K. Schlögel u.a. (Hrsg.): Sankt Petersburg

Cover
Titel
Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte


Herausgeber
Schlögel, Karl; Schenk, Frithjof Benjamin; Ackeret, Markus
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Campus Verlag
Anzahl Seiten
439 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan C. Behrends, Wissenschaftszentrum Berlin

Bereits 1833 beschrieb Alexander Puschkin in seinem Gedicht „Der Eherne Reiter“ die Ambivalenzen urbanen Lebens am flutbedrohten Delta der Newa und begründete damit den „Petersburger Text“, jene Form der Selbstreflexion, die seitdem die nördliche Hauptstadt Russlands in ihrer Geschichte begleitet hat. Es ist das Anliegen des vorliegenden Bandes zur Stadtgeschichte St. Petersburgs, dieses diskursive Netz im Stadtraum zu verankern. In zwei Dutzend wissenschaftlichen Essays versuchen deutsche und russische Autoren zentrale Orte St. Petersburgs zu beschreiben. Dabei konzentrieren sie sich auf das Jahrhundert von Expansion, Revolution und Weltkrieg, dass die Stadt zwischen 1850 und 1950 sozial vollständig veränderte und in ihrem architektonischen Zentrum doch erstaunlich unberührt ließ. Es handelt sich um kulturhistorische Spaziergänge durch die Kulissen des Dramas der russischen Moderne.

Der Band gliedert sich in zehn Abschnitte, die von einer methodischen Einführung Karl Schlögels bis zu einem Epilog Natalja Lebinas reichen. Einleitend plädiert Karl Schlögel dafür, den historischen Schauplätzen einen größeren Stellenwert in der Stadtgeschichte zuzugestehen, die topographischen Gegebenheiten einer Stadt genau zu analysieren und ihren räumlichen Wandel zu beschreiben. Dieser Ansatz Schlögels, der nach dem Gewicht urbaner Strukturen und der Geschichte einzelner Orte fragt, bildet den Leitfaden für die folgenden Essays. In zwei beeindruckenden Studien erklären Frithjof Benjamin Schenk und Wladimir Velminski die Verbindungen zwischen Zar und Gründer Peter I. und seiner Stadt. Schenk konzentriert sich auf allegorische Selbstdarstellungen, die der Zar und seine Nachfolger im Stadtbild schufen – ein stabiles Netzwerk von Bedeutungen, das auch die bolschewistische Herrschaft, die 1924 von Moskau aus die Umbenennung in Leningrad dekretierte, nicht grundlegend veränderte. Gleich mehrere Beiträge widmen sich der ethnischen Vielfalt der Metropole. Anke Hilbrenner zeigt, dass es trotz des zarischen Ansiedlungsverbotes ein jüdisches St. Petersburg gab. Kathleen Klotchkov macht sich auf die Suche nach dem „Russischen“ in dieser vermeintlich europäischsten Stadt des Zarenreiches. Sie bespricht die Entstehung der Auferstehungskirche, die um die Jahrhundertwende im altrussischen Stil an jenem Ort errichtet wurde, an dem im Jahr 1882 Zar Alexander II. durch Terroristen ermordet worden war, und die stilistisch ein Solitär im klassizistischen Stadtbild blieb. Schließlich widmet sich Reinhard Nachtigall dem deutschen Kirchen- und Vereinsleben, das von der Stadtgründung bis in die 1920er-Jahre fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens war.

Ein weiterer Abschnitt des Bandes erkundet die Synapsen der modernen Metropole. Olivia Griese schreibt über den Hafen, Frithjof Benjamin Schenk über die Bahnhöfe und Monica Rüthers über den Moskowski Prospekt, jene Ausfallstraße Richtung Moskau, an dem die Bolschewiki ihr sozialistisches Leningrad planten und erbauten. Schließlich beschreibt Jörg Ganzenmüller jene Lebensader zur Versorgung Leningrads, die während der deutschen Blockade zwischen 1941 und 1944 über den Ladogasee führte. Routen durch die Stadt bilden den Fokus von drei Aufsätzen, die sich mit dem Tourismus, sowjetischen Massenfesten und der Metro beschäftigen. Julia Röttjer zeigt, wie die Bolschewiki in den Jahren nach der Revolution die Stadt als Kulisse für ihre Spektakel nutzen und Karen Ohlrogge bespricht den unterirdischen Stadtraum der Metro, der nicht nur das sowjetische Experiment überhöht und sakralisiert, sondern auch als Ort der Erziehung und Belehrung für sozialistische Untertanen konzipiert wurde.

Auf der Suche nach zentralen Ereignissen der Stadtgeschichte, die an spezifische Orte gebunden sind, verfolgt Jannis Panagiotidis die Spuren der Leningrader Blockade im Stadtbild, während Markus Ackeret Wjatscheslaw Iwanow und seinen „Turm“ als Repräsentanten des „silbernen Zeitalters“ der Petersburger Kultur exemplarisch herausgreift. David Sittler beobachtet die Veränderungen eines Ortes durch die Geschichte von Gewalt und Revolution am Beispiel des Snamenskaja Platzes, der seit 1918 Platz des Aufstandes heißt und den heute nicht mehr die ursprünglich namensgebende Kirche ziert, die in den 1930er-Jahren abgerissen wurde, sondern ein Marmorobelisk, der einen weithin sichtbaren Sowjetstern trägt. Alexej Leporc erklärt, warum der letzte Zar Nikolaus II. das Leben im idyllischen Zarskoje Selo, einer Vorortresidenz, dem repräsentativen Winterpalast im Zentrum vorzog und interpretiert diese Präferenz des Autokraten als Teil der Verfallsgeschichte zarischer Herrschaft an der Newa. Kirsten Bönker überzeugt mit einem Essay über die Zentrale der Ochrana, der gefürchteten Geheimpolizei der Zaren, an der Fontanka, wo vor der Einquartierung der Tscheka in die Moskauer Ljubjanka das Zentrum staatlicher Willkür in Russland symbolisch lokalisiert war. Schließlich erklärt Vladimir Lapin, wie sich das Militär von seiner Keimzelle in der Peter-und-Pauls-Festung Petersburgs und seiner Vororte bemächtigte. Armee und Marine sind bis heute nicht aus dem Stadtbild der russischen Metropole wegzudenken.

