K. Acham (Hrsg.): Naturwissenschaften, Medizin und Technik aus Graz

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Titel
Naturwissenschaften, Medizin und Technik aus Graz. Entdeckungen und Erfindungen aus fünf Jahrhunderten: vom "Mysterium cosmographicum" bis zur direkten Hirn-Computer-Kommunikation


Herausgeber
Acham, Karl
Erschienen
Anzahl Seiten
525 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Preisinger, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

„Naturwissenschaften, Medizin und Technik aus Graz“ lautet der schlichte wie eindeutige Titel des unter der Herausgeberschaft des Grazer Soziologen Karl Acham erschienen Sammelbandes. Als erster von zwei Bänden über die Grazer Wissenschaftsgeschichte konzipiert, soll ein weiterer Band mit dem Titel „Kunst, Geistes- und Sozialwissenschaften aus Graz“ folgen. Ein Vorhaben, das angesichts des hohen Interesses an Wissenschaftsgeschichte notwendig erscheint. Die inhaltlichen Absichten des Projekts legt Acham im vorliegenden Band dar: „Für beide Bände gilt, dass sie zwar keine Panegyrik eines Gelehrtenareopags sein sollen, aber auch keine primär auf ‚Enthüllung‘ und moralische Entlarvung basierende Darstellung aus dem Geist einer ‚kritischen Geschichtswissenschaft‘.“ (S. 9) Weiter: Es „wird den sozialen, politischen und kulturellen Umständen nicht näher nachgegangen, die auf das Tun der Wissenschaftler und Techniker einwirkten, aber auch nicht dem, was aus deren wissenschaftlicher Tätigkeit in politischer, ökonomischer oder sozialer Hinsicht folgte.“ (S. 14) Damit sind die wesentlichen Charakteristika des Bandes umrissen, der sich primär an einer „reinen“, das heißt im Wesentlichen kontextlosen Wissenschaftsgeschichte orientiert und so die für die universitäre „Wirkungsgeschichte bedeutsamen künstlerischen und wissenschaftlich-technischen Leistungen [in den] Vordergrund“ (S. 9) stellt.

Die Geschichte der großen Grazer wissenschaftlichen Institutionen ist wechselvoll wie traditionsreich: 1585 erfolgte unter Erzherzog Karl II. die Gründung der Jesuitenuniversität, die 1773, nach Auflösung des Jesuitenordens, zur Staatsanstalt wird. 1778 erfolgt die Gründung der juridischen Fakultät, 1782 wird die Universität in ein Lyzeum umgewandelt – die neuerliche Umwandlung in eine Universität mit zusätzlicher Etablierung eines medizinisch-chirurgischen Studiums erfolgt 1827: Seither trägt sie den Namen Karl-Franzens-Universität. Zur „entscheidende[n] Wendung des Grazer Wissenschaftslebens“ (S. 22) kommt es mit der Gründung des Joaneums 1811 und der damit verbundenen besonderen Förderung der naturwissenschaftlichen-technischen Forschung. 1848 wird die Berg und Hüttenschule daraus ausgegliedert und später zur staatlichen Montanlehranstalt. Zur Technischen Hochschule wird das Joaneum durch die staatliche Übernahme 1874 und erhält rund hundert Jahre später seinen heutigen Namen: Technische Universität Graz. Den institutionellen Änderungen entsprechen die inhaltlichen: Nach der „Ratio studiorum“ der Jesuiten folgt nach 1773 eine am praktischen Handeln orientierte, den aufklärerischen Idealen folgende, universitäre Praxis. Unter dem Einfluss Humboldts wird nach 1848 die Forschung gegenüber der Lehre stärker betont (vgl. S. 34). Auch historisch lösen sich unterschiedliche Wissenskulturen nacheinander ab: Der „Wissenschaftlichen Revolution“ um 1600 folgt das Barockzeitalter mit „zum Teil phantastisch anmutenden Projekten“ (S. 34), gefolgt von der Erforschung der Welt im aufgeklärten 18. Jahrhundert und dem uns heute vertrauten systematischen Konzept von Wissenschaft im 19. Jahrhundert (vgl. S. 34–35).

