S. Plokhy: The Origins of the Slavic Nations

Titel
The Origins of the Slavic Nations. Premodern Identities in Russia, Ukraine and Belarus


Autor(en)
Plokhy, Serhii
Erschienen
Anzahl Seiten
379 S.
Preis
€ 75,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Aust, Christian-Albrechts-Universität Kiel

Serhii Plokhy nimmt den Befund, dass die Paradigmata nationaler Geschichtsschreibung nach wie vor Darstellungen der älteren ostslawischen Geschichte anleiteten, als Ausgangspunkt seines Buches über die Ursprünge der slawischen Nationen der Russen, Ukrainer und Belarussen. Die Historiker Russlands, der Ukraine und Belarus stünden nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder in einem unreflektierten Abhängigkeitsverhältnis zu den ukrainischen und russischen Meistererzählungen Wasili Kljutschewskis (1841-1911) beziehungsweise Mychailo Hruschewskys (1866-1934).1 Doch auch die Thesen der Sowjethistoriographie über die slawischen Nationsbildungen ließen sich noch als Treibgut in aktuellen Darstellungen identifizieren.

Einen Schnittpunkt finden die nationalen Darstellungen russischer, ukrainischer und belarussischer Geschichte in der Konkurrenz um das Kiewer Erbe, in der strittigen Frage, wie das Verhältnis der modernen Nationen zur Geschichte der Kiewer Rus des 9. bis 13. Jahrhunderts im Allgemeinen und zum Begriff Rus im Besonderen zu beschreiben sei. Während die russische Tradition die russische Nation vornehmlich aufgrund von Migrationsprozessen in die Kontinuität des mittelalterlichen Kiewer Reiches stellt, reklamiert die ukrainische Tradition das alleinige Recht auf das Kiewer Erbe. Die belarussische Historiographie bezieht sich auf das Fürstentum Polatsk, das Teil der Kiewer Rus gewesen war, und nimmt es als Ausgangspunkt der eigenen Nationalgeschichte in Anspruch. Die Sowjethistoriographie hat wiederum verschiedene Thesen formuliert, um diese nationalen Standpunkte miteinander zu versöhnen. Eine These lautete, dass sich die eine Nation der Rus seit der Mongolenherrschaft des 13. bis 15. Jahrhunderts in die drei Nationen der Russen, Ukrainer und Belarussen zu differenzieren begonnen habe. Eine andere nahm an, dass sich diese drei Nationen von Anbeginn des Kiewer Reiches unterscheiden ließen, jedoch stets ergänzend eine Loyalität zur gesamten Rus besessen hätten. Den Anlass, ein Buch über die Ursprünge der slawischen Nationen zu schreiben, sieht Plokhy jedoch nicht allein in diesem widersprüchlichen Traditionsbestand der Historiographien, sondern ebenso sehr in der Gegenwart Russlands, Belarus und der Ukraine gegeben, die die Frage nach Differenzen und Gemeinsamkeiten der drei Staaten und ihrer nationalen Projekte nicht minder brisant aufwerfe.

Um aus dem Schatten der nationalen Traditionen hinauszutreten, munitioniert Plokhy sich im Methodenarsenal der Forschungen zur Nationsbildung. Die gängigen Autoritäten zitierend, schneidert er ein Konzept von Nationsbildung, das mit Hobsbawm, Gellner und Anderson auf die Konstruktion und Imagination von Nationen abhebt, doch gleichzeitig unter Verweis auf Armstrong, Smith und Hastings die vormodernen ethnischen Ursprünge der modernen Nationen nicht in Abrede stellt (S. 3). In seiner Darstellung operationalisiert Plokhy diese Auffassungen, indem er danach fragt, welche Konzeptionen kollektiver Identität sich in den überlieferten Texten des 12. bis frühen 18. Jahrhunderts finden, wie sie den Begriff der Rus verwenden und wie sie die eigene vorgestellte Gemeinschaft zum mittelalterlichen Kiewer Reich positionieren. Im Zentrum steht dabei die Frage nach Vorstellungen ethnischer Gemeinschaft, die Plokhy vor allem sprachlich und kulturell auffasst. Die ethnischen Identitätskonzepte sieht er jedoch verwoben in einem Feld multipler Loyalitäten, die sich auf solche Größen wie Region, Dynastie, Staat, soziale Gruppe und Religion ausrichten und in verschiedenen hierarchischen Beziehungen zueinander stehen können. Die Quellengrundlage seiner Ausführungen sind Texte der religiösen und politischen Eliten, von Chroniken bis zu Erlassen, Briefen und Lobpreisungen der Herrscher.

