W. Riess (Hrsg.): Colloquia Attica II

Cover
Titel
Colloquia Attica. Band 2. Neuere Forschungen zu Athen im 5. Jahrhundert v. Chr.


Herausgeber
Riess, Werner
Reihe
Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne (12)
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Unfricht, Institut für Antike, Karl-Franzens-Universität Graz

Der vorliegende Sammelband vereint neun Beiträge zum Athen des 5. Jahrhunderts v.Chr. in sich, sowie ein Vor- und Nachwort des Herausgebers. Aufgrund der gewählten Thematik ist klar, dass sich die Autor:innen in der einen oder anderen Form mit der attischen Demokratie und dem Attisch-Delischen Seebund auseinandersetzen. Hier wird allerdings klargestellt, dass man sich nicht mit der „Demokratie selbst und ihrem Funktionieren“ (S. 12) beschäftigt, sondern mit den Rahmenbedingungen sowie mit der demokratischen Verfassung zusammenhängenden „Phänomenologien“ (S. 11).

Die behandelten Aspekte sind breit gefächert. So finden sich etwa Beiträge zu rechts-, wirtschafts-, militär-, ideen-, kunst- und rezeptionsgeschichtlichen Fragestellungen. Zweifellos liegt eine Stärke des Buches darin, dass trotz – oder gerade aufgrund – der Vielzahl an verschiedenen Perspektiven ein in sich schlüssiges und durch verschiedene Nuancen bereichertes Bild der athenischen Polis im 5. Jh. gezeichnet wird. Ermöglicht wird dies durch die dem Ziel der Reihe der „Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne“ entsprechende Erforschung sinn- und identitätsstiftender Konstituenten, welche gleichsam als thematische Klammer der verschiedenen Beiträge fungiert. Positiv hervorzuheben ist in diesem Kontext auch die Entscheidung, dem Band eine Bilanz des Herausgebers hintanzustellen, in welcher die grundlegenden Thesen und Erkenntnisse nochmals herausgestrichen und die unterschiedlichen Aufsätze miteinander in Bezug gesetzt werden.

Aber auch unabhängig davon fällt auf, dass sich die Ausführungen der Autor:innen mehrfach komplementieren – siehe hierzu auch die folgende Kurzzusammenfassung und Kritik einiger Beiträge –, was ebenfalls zu dem oben erwähnten, vor allem für einen Sammelband überraschend hohen und positiv zu wertenden Grad an Kohärenz beiträgt.

Armin Eich demonstriert in seinem Beitrag, dass gewisse athenische Praktiken politischer und wirtschaftlicher Expansion, Einflussnahme und Kontrolle, wie etwa die erpresserische Eintreibung von Tributzahlungen, nicht erst eine Erscheinung des Attisch-Delischen Seebundes darstellen, sondern dass dieser lediglich Maßnahmen regulierte und institutionalisierte, welche bereits zur Peisistratidenzeit angewandt worden waren. Durch das Aufzeigen einer kontinuierlichen Entwicklungslinie athenischer Beherrschungspraxis von der Spätarchaik bis ins späte 5. Jh. v.Chr. wird einerseits die Auffassung einer aggressiven, expansiven und interventionistischen Außenpolitik als einem Charakteristikum athenischer Seebundpolitik während der mittleren bis späten Pentekontäetie und insbesondere des Peloponnesischen Krieges relativiert. Andererseits folgt daraus aber auch, dass die Perserkiege in diesem Punkt eine weniger tiefgreifende Neu- und Umorientierung hervorgerufen zu haben scheinen als bisher angenommen.

Ein wesentliches Instrument athenischer Hegemonialpolitik und Machtdemonstration, der Kapitulationsvertrag bzw. Diktatfriede (homologia), steht dann im Zentrum der Ausführungen von Philipp Scheibelreiter, dessen Beitrag sinngemäß auf jenen von Eich folgt. Methodisch interessant ist auch, dass Scheibelreiter seine Auffassung der homologia als einer „einseitigen Anerkennung einer Tatsache“ (S. 95) aus dem Bereich des griechischen bzw. hellenistischen Privatrechts bezieht und – meiner Ansicht nach sehr gelungen – auf Völkerrechtsverträge umlegt. Anhand der Analyse von Sprache und Inhalt unterschiedlicher Homologie-Verträge zeigt er eindrücklich, dass dem Attisch-Delischen Seebund von Beginn an eine athenische Vorrangstellung immanent gewesen zu sein scheint, welche sich im Laufe seines Bestehens weiter verdichtete und institutionalisierte, wobei sich Athen gegenüber seinen Bündnern zunehmend autoritär gebärdete.

Claudia Tiersch beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit der veränderten – und sich verändernden Stellung – der Elite innerhalb der athenischen Demokratie, wobei sie diese Entwicklung anhand dreier Phasen der Demokratie (von der Etablierung der Demokratie bis zum Tod des Perikles 429 v.Chr.; die oligarchischen „Zwischenspiele“ bis zur Wiedereinführung der Demokratie 403 v.Chr.; die Demokratie im 4. Jh. v.Chr.) festzumachen sucht. Rekurrierend auf die Feldtheorie Bourdieus streicht sie die Interrelation von sozialem und politischem Feld heraus und untersucht, inwiefern sich die politischen Entwicklungen negativ auf die gesellschaftlichen Behauptungsmöglichkeiten der attischen Aristokratie auswirkten und in Unzufriedenheit und Resistenz resultierten.

Diesen Faden greift dann Wolfgang Blösel wieder auf, indem er sich mit den Spannungen zwischen Aristokratie und Demokratie zur Zeit der oligarchischen Putsche von 411 bzw. 404/03 v.Chr. näher auseinandersetzt und speziell nach den Gründen für die scheinbar erfolgreiche Reintegration der vormals unzufriedenen Elite(n) in das demokratische System nach 403 v.Chr. fragt.