Die Aufsätze über Freizeit und Alltag bewegen sich jenseits der traditionellen Linien des Petersburger Textes. Julia Obertreis schreibt über das bürgerliche und das proletarische Wohnen. Sie widmet sich den Kommunalwohnungen („komunalka“), einer Form der Zwangsvergemeinschaftung, die nach der Revolution entstand und über Jahrzehnte im Zentrum Leningrads üblich war. Ilja Utechin befasst sich mit der inneren Ordnung dieser Kommunalwohnungen, in denen die Bewohner sich verzweifelt mühten, kümmerliche Reste ihrer Privatheit zu verteidigen. Oksana Sariokova bespricht den Anteil des Kinos am modernen Petersburger Stadtraum. Den städtischen Gärten spürt Vera Morjachina in ihrem Beitrag nach. Zunächst standen die großen Gartenanlagen für zarisches Pathos und aristokratische Repräsentation, doch schon bald wurden soziale Motive erkennbar. Und um die Jahrhundertwende entstanden auch in Europas nördlichster Metropole Vergnügungsparks. Schließlich weiß die Verfasserin zu berichten, dass selbst für die politischen Gefangenen in der Peter-und-Pauls-Festung ein Kerkergarten existierte. Den Band schließt ein Essay Natalja Lebinas, die sich dem Schicksal der Leningrader in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts widmet. Obwohl die Stadt unter Krieg und Gewaltherrschaft litt, blieb ihr Mythos intakt; noch heute prägt er die Identität der Bewohner. Der Petersburger Text nahm die Tragödien von Revolution, Stalinismus und Blockade in selektiver Weise in sich auf.

Der vorliegenden Aufsatzsammlung gelingt es, den Leser durch ihren Facettenreichtum und die sprachliche Qualität der Beiträge zu beeindrucken. Dem topographischen Konzept des Buches folgend beginnt jeder Essay mit einer Karte, so dass der besprochene Ort in der Metropole lokalisiert werden kann. So entfaltet sich im Laufe der Lektüre ein immer dichteres Bild der Stadt und ihrer historischen Schauplätze. Vielfältige Illustrationen erhöhen die Anschaulichkeit und die knappen Literaturhinweise erlauben wissenschaftlichen Nutzern eine tiefere Beschäftigung mit der Materie. Insbesondere zum Einstieg in die Beschäftigung mit St. Petersburg ist der Band vortrefflich geeignet; für Experten dürfte der Reiz eher in der topographischen Perspektive liegen. Es ist der Verdienst des Bandes, die besondere Topographie Petersburgs auf diese Weise nachvollziehbar gemacht zu haben. Dies geschieht auf eine Art und Weise, die von der neueren Kulturgeschichte Russlands geprägt ist. Leider werden die Debatten über die Spezifika der russischen Stadt beziehungsweise der Moderne in Russland nur gestreift. Hier ist die Chance zu einer deutlicheren Positionierung verschenkt worden.

Doch insbesondere für ein breites Publikum sind diese Schauplätze einer Stadtgeschichte zu empfehlen – sei es als Ergänzung zu konventionellen Stadtführern oder als Nachschlagewerk während einer Dostojewski-Lektüre. Wer vorzüglich aufbereitete Informationen zu St. Petersburg sucht, findet sie hier in großer Fülle. Aus stadtgeschichtlicher Sicht ist allerdings zu bedauern, dass der Band sich bis auf wenige Ausnahmen auf die Hochkultur beschränkt. Vom St. Petersburg der zugewanderten Bauern, armen Industriearbeiter, der Prostituierten und Hehler, der Spieler, Kleinbürger und obdachlosen Tagelöhner – vom Petersburg, das aus „Schuld und Sühne“ vertraut ist – erfährt man kaum etwas. Die Außenseiter, die Irren und Kranken fehlen in dieser Zusammenschau. Hatten sie nicht auch ihre Plätze? Auch die Orte des Schreckens und der Willkür, mit denen der Parteistaat nach der Revolution die Stadt überzog, finden nur am Rande Erwähnung. Wo wurde gelitten und gemordet? Wo wurde „gesäubert“ und deportiert? Hier wären noch andere Schwerpunkte möglich gewesen. Doch vermutlich ist die hier verfolgte Perspektive, die die Selbstdarstellung der Herrschenden bevorzugt, bereits in der Stadt selbst angelegt. St. Petersburg war zuallererst Repräsentation, dann wurde es Text. Schließlich litt die Metropole unter den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, dessen erste politische Revolutionen auf den Straßen Petersburgs stattfanden. Den Herausgebern des Bandes ist es auf beeindruckende Art gelungen, den Petersburger Text an verschiedenen Orten der Stadt historisch zu verankern.

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