen vor allem die Perspektive katholischer Laien in den Blick: Birgit Aschmann zeigt in ihrer Analyse den Mobilisierungseffekt der Enzyklika sowie die durch sie ausgelösten Emotionen. Auf der Grundlage ihrer Analyse von an Kardinal Döpfner gesandten Briefen legt sie eindrücklich die Demokratisierung des Denkens der katholischen Laien dar. Als instruktiv erweist sich auch der Beitrag von Klaus Große Kracht, der in seiner Vorgeschichte der Enzyklika die These verfolgt, dass der Wandel der Einstellungen von Katholik:innen zu Ehe, Familie und Sexualität im Verlauf der 1960er-Jahre so stark gewesen sei, dass er eine Autoritätskrise des Papstamtes bedingte. Große Kracht zeigt auf, wie Veränderungen des Ehe- und Familienbildes sowie ein Wandel des gesellschaftlichen Diskussionsverhaltens seit den 1950er-Jahren dem Umbruch der katholischen Mentalitäten Vorschub leisteten.

Ebenfalls Reaktionen in der Bundesrepublik widmet sich das nächste Kapitel, in dem vor allem die Kirchenhierarchie sowie der organisierte Katholizismus in den Blick genommen werden sollen. Die Abtrennung vom vorherigen Kapitel erschließt sich der Rezensentin nicht, da hierdurch die Beiträge der Theolog:innen und Historiker:innen voneinander separiert werden, was für den interdisziplinären Dialog nicht förderlich erscheint. Das Verdienst des Beitrages von Florian Bock ist es, mit seiner Mikrostudie des Kaplans Theodor Holländer eine Gegenstimme zu den in den vorherigen Beiträgen präsentierten lautstarken Kritiker:innen der Enzyklika zu Wort kommen zu lassen. Dies zeigt auf, welches Potential die weitere Auseinandersetzung mit positiven Würdigungen von „Humanae Vitae“ gehabt hätte, um der im Band wiederholt diagnostizierten Pluralität des Katholizismus stärker gerecht zu werden.

Im sich anschließenden Kapitel zur „Krise weltweit“ werden mit der DDR, den USA sowie England drei Länderstudien zur Wirkungsgeschichte von „Humanae Vitae“ präsentiert. Leslie Woodcock Tentler analysiert in ihrem Beitrag zur Rezeptionsgeschichte in den USA zunächst den Proteststurm in unmittelbarer Reaktion auf „Humanae Vitae“, an den sich bereits sechs Monate später ein großes Schweigen im US-amerikanischen Katholizismus über Sexualität sowie ein deutlicher Rückgang der Beichtzahlen anschloss. Zugleich diagnostiziert die Autorin vor diesem Hintergrund seit den 1970er-Jahren eine neue moralische Autonomie der Laien. Dass auf intensive Kritik an „Humanae Vitae“ „a deafening silence“ (S. 342) folgte, bestätigt Alana Harris für England. Im Fokus ihres Beitrages steht der „spiritual storm“ (S. 323) vom Sommer 1968. Für ihre Protestgeschichte untersucht sie nicht nur Leser:innen-Briefe, sondern mit sogenannten „pray-ins“ und Besetzungen von Kirchengebäuden auch Protestformen, die die mehrheitlich aus der konservativen Mittelschicht stammenden Katholik:innen von den „68ern“ übernahmen. Heftigen Widerstand gegen die Enzyklika konnte sie auch unter den englischen Klerikern nachweisen. Bei Harris klingt bereits an, was der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff im letzten Kapitel weiter ausführt: Dass das Schweigen der Kirchenhierarchie die Nicht-Rezeption der Enzyklika durch die Laien verdeckte, die seiner Ansicht nach auch Chancen für die Kirche beinhaltet.

Insgesamt handelt es sich um einen konzisen Band, der die (kirchen-)historischen Forschungen zu Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von „Humanae Vitae“ im bundesrepublikanischen Katholizismus wie in der Gesellschaft subsummiert und als Geschichte des Verlustes der päpstlichen Autorität überzeugend erzählt. Wenngleich viele der quellen- und literaturgesättigten Beiträge für sich zu überzeugen wissen, so wäre es wünschenswert gewesen, wenn die Beitragenden im Hinblick auf den einleitend angekündigten Dialog zwischen den Disziplinen stärker miteinander ins Gespräch gekommen wären und ihre Erkenntnisse zueinander in Bezug gesetzt hätten. Eine gewisse zeitliche Lücke in der präsentierten Wirkungsgeschichte besteht zwischen der dichten Erforschung der 1960er-Jahre sowie der Bearbeitung gegenwärtiger Folgen. Begrüßenswert wären daher zukünftig auch Untersuchungen mit einer langfristigeren Perspektive über die 1970er- bis 2000er-Jahre, wie sie Tentler unternimmt. Gerade die Reaktionen und Folgen für die katholischen Laien in Form von Lokal- und Regionalgeschichten, die auch den „globalen Süden“ miteinbeziehen sollte, scheinen hier ein erfolgversprechendes Feld zu sein. Dies würde auch die Möglichkeit bieten, die im Hinblick auf die langfristigen Folgen der Enzyklika für die gegenwärtige Krise der katholischen Kirche, bedingt durch ihren Umgang mit einer Vielzahl von Fällen sexuellen Missbrauchs, formulierten Thesen stärker analytisch herauszuarbeiten, um die herausgestellte Kausalitätsvermutung zu überprüfen. Es bleibt zu hoffen, dass der sehr gelungene Sammelband den Auftakt zu einer intensivierten historischen Forschung über eine „Vorgeschichte der Gegenwart“ (Doering-Manteuffel/Raphael) des bundesrepublikanischen Katholizismus bildet; denn der Band zeigt eindrücklich auf, dass der Katholizismus in bundesrepublikanischen Gesellschaftsgeschichten stets mitbedacht werden sollte.

Anmerkungen:
1 Vgl. Stephan Knobs, Tagungsbericht: Liebe und tu, was du willst? Die „Pillenenzyklika“ Humanae Vitae von 1968 und ihre Folgen, 05.09.2018–06.09.2018 Bonn, in: H-Soz-Kult, 03.11.2018, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7910 (17.12.2021).
2 Disziplinäre, vor allem moraltheologische Perspektiven bieten anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Erscheinens der Enzyklika etwa: Sigrid Müller / Konrad Hilpert (Hrsg.), Humanae Vitae – die anstößige Enzyklika. Eine kritische Würdigung, Freiburg 2018; Helmut Prader (Hrsg.), 50 Jahre Enzyklika Humanae vitae. Referate der "Internationalen Theologischen Sommerakademie 2018" des Linzer Priesterkreises in Aigen 2019.

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