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Titel
Kaiserdämmerung. Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang


Autor(en)
Schmidt, Rainer F.
Erschienen
Stuttgart 2021: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
816 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Langewiesche, Universität Tübingen

Der Anspruch des Autors zielt hoch: „eine Neuinterpretation der Geschichte des Wilhelminischen Reiches vom Abgang Bismarcks bis zum Ende des Weltkrieges“ (S. 46).1 Das Neue bestehe in der „Abkehr von der deutschen Nabelschau“ (S. 39), die „monokausal und monoperspektivisch“ (S. 38) darauf hinauslaufe, die deutsche „Weltpolitik“ der wilhelminischen Ära habe in die Selbstisolation geführt und 1914 den Krieg ausgelöst. Während Schmidt meist von geläufigen Meinungen spricht, ohne zu sagen, wem er widerspricht, nennt er hier Namen. Auf der Arme-Sünder-Bank einer irrigen Geschichtsschreibung, die der deutschen Politik die Hauptverantwortung für den Weg in den ersten Weltkrieg aufbürde, sitzen Hans-Ulrich Wehler und Thomas Nipperdey einträchtig nebeneinander, hinzu gesellen sich Fritz Fischer mitsamt „seinen Schülern“, auch Wolfgang J. Mommsen, Michael Stürmer, Klaus Hildebrand und Volker Ullrich, und neuerdings seien weitere hinzugekommen (S. 37). Gegen sie alle und andere, die er später nennt, will er ein neues Bild der deutschen Geschichte stellen, das mit dem Kaiserreich nicht die „historische ‚Schuldfalle‘“ öffne, „in der sich die Deutschen bis heute befinden.“ (S. 37) Schmidt verspricht mithin die gründliche Revision eines Geschichtsbildes, das er als vorherrschend wahrnimmt. Der Rezensent teilt diese Wahrnehmung nicht, die nun in ihren Grundlinien skizziert wird.

Schmidt bietet zwei Bücher in einem. Das eine vermisst den Weg der europäischen Großmächte in den ersten Weltkrieg, das andere entwirft ein Gesamtbild des deutschen Kaiserreichs mit Schwerpunkt auf der wilhelminischen Ära; auch dies stellenweise vergleichend. Zunächst zum ersten, dem stärkeren Teil, in den auch Recherchen in britischen, deutschen und französischen Archiven eingeflossen sind.

Die längerfristigen Ursachen und die Auslöser des ersten Weltkrieges müssen unterschieden werden, und beides verlangt, die Politik der fünf Großmächte – Wien fehlt im Untertitel, obwohl Österreich-Ungarn einbezogen wird - vergleichend zu betrachten. Dies ist die überzeugende Ausgangsposition Schmidts. Die Wege in den Krieg können nur angemessen analysiert werden, wenn die Politik aller Großmächte in ihrem Zusammenspiel und ihren Konfrontationen untersucht werden. Alle gehören, so Schmidt, zu den Verursachern, aber mit unterschiedlichen Anteilen. Die größte Verantwortung sieht er bei der britischen Politik. „England und nicht Deutschland [war] der zentrale Weichensteller für die Umorientierung der Mächtebeziehungen vor dem Weltkrieg“ (S. 504). Der britisch-russische Interessenausgleich in Asien habe die Staatenbeziehungen in Europa revolutioniert und als „eine der Weichenstellungen zum Weltkrieg“ gewirkt (S. 438). Großbritannien habe den russischen Expansionsdrang von Asien nach Südosteuropa umgelenkt und so erst den Balkan zum „‘Pulverfass‘ Europas“ gemacht (S. 441). Um sein Empire zu sichern, habe Großbritannien seine Gleichgewichtspolitik in Europa aufgegeben und sich mit Russland und dem auf Revanche hoffenden Frankreich gegen Deutschland verbündet, das es als seinen macht- und wirtschaftspolitischen Hauptkontrahenten ansah.