Einer der Höhepunkte des Bandes ist Martin Drehers Beitrag zum Verhältnis von Staat und Individuum innerhalb der athenischen Polis von ca. 700 v.Chr. bis in die klassische Zeit. Er betont, dass die fortschreitende Individualisierung erst die Politisierung ermöglicht hat und dass beide Phänomene in einem reziproken Verhältnis zueinander stehen. In Konsequenz daraus kommt er auch auf den athenischen Staatswerdungsprozess zu sprechen. Zentral ist hierbei seine Feststellung, dass man nicht von der graduellen Entwicklung staatlicher Institutionen und Elemente auf einen ebenso graduellen Staatswerdungsprozess schließen dürfe. Vielmehr müsse der Schritt in die Staatlichkeit mit einem konkreten und bewussten Schritt erfolgt sein. Um diesen Sprung von der Vorstaatlichkeit in die Staatlichkeit adäquat fassen bzw. beschreiben zu können, ist für Dreher der Staatsbegriff unerlässlich. Er bezieht damit klar Stellung in einer Debatte, welche seit einigen Jahrzehnten vor allem in der deutschsprachigen Forschungsliteratur um die Verwendung des Terminus „Staat“ für unterschiedliche politische Gebilde der griechisch-römischen Antike geführt wird.1

Zu bemängeln gibt es wenig. Dennoch seien ein paar Kritikpunkte angeführt: Tiersch spricht im Kontext des Hermenfrevels von 415 v.Chr. von den Hermen als „Symbole der städtischen wie demokratischen Ordnung“ (S. 35). Die Aufstellung von Hermenstatuen als Wegmarker geht allerdings in archaische, vordemokratische Zeit zurück. Viele der Hermen in Athen und im Umland entstammen zudem dem infrastrukturellen Ausbauprogramm des Tyrannensohnes Hipparch und waren teils mit entsprechenden Inschriften versehen.2 Die Hermen sind also sehr wohl als Symbole der städtischen Ordnung aufzufassen, mit der Demokratie an sich haben sie allerdings wenig zu tun. Ihre politische Relevanz liegt lediglich in der Tatsache, dass die Verstümmelung der Hermen als Angriff auf die herrschende politische Ordnung verstanden werden konnte und auch wurde, und dass es sich bei dieser zum Zeitpunkt des Hermenfrevels eben um jene der Demokratie handelte.

Eine kleine terminologische bzw. theoriekonzeptionelle Ungenauigkeit unterläuft Tiersch auch bei ihrer Adaption des Bourdieuschen Feld-Begriffes. So schreibt sie: „Der Begriff des sozialen Feldes im Bourdieuschen Sinne umfasst die Gesamtheit sozialer Interaktionen aller Beteiligten, als Oberbegriff weiterer Subfelder (wie Ökonomie, Kultur, Politik).“ (S. 25). Bourdieu selbst verwendet als Bezeichnungen für die unterschiedlichen Sektoren, welche er im Hinblick auf die Gesellschaft differenziert, die Begriffe Felder bzw. Räume weitgehend synonym und zumeist im Plural. Der von Tiersch angesprochene Oberbegriff ist für Bourdieu allerdings der „soziale Raum“, und zwar im Singular, was auch auf seine Stellung als einer übergeordneten Ebene innerhalb des Bourdieuschen Theoriengebäudes hinweist.3 Der Nachvollziehbarkeit und Stichhaltigkeit der Argumentation wird damit allerdings kein Abbruch getan.

Abschließend lässt sich sagen, dass es sich hier um einen – sowohl was das Arrangement wie auch die Qualität der einzelnen Beiträge anbelangt – hochwertigen Sammelband handelt, der einen willkommenen Neuzugang zum stets regen Diskurs um das klassische Athen darstellt und dabei mit zahlreichen interessanten Facetten, Erkenntnissen und Neubewertungen aufwarten kann.

Anmerkungen:
1 Neben der von Dreher angeführten Literatur zum Thema kann als aktuelles Beispiel für eine gegenteilige Auffassung Charlotte Schubert genannt werden, welche den Staatsbegriff in ihrer kürzlich erschienenen Monographie gänzlich vermeidet. Vgl. Charlotte Schubert, Isonomia. Entwicklung und Geschichte, Berlin 2021. Ein guter Überblick über die unterschiedlichen Positionen und die jeweils vorgebrachten Argumente findet sich bei Uwe Walter, Der Begriff des Staates in der griechischen und römischen Geschichte, in: Theodora Hantos / Gustav Adolf Lehmann (Hrsg.), Althistorisches Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstags von Jochen Bleicken, Stuttgart 1998, S. 9–27.
2 Plat. Hipparch. 228d–229b; siehe ferner die Inschrift der Herme von Koropi (IG I3 1023).
3 Hans-Peter Müller, Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung, Berlin 2014, S. 487; Markus Schroer, Soziologische Theorien. Von den Klassikern bis zur Gegenwart, Paderborn 2017, S. 318f. Neben dem sozialen Raum als Hyperonym kommt auch dem „Feld der Macht“ bei Bourdieu eine besondere Bedeutung zu. Da es in allen sozialen Feldern bzw. Räumen immer auch um Macht geht, ragt das Feld der Macht gleichsam auch in diese Felder hinein und ist als eine Art „Metafeld“ zu verstehen. Vgl. Pierre Bourdieu / Loïc J. D. Wacquant, Reflexive Anthropologie. Frankfurt a. M. 1996, S. 38.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension