T. Altenburg: Soziale Ordnungsvorstellungen bei Hildegard von Bingen

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Titel
Soziale Ordnungsvorstellungen bei Hildegard von Bingen.


Autor(en)
Altenburg, Tilo
Reihe
Monographien zur Geschichte des Mittelalters 54
Erschienen
Stuttgart 2007: Anton Hiersemann
Anzahl Seiten
XII, 418 S.
Preis
€ 149,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Sperber, Universität Bayreuth

Mit seiner bei Alfred Haverkamp in Trier entstandenen Dissertation hat es Tilo Altenburg unternommen, die sozialen Ordnungsvorstellungen aus dem überaus umfangreichen Werk Hildegards von Bingen (1098–1179) herauszuschälen. Dies ist ihm, soviel vorneweg, sehr gut gelungen.

Ausgehend von damals verbreiteten Ordnungsvorstellungen wird das Werk untersucht im Hinblick auf die Einschätzung verschiedener Gruppen, oder wie sie auch Hildegard nennt: verschiedener Stände. In ihren Schriften findet sich eine Differenzierung unter anderem in spirituales (geistlicher Bereich) und saeculares (weltlicher Bereich), wobei sich das Schema bisweilen mit der Einteilung der Menschen nach ihrer sexuellen Enthaltsamkeit (Jungfrauen, Verwitwete, Verheiratete) überschneidet. Die spirituales lassen sich weiter aufteilen in Priester und Mönche/Nonnen, die saeculares in Mächtige und Machtlose, Arme und Reiche, Adelige und Nichtadelige. Dem ausgeprägten Willen zur Unterscheidung liegt die Gewissheit zugrunde, dass die ganze Welt von Gott überlegen eingerichtet ist.

Die Untersuchung geht chronologisch vor und gliedert sich in drei Hauptteile, die sich nach der Abfassung der drei Hauptwerke Hildegards richten. Dies ist plausibel, da die Schaffenszeit Hildegards gut 40 Jahre umfasst und Altenburg auch eine gewisse Veränderung der Sichtweise plausibel machen kann. Aus der Fülle der Einzelbeobachtungen will ich mich hier auf zwei Aspekte beschränken: ihre Hochschätzung sowohl des Adels als auch der Nonnen.

Hildegard, selbst hochadeliger Abkunft, verfügte über ein eminent adeliges Selbstbewusstsein. In einem Brief an die Andernacher Magistra Tenxwind, die ihr unter anderem vorgeworfen hatte, dass nichtadelige Töchter nicht in die Gemeinschaft Hildegards aufgenommen wurden, verteidigte sie diese Praxis: „Gott kommt es zu, jede Person zu untersuchen und zu erforschen, so dass der geringere Stand sich nicht über den höheren erhebe. Und welcher Mensch sammelt seine ganze Herde in einem einzigen Stall, nämlich Ochsen, Esel, Schafe, Böcke, ohne dass sie aneinander geraten?“1

Hildegard behauptete, wie aus ihren weiteren Ausführungen deutlich hervorgeht, eine urtümliche, von Gott angeordnete Ungleichheit der Menschen. Die hierarchische Ständeordnung der Gesellschaft entsprach ihrer Meinung nach dem Willen Gottes. Dagegen trat Tenxwind (auch) für die zeitgenössische Armutsbewegung ein, durch die sich aber Hildegard nicht in ihrer traditionsgebundenen Haltung irritieren ließ. Unter anderem deswegen hat Alfred Haverkamp beide Nonnen als Protagonistinnen zweier unterschiedlicher „Weltanschauungen“ einander gegenüber gestellt.2 Franz Staab hatte diese Interpretation scharf als „eine rein philologische Interpretation des Briefwechsels“ kritisiert und dabei insbesondere auf (spätere) enge Beziehungen zu den Ministerialengeschlechtern der Bolander und der Embrichonen verwiesen.3

Die Kritik war nicht überzeugend, da sich Hildegards „Adelsdenken“ zum Beispiel auch im ‚