Die deutsche Mitverantwortung am Umbruch der Mächtebeziehungen stellt Schmidt scharf heraus. Die neue „Weltpolitik“ nach Bismarck nennt er einen „Quantensprung in der Außenpolitik“ (S. 370), gefährlich, da ohne konkretes Ziel, und mit der Abkehr von Russland sei der Weg in eine französisch-russische „Revancheallianz“ (S. 350) geebnet worden. Auch an der hohen Mitverantwortung der deutschen Politik an der Auslösung des Krieges lässt Schmidt keinen Zweifel, doch die „Kriegstreiber saßen in St. Petersburg, Paris und London“ (S. 544).

Die „Katastrophe von 1914 war nicht zu verhindern“ (S. 569) – die „wahren Ursachen“ lägen in der „Krise des europäischen Mächtesystems“ (S. 495). Dies nennt Schmidt Ergebnis „einer objektiven Beurteilung“ (S. 569). Es wird Aufgabe der Forschung sein, sich mit seiner Argumentation auseinanderzusetzen. Dass er alle beteiligten Mächte betrachtet und die Wege in den Krieg europäisch analysiert, macht diesen Teil des Buches lesens- und bedenkenswert. Schade, dass Schmidt es dabei nicht belassen hat.

Der andere Teil ist enttäuschend. Der Autor liegt hier in Schützengräben, die von der Forschung längst verlassen wurden. Sie wird keineswegs von den zwei konträren Deutungen bestimmt, auf die Schmidt die gegenwärtige Sicht auf das Kaiserreich reduziert. Zum einem die Sonderwegthese – in seinen Worten: „Das zweite Reich als Vorläufer des dritten, erstarrt in der Blockade des Bestehenden und mit weitreichenden, fatalen Konsequenzen für den weiteren Gang der deutschen Geschichte“ – und zum anderen die Einschätzung des Kaiserreichs als „eines eigenständigen monarchischen Systems mit Stärken und Schwächen […] und vor allem mit einer offenen, nicht festgelegten Zukunft“ (S. 117). Wer sich über die nuancenreiche Vielfalt der Forschungspositionen und die vielen Wandlungen des Kaiserreichsbildes bis in die jüngste Gegenwart informieren will, kann zwischen etlichen Angeboten wählen.2 Schmidts Werk gehört nicht dazu.

Die Kernbereiche seiner Darstellung zur inneren Entwicklung im wilhelminischen Deutschland sind weitgehend ohne Bezug zur Forschung geschrieben. Etwa seine Behauptung, „die Verfassung des Kaiserreichs entsprach weitgehend dem Staatsmodell, wie es den im Geist der Aufklärung argumentierenden Liberalen im 18. und 19. Jahrhundert vorgeschwebt hatte.“ (S. 115) So lässt sich die intensive Debatte über den Ort der konstitutionellen Monarchie innerhalb der europäischen Verfassungsgeschichte gewiss nicht bilanzieren. Dazu gibt es vorzügliche neuere Studien und ein mehrbändiges Handbuch.3 Nichts davon wird genannt. Auch zu der Formulierung von „den republikanisch verfassten Staaten England und Frankreich“ (S. 135) hätte man gerne eine Erläuterung.

Die Parteien werden gänzlich forschungsfern als blockiert in „ihren starren ideologischen Positionen“ (135) charakterisiert, ohne Drang zum politischen Handeln, und das ausgerechnet in der wilhelminischen Phase, als vieles in Bewegung geriet. Und dann, obwohl er das Kaiserreich in seiner Zeit betrachten und nicht auf die Nachgeschichte ausrichten will, plötzlich diese Kontinuitätslinie zum Nationalsozialismus, die er in Gestalt der Sonderwegthese ansonsten verdammt: „Was für die Parteien galt, das galt auch für die deutsche Gesellschaft insgesamt. Das Starren auf Kaiser und Kanzler legte den Keim zu einer Führergläubigkeit, die zu einer Grundbedingung für den Aufstieg Hitlers werden sollte, als der Taumel der Niederlage, das Ende des Kaiserreichs und der »Schandfrieden« von Versailles die Leute erfasst und in ein politisches Vakuum gestoßen hatten.“ (S. 136)