Die zeitliche Spannweite des Sammelbandes reicht damit von 1600 bis in die Gegenwart, „vom ‚Mysterium cosmographicum‘ bis zur direkten Hirn-Computer-Kommunikation“. Dem Titel entsprechend breit gefächert sind auch die thematischen Schwerpunktsetzungen: Geophysik und kosmische Physik (1. Kapitel); theoretische Physik und Experimentalphysik (2. Kapitel); angewandte Physik (3. Kapitel); Mineralogie, Chemie und Pharmakologie (4. Kapitel); biologische Verhaltensforschung, naturwissenschaftliche Psychologie und Psychopathologie (5. Kapitel); Medizin, Biochemie und Biotechnologie (6. Kapitel). Alle diese Kapitel werden wiederum durch Vorbemerkungen des Herausgebers eingeleitet, was die Kohärenz der Beiträge nochmals erhöht und diese verstärkt in internationale und historische Zusammenhänge einbettet. Freilich kommen mit dieser Auswahl, worauf der Sammelband zu Recht hinweist (vgl. S. 29), etliche Wissensgebiete zu kurz, wie etwa die Feldmesskunst oder die Zoologie. Umfangreicheren Eingang in das Werk haben nur die Größen, allen voran Nobelpreisträger, gefunden, was mit Blick auf den beschränkten Platz und die reiche Wissenschaftsgeschichte der Grazer Universitätslandschaft verständlich ist: Kepler, Wegener, Hess und Burkhard (1. Kapitel); Mach, Boltzmann, Schrödinger (2. Kapitel); Tesla, Musger, Nussbaumer, Schmiedl, Kratky (3. Kapitel); Mohs, Reinitzer, Pregl, Dale, Loewi, Hönel (4. Kapitel); von Frisch, Meinong, von Krafft-Ebing (5. Kapitel). Die Beiträge des 6. Kapitels bieten Übersichtsdarstellungen aber auch Forschungsberichten Platz. Eine Vielzahl von Forscherpersönlichkeiten die keine eigenständige Beachtung gefunden haben, wird in den einleitenden Vorbemerkungen zumindest erwähnt (vgl. etwa Guldin). Der oben beschriebenen Konzeption des Werks bleiben die 34 Beiträge treu, wobei freilich Art und Qualität der einzelnen Beiträge variiert. Im Vordergrund stehen die „Theorien, Entwicklungen und Erfindungen“ (S. 15), sodass biographische Details zumeist nur in Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Arbeit oder dem akademischen Lebenslauf ins Zentrum rücken. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Erläuterung wissenschaftlicher Zusammenhänge. Für die Darstellung bestimmend ist dabei der Umstand, dass etliche der dargestellten Wissenschaftler nur für wenige Jahre in Graz tätig waren. Dazu gehört etwa Johannes Kepler, der 1594 die Berufung als Landschaftsmathematiker annahm und das Lyzeum schon 1600 verließ. Horst Mauder widmet sich daher in seinem Kepler-Beitrag auf breitem Raum den in Prag beforschten drei Keplerschen Gesetzen. Ähnlich verhält es sich mit Ernst Mach, der nur zwischen 1864 bis 1867 an der Universität Graz als Ordinarius wirkte. Die Autoren Udo Wid und W. Gerhard Pohl stellen daher mehrere Jugenderlebnisse Machs im Kontext zu seiner Wissenschaftsauffassung und Weltanschauung dar. Beide Beispiele zeigen, dass der Titel „aus Graz“ zu relativieren ist, indem die dort getätigte Forschung in eine wissenschaftsgeschichtlich-biographische Gesamtschau gestellt wird. Damit geht der Sammelband wohltuend über eine rein regional auf Graz blickende Wissenschaftsgeschichte hinaus. Die Autoren sind allesamt Fachwissenschaftler, wie aus dem, leider sehr kurz geratenen, Autorenverzeichnis hervorgeht. Die teilweise aufgrund der Kürze stark verdichteten fachwissenschaftlichen Darstellungen sind freilich für den nicht einschlägig Kundigen manchmal nicht oder nur schwer verständlich. Lobend sei deshalb erwähnt, dass einige der Beiträger sich hingegen bewusst um Anschaulichkeit bemühen. Insgesamt knüpfen die geschichtlich-fachwissenschaftlichen Darstellungen an gegenwärtige Fragestellungen an und weisen damit auf die Aktualität und die vielfache Anwendung der Grazer Forschung hin. Gegenwartsbezogen und daher kritisch ist auch das Schlusswort des Herausgebers, der sich darin gegen eine Ökonomisierung der Universitätslandschaft ausspricht.

Die Leistung des Bandes besteht in einer breitgefächerten und exemplarischen Übersicht der Grazer Wissenschaftsgeschichte und stellt eine gelungene Würdigung der bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen dar. Nicht zuletzt haben etliche der Entwicklungen aus Graz, etwa im Bereich der Motorenindustrie oder der Stahlerzeugung, die österreichische Entwicklung und Wirtschaft nachhaltig geprägt. Wie oben argumentiert, bietet der Sammelband keinen selbstherrlichen oder nostalgischen Blick, sondern vielmehr ein stetiges kontextualisieren der biographischen und wissenschaftlichen Graz-Bezüge in größere wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge. Die Konsequenzen dieser „reinen“ Wissenschaftsgeschichte bestehen freilich im Absehen von anderen gesellschaftsrelevanten Beziehungen, scheinen aber zugleich in Anbetracht des beträchtlichen Umfangs des Werks und der inhaltlichen Vielfalt sinnvoll. Resümierend kann letztlich festgestellt werden, dass mit dem vorliegenden Sammelband ein für die österreichische Wissenschaftsgeschichte wichtige Unternehmung gelungen ist.

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