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Titel
Postsozialismus. Hinterlassenschaften des Staatssozialismus und neue Kapitalismen in Europa


Autor(en)
Segert, Dieter
Reihe
Studien zur politischen Wirklichkeit
Anzahl Seiten
228 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Autengruber, Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, Wien

Dieter Segert versucht in seinem Band „Postsozialismus“ sowohl länderspezifischem Forschungsinteresse gerecht zu werden als auch länderübergreifende theoriegeleitete Forschung durchzuführen. Postsozialismus wird dabei als werturteilsfreies Analyseinstrument verwendet, um Phänomene der Gegenwart in einem geographischen Raum besser zu verstehen. Deshalb widmet sich der Sammelband vielfältigen Veränderungsprozessen aus mehreren Perspektiven. Den Staatssozialismus selbst begreift Segert als „nachholende Modernisierung“ (S. 8f.), die unterschiedliche Ausprägungen angenommen hat, auf die im Buch eingegangen wird, wobei er am Schluss selbst die Frage aufwirft, ob aus dieser „nachholenden Modernisierung“ nicht inzwischen ein „Trendsetter“ (S. 215f.) geworden ist.

Die im Band versammelten Beiträge stellen individuelle Problemfelder zu den aufgezeichneten Zusammenhängen dar, und es liegt ihnen auch keine gemeinsame Forschungsfrage, sondern vielmehr ein gemeinsames „Problemverständnis“ (S. 18) zugrunde, das in einem Workshop diskutiert wurde. Dabei entstanden länderspezifische Beiträge auf der Spurensuche nach postsozialistischen Zusammenhängen für Ungarn, Russland, Rumänien, Bulgarien und Albanien. In einem zweiten Teil wird im Vergleich die Wechselwirkung von gesellschaftlichen Systemen analysiert, etwa Wirtschaftsprozesse, Elitenorientierungen, Kultur bzw. Nationalismus und somit soll der Problemfeldanalyse nach Ländern eine vergleichende Klammer zur Seite gestellt werden.

Stellvertretend für Mitteleuropa arbeitet József Bayer anhand Ungarns die gesellschaftliche Einbettung der Demokratie auf, die Ende 2006 nach jahrelanger Regimestabilität einen Ausdruck in gewaltsamen Krawallen gefunden hat und damit auf Probleme, insbesondere bei der Legitimität der politischen Systeme, hinweist. Die Repräsentativität des Fallbeispiels bleibt jedoch wage, denn die Gründe für postsozialistische Legitimationskrisen können durchaus sehr verschieden sein, und Ungarn muss dabei nicht unbedingt ein Modell bilden, geschweige denn ein Regelfall.

Petra Stykow erklärt anhand der neuen sozialen Gruppierung der Unternehmer in Russland einen wichtigen Aspekt des Postsozialismus, nämlich radikale Veränderungen in den Wirtschaftssystemen und damit einhergehende neue Beziehungsgeflechte in der Gesellschaft. Die Entwicklung des Unternehmertums in Russland mit der besonderen Ausprägung des Oligarchentums beschreibt die Autorin als „tiefgreifend geprägt“ von den Hinterlassenschaften des Postsozialismus (S. 46). Im abschließenden Urteil sieht Stykow sowohl positive Elemente der Hinterlassenschaften, nämlich elementare Stabilität, aber auch negative Wirkungen, wie etwa die Verlangsamung von Anpassungsprozessen.

Der Korruption, vielzitiertes Phänomen im postsozialistischen Raum, nimmt sich Tina Olteanu analytisch an. Für das Fallbeispiel Rumänien fragt sie, welche Kontinuitäten dabei seit der Zeit des Staatssozialismus bestehen und geht damit auch auf das Argument ein, dass erst die Demokratisierung, verbunden mit Privatisierungen in der Wirtschaft, Korruption erleichtert hätte. Für Olteanu wirkt das Geflecht aus früheren persönlichen Loyalitäten in einem Einparteiensystem auch im aktuellen Parteienpluralismus weiter. Ein weiteres Einfalltor für Korruption sieht Olteanu in der „(Insider-) Privatisierung“ (S. 74) und ebenso darin, dass im Staatssozialismus das System Korruption zwecks des Zugangs zu Dienstleistungen und Gütern auch unter der breiten Gesellschaft weit verbreitet war.