Geradezu peinigend ist, was Schmidt vergleichend über den Nationalismus in Europa schreibt. Der deutsche „richtete sich nicht, wie derjenige der Spanier, Schweizer, Franzosen und Engländer, auf eine Reichsnation, denn eine solche gab es in dem bundesstaatlich zerklüfteten Territorialverband der Deutschen bis 1871 nicht.“ (S. 182) Was er über den Nationalismus in der Zeit danach schreibt, ist ähnlich desolat. Er habe „die breite Masse“ auf „staatsfromme Loyalitäten“ ausgerichtet (S. 184), doch die „oft geäußerte Ansicht“ – von wem, wird nicht gesagt – dass vom Radikalnationalismus „ein direkter Weg zu Hitler und Auschwitz führt, geht […] in die Irre. Die Sache war viel komplizierter.“ (S. 187) Letzterem wird kaum jemand widersprechen. Den Konservatismus scheint er nicht der abschüssigen Bahn zuzurechnen. „Die landläufige Ansicht, die Konservativen im Kaiserreich seien eine treue und bedingungslose Stütze des Systems gewesen, ist falsch.“ (S. 160) Die Studien, die einem dazu sofort einfallen, von Geoff Eley über James Retallack, Hans-Christof Kraus bis zu Axel Schildt, kann er mit landläufig nicht meinen.4

Die Teile zur inneren Entwicklung sind voll solcher Aussagen und voller Selbstwidersprüche. Das kann hier nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen soll abschließend versucht werden, die Botschaft zu entschlüsseln, die in den widerspruchsvollen Darstellungen zur Innenpolitik und ebenso in den Teilen zur Außenpolitik steckt. Sie lässt sich auf ihre Grundlinie verkürzt so erzählen:

Die parlamentarische Demokratie leistet nicht das, was ihr zugeschrieben wird. Diese Kernaussage zieht sich unausgesprochen durch das gesamte Buch. In der Außenpolitik hat Deutschland seit der Abkehr von Bismarcks Defensivpolitik nahezu alles falsch gemacht. Aber Großbritannien und Frankreich nicht minder. Sie stellten die Weichen auf Krieg. Parlamentarische Demokratien handelten also in der internationalen Politik nicht verantwortungsvoller als autokratische Staaten oder Staaten, deren politische Ordnung irgendwo dazwischen lag. Auch die Auslese des Führungspersonals hat in parlamentarischen Staaten nicht besser geklappt als dort, wo der Monarch bestimmte. Wilhelm II. wählte stets ungeeignete Personen aus, doch in Großbritannien und Frankreich kamen ebensolche oder gar notorische Lügner an die Macht. Premierminister Asquith, Außenminister Grey und Kriegsminister Haldane belogen die britische Öffentlichkeit und auch das Parlament, wenn sie gegen besseres Wissen „vom drohenden Verlust der maritimen Suprematie und der Gefahr einer deutschen Invasion“ „schwadronierten“ (S. 422), um ihre außenpolitische Annäherung an Frankreich und Russland zu begründen. Die plakativen Psychogramme, die Schmidt von den führenden Politikern in allen Großmächten entwirft, unterstreichen den Eindruck, dass die von Zeitgenossen wie Max Weber gerühmte Fähigkeit des parlamentarischen Systems zur kompetitiven Auswahl des politischen Führungspersonals in der Praxis nicht besser funktioniert habe als der alleinige Zugriff durch den Monarchen.