Plokhys Befunde werden seiner Zielvorstellung, „to denationalize and update the dominant versions of premodern Russian, Ukrainian, and Belarusian history“ (S. IX, X), bedingt gerecht. Die Nationen verschwinden nicht aus Plokhys Abhandlung. Gleichwohl gelingt es Plokhy, sämtliche Postulate nationaler Kontinuitäten, die den Anspruch auf das Erbe des Kiewer Reiches erheben, überzeugend zu entkräften. Diese Widerlegung weitreichender Kontinuitätsvorstellungen leistet Plokhy eindringlich in seiner Analyse der Nestorchronik. Der Kiewer Mönch Nestor verfügte offenbar über drei maßgebliche Loyalitäten, die der Dynastie der Rus, der Ethnie der Rus und der orthodoxen Religion galten (S. 25). Diese waren jedoch nicht gleichrangig und unterlagen auch nicht identischen räumlichen Projektionen. Die Nestorchronik unterscheidet nämlich eine engere und eine weitere Rus. Die engere Rus-Konzeption umfasst die Ethnie der Rus im Raum von Kiew, Tschernihiw und Perejaslaw. Sie hat für Nestor eine höhere Relevanz als die weitere Rus-Konzeption, die das Reich in seiner ganzen räumlichen Erstreckung bis in den Norden nach Nowgorod bezeichnet. Für die Integration der gesamten Rus scheint Nestor der Orthodoxie höhere Bedeutung als der Dynastie zugeschrieben zu haben. Dergestalt wird die Rus-Konzeption im Kiewer Reich als imperiales Projekt sui generis erkennbar, wobei Dynastie und Religion ein Reich integrierten, das im Inneren von unterschiedlichen ethnischen und räumlichen Identitätsentwürfen gekennzeichnet war. Damit verlieren alle gängigen nationalen Interpretationen des Kiewer Reiches ihre Berechtigung. Die Identitätskonzeption Nestors ergibt weder eine Folie für nationale russische und ukrainische Auffassungen noch einen Beleg für die Existenz einer einzigen mittelalterlichen ostslawischen Nation namens Rus (S. 45-48).

Erst im 17. Jahrhundert stößt Plokhy auf Identitätskonstruktionen, die sich als Anfänge der modernen Nationen der Ukraine und Russlands begreifen lassen. Beide verfügten seit dem frühen 17. Jahrhundert über eine Vorstellung von Zugehörigkeit, die nicht alle Bewohner ihres Territoriums einschloss und unabhängig von Dynastien und Herrschern gedacht werden konnte.

Der Untertitel des Buches nennt die vormodernen Identitäten Russlands, der Ukraine und Belarus. Letztere Nation ist die jüngste der drei, ihre Konstruktionen nationaler Identität kommen insofern folgerichtig in Plokhys Buch kaum vor, das die Zeit bis ins 18. Jahrhundert abdeckt. Wer mehr über die Geschichte belarussischer Identitätskonstruktionen erfahren möchte, wird zu anderen Büchern greifen wollen.2

Offen bleibt zum Schluss des Buches auch, auf welche Form von Geschichtsschreibung Plokhy mit seiner Darstellung hinaus will. Er bleibt hier in einer Ambivalenz gefangen, die zwischen der offenkundigen Bewunderung Kljutschewskis und Hruschewskys – „no one had done it better“ schreibt Plokhy über die beiden Alt- und Großmeister (S. IX) – und dem anationalen Imperativ changiert. Gewiss kann und muss man Plokhy zugute halten, die Vorstellungen nationaler Kontinuitäten in den Geschichten Russlands und der Ukraine von der Kiewer Rus an noch einmal in aller Gründlichkeit auf den Müllhaufen der Geschichtsdeutungen befördert zu haben. Doch hat er die nationalen Narrative gleichsam vom Feld der ungebrochenen Kontinuität auf das der diskursiven Tradition befördert. Auch Plokhy schreibt letztlich nationale Geschichten, die er als Nach- und Ineinander verschiedener Konstruktionen von Identität begreift. Der Bezug auf den Begriff Rus verleiht seiner Darstellung Kohärenz bis ins 18. Jahrhundert.

Nun wäre es jedoch spannend gewesen zu erfahren, wie sich der diskursive Umgang mit dem Rus-Begriff im 19. und 20. Jahrhundert fortsetzte, welchen Stellenwert er in den nationalen Narrativen des 19. und 20. Jahrhunderts noch hatte. Dies ist für Plokhy jedoch allein eine historiographiegeschichtliche Frage. Der Einwand mag beckmesserisch erscheinen. Seine Berücksichtigung hätte wahrscheinlich erfordert, dem Buch einen zweiten Band über das 19. und 20. Jahrhundert hinzuzufügen. Er ergibt sich aber aus Plokhys Bezug auf die großen Gesamtdarstellungen, die im frühen 20. Jahrhundert entstanden sind, und die an sie gestellte Frage, wie sich die Geschichte der Ostslawen im Allgemeinen und der Russen und Ukrainer im Besonderen heute konzipieren ließe. Wenn diese Frage auch offen bleibt – ob sie weiterführend ist, wäre noch wieder eine völlig neue Diskussion – so ist zum Schluss festzuhalten, dass alle, die eine klar strukturierte, kenntnisreiche und gut lesbare Abhandlung über Identitätskonzeptionen unter den Ostslawen vom 12. bis ins frühe 18. Jahrhundert suchen, mit Gewinn zu Plokhys Buch greifen werden.

Anmerkungen:
1 Kljutschewski, Wasili, Kurs russkoi istorii, 5 Teile, Moskau 1987-89. Hruschewsky, Mychailo, Istorija Ukrainy-Rusy, 11 Bände in 12 Büchern, Kiew 1996.
2 Wie etwa Beyrau, Dietrich; Lindner, Rainer (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Weißrusslands, Göttingen 2001 und Snyder, Timothy, The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus 1569 – 1999, New Haven 2003.

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