Michael Meznik wendet sich der geschichtspolitischen Auseinandersetzung im Postsozialismus in Bulgarien zu. Inzwischen hat sich nicht nur in Bulgarien ein eigenes „Gedächtnis der kommunistischen Periode“ herausgebildet, das oft zwischen „Nostalgie“ und „Amnesie“ schwankt (S. 89). Der Autor spricht diesbezüglich von einer „spezifischen Erinnerungskultur“, die nicht selten durch aktive „Geschichtspolitik“ beeinflusst wird (S. 89). Für den Autor ist diese Art des Umgangs mit Geschichte spezifisch postsozialistisch, weil er sie als Ausfluss der spezifischen sozialistischen Systems Bulgariens nach dem Umbruch deutet, quasi als Reaktion auf die Jahrzehnte im Sozialismus.

Unweigerlich spielte nationale Identität in der Selbst- wie auch Außenwahrnehmung für viele postsozialistische Staaten nach 1989 eine wichtige Rolle. Egin Ceka geht in seinem Beitrag auf die albanische postsozialistische Identität im Postsozialismus ein. Der Autor vermisst dabei einen Realitätsgewinn in der Eigenwahrnehmung der albanischen Identität. Er sieht nämlich die einheitliche albanische nationale Identität als ein Konstrukt der kommunistischen Ideologie.

Im ersten, dezidiert vergleichenden Beitrag beleuchten Rüdiger Frank und Dieter Segert Postsozialismus in Ostasien und in Osteuropa. Die Autoren gehen davon aus, dass der Sozialismus in beiden Fällen Spuren hinterlassen hat. Sie versuchen nicht, zwei oder mehrere Länder, sondern zwei Regionen zu vergleichen. Als verbindend bezeichnen die Autoren den „gemeinsamen historischen Ausgangspunkt der Entwicklung“, denen unterschiedliche „Wandlungsprozesse“ auf dem Weg sich entwickelnder kapitalistischer Gesellschaften folgten (S. 124). Die Autoren unterscheiden dabei zwei alternative Reaktionsarten, „Perfektionierung des bestehenden Systems“ und „substantielle Veränderung“, um die „Leistungsfähigkeit des Systems als Ganzes wiederherzustellen“. Ergebnis war entweder „ein neuer Typ des Sozialismus“ oder der „Systemwechsel“ (S. 131). Mit diesem Raster werden dann China und Nordkorea verglichen, bevor die Autoren ein zentrales Problemfeld, die Wirtschaftsreformen in Ostasien und Osteuropa, gegenüber stellen. Eingerahmt sind diese Prozesse den Autoren zufolge von Veränderungen bei der staatlichen Herrschaft, wo etwa in der Sowjetunion klar erkennbare Differenzen über Reformen entstanden und damit das System lähmten, ebenso zwischen der politischen Elite und der Gesellschaft. Im Schluss weisen die Autoren auf Gemeinsamkeiten der beiden geographischen Räume hin, etwa der „engere Zusammenhang zwischen Politik und Wirtschaft“ (S. 149) oder die größeren Erwartungen der Bevölkerung an die Wirkungen staatlicher Politik. Charakteristisch sind den Ländern eine „Handlungsschwäche des Staates“ (S. 149), ein Ideologievakuum, das neue Religionsgemeinschaften nützen, sowie eine „Konjunktur der Geschichtspolitik“ (S. 150). Im Beitrag von Dieter Segert und Rüdiger Frank wird damit ein schlüssiger Weg des Vergleiches vorgegeben, wobei jedoch die empirische Anwendung schon allein aufgrund des Umfangs des Bandes problematisch wird, weil der Platz fehlt, um z.B. Wirtschaftsreformen auch im Detail in Osteuropa zu überprüfen und damit graduelle Abstufungen kenntlich zu machen.

Der Text der in den Sammelband integrierten Vorlesung des russischen Autors Boris Kagarlitsky stellt die These in den Raum, dass in den Ländern des „postsowjetischen Kapitalismus“ (S. 159) Krisen ein Dauerzustand geworden seien. Die Probleme dieser Länder bezeichnet er als „annähernd gleich“ (S. 159) und Unterschiede sieht er nur im Stand der Entwicklung und des wirtschaftlichen Wohlergehens. Jedoch mutet diese These etwas zu simplifizierend an, und sie wird den großen wirtschaftlichen wie auch politischen Unterschieden in diesem Raum nicht wirklich gerecht bzw. bietet keine Erklärungen.