Im militärischen Bereich klappte die Auswahl der Führung in den parlamentarischen Staaten ebenfalls nicht besser als in Deutschland und in Österreich-Ungarn. General Joffre, vom Autor als wenig gebildet und anders sein deutscher Widerpart Moltke als unempfindlich gegen den Massentod der Soldaten im ersten Weltkrieg charakterisiert, habe schon als Kolonialoffizier grausam Krieg geführt. Er „massakrierte“, ließ „Tausende Dörfer abrasieren“ und „zahllose Eingeborene abschlachten“, und die Eroberung Timbuktus leitete er so, dass „er fast den gesamten Volksstamm der Touareg auslöschte“ (S. 607). Im Vergleich dazu erscheint der deutsche Kolonialkrieg bei Schmidt geradezu milde: Im „1904 blutig niedergeschlagenen Aufstand der Herero“ habe „ein großer Teil des Hererovolkes den Tod gefunden“ (S. 293). Auch hier also keine Überlegenheit des parlamentarischen Regimes. Als es der verlorene Krieg auch in Deutschland erzwang, kam es zum „Parlamentsabsolutismus“ (S. 791), den er zu den Einfallstoren der NS-Herrschaft rechnet.

Schmidt entwirft eine europäische Geschichte, in der alle Großmächte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auf den Weltkrieg zusteuerten. Doch so scharf er die deutsche Politik kritisiert – die größere Verantwortung bürdet er den anderen auf. Mit dieser Bilanz endet das Buch aber nicht. Schmidt spricht sich zwar vehement dafür aus, das Kaiserreich in seiner Epoche zu beurteilen und ihm nicht die Nachgeschichten aufzulasten. Doch von dieser Selbstbescheidung bleibt nichts übrig, wenn er aus der „totale[n] militärische[n] Selbstaufgabe“ Deutschlands 1918 (S. 757) und aus dem „Konstruktionsfehler der territorialen Neuordnung von 1919“ (S. 27) alles hervorgehen lässt, was in den zweiten Weltkrieg führte. Auch hier, in der Nachgeschichte, von der er das Kaiserreich unversehrt lassen will, verlässt er seinen Entlastungskurs nicht, stürzt aber sprachlich ab – „Alleinstellungsmerkmal“ Hitler! „Der Triumph Hitlers war […] keineswegs ein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Er lässt sich nicht mit der Perspektive einer deutschen Nabelschau erklären und schon gar nicht aus der Vorprägung der deutschen Gesellschaft durch die Hypotheken des Kaiserreichs herleiten“ (S. 790).

Schmidt entwirft ein revisionistisches Bild der europäischen Geschichte, in der alle damaligen Großmächte, einschließlich der USA, die Verantwortung für die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tragen haben. Aber die anderen doch mehr als die Deutschen. Ob man in der deutschen Gesellschaft der Gegenwart auf eine solche Geschichtströstung wartet?

Anmerkungen:
1 Die Besprechung beruht auf der PDF-Datei, die der Verlag vor Erscheinen des Buches für Rezensionen zur Verfügung gestellt hat. Textzitate wurden von der Redaktion mit der endgültigen Druckfassung abgeglichen.
2 Siehe etwa Ewald Frie, Das Deutsche Kaiserreich, 2. Aufl. Darmstadt 2012 (1. Aufl. 2004); Hans-Peter Ullmann, Politik im Deutschen Kaiserreich, München 2005.
3 Vgl. Peter Brandt / Werner Daum u.a. (Hrsg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Bände 1 – 3, Bonn 2006, 2012, 2020; Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999; Martin Kirsch / Anne G. Kosfeld / Pierangelo Schiera (Hrsg.), Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin 2002.
4 Geoff Eley, Reshaping the German Right, 2. überarbeitete Auflage mit neuem Vorwort, Michigan 1996 (1. Aufl. 1980); James Retallack, The German Right 1860 – 1920. Political Limits of the Authoritarian Imagination, Toronto 1996; Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland – von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1998; Hans-Christof Kraus, Bismarck und die preußischen Konservativen, Friedrichsruh 2000; Hans-Christof Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker in Deutschland, Berlin 1995; Panayotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986.

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