Die Ausgangsbedingungen Jugoslawiens im Postsozialismus waren im Vergleich mit den meisten mittel- und osteuropäischen Staaten vor allem deshalb andere, weil seit 1948 ein dritter Weg in der Außenpolitik und in der Wirtschaftspolitik begangen wurde. Vedran Dzihic betont, dass sowohl allgemeine Muster für alle ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken vorhanden waren, aber auch Unterschiede, die gegensätzliche Transformationsgeschwindigkeiten erklären und dass Veränderungen auch bereits vor 1991 begonnen haben. So war etwa die nationalistische Mobilisierung durch die föderativen Dezentralisierungsprozesse Jugoslawiens vorgeprägt, ebenso wirtschaftlicher Erfolg in Slowenien oder der erfolgreiche Staatsbildungsprozess in Mazedonien. Darüber hinaus betont der Autor, dass sich im ehemaligen Jugoslawien auch eine sehr positive Hinterlassenschaft entwickelt hatte, nämlich eine recht unabhängige Zivilgesellschaft mit Intellektuellen an der Spitze, die im inneren wie äußeren Austausch standen. Dzihics Vergleich bleibt auf das ehemalige Jugoslawien beschränkt, das er selbst als Sonderfall, sowohl vor dem Ende des Staatssozialismus als auch danach, beschreibt. Damit ist der Beitrag in gewisser Weise eine sehr spezifische Länderstudie, auch wenn er mehrere ex-jugoslawische Problemfelder aufgreift. Auf ähnliche Phänomene in anderen postsozialistischen Ländern, zum Beispiel bei der Frage des erstarkenden Nationalismus, wird jedoch nicht Bezug genommen.

Mit der spezifischen Transformation der Wirtschaftssysteme und den entstandenen Formen des Kapitalismus beschäftigen sich Dorothee Bohle und Béla Greskovits. Sie unterscheiden zwischen den neoliberalen baltischen Staaten, dem „eingebetteten“ (S. 185) Neoliberalismus in den Visegrádstaaten und dem „neo-korporatistischen“ System Sloweniens (S. 185). Dabei werfen sie die Frage auf, warum es zu Unterschieden zwischen Staatengruppen gekommen ist, wo doch das sozialistische System Einheitlichkeit hätte fördern müssen bzw. externe Einflüsse wie die Globalisierung auf alle gleich wirken. Auch in diesem Beitrag wird klar, dass die sozialistischen Hinterlassenschaften in den Staaten unterschiedlich waren. Ebenso war die Verflechtung mit dem Markt der EU und über transnationale Konzerne und deren Investitionen wichtig.

Die Klammer des Bandes mit seinen vielfältigen Herangehensweisen bietet Dieter Segerts Schlussbeitrag. Er plädiert darin für „die Herausstellung einer spezifischen Ausgangslage sowie spezieller Funktionsprobleme der vorangegangenen Gesellschaften“ (S. 207), abseits von normativen Grundannahmen über negative Ausgangsbedingungen. Wichtig ist dabei der Prozesscharakter der Veränderung, den der Band und Segerts Schlusswort aufwirft und der impliziert, dass Vergangenes mit Veränderungen und Reformen interagiert. Segert ermöglicht eine zeitliche Einordnung dieser Prozesse mit den Begriffen „Spätsozialismus“ (S. 209) und des im Titel verwendeten „Postsozialismus“. Dabei ist klar, dass von der Forschung weniger globale Antworten für den gesamten Raum erwartet werden können, sondern bestimmte Paradigmen an ihrer Stärke bzw. Schwäche oder ihren nationalen oder regionalen Besonderheiten gemessen werden müssen und spezifische Erklärungen fordern. Darüber hinaus zeigen besondere Entwicklungen in einem Raum oder in einer Region Kausalketten auf, die möglicherweise für die Erforschung von anderen Regionen einen wichtigen Beitrag leisten können. Mit dieser Kernaussage liefert der Band einen wichtigen Impuls für weitergehende vergleichende Forschung, auch zwischen West und Ost, und mit den aufgegriffenen Themen im Band einige brauchbare Zugangsweisen. Jedoch belässt der Band einige Lücken im Vergleich innerhalb postsozialistischer Staaten, die gerade durch die Länderstudien sichtbar werden. Auch hier darf man auf weitere Forschung gespannt sein.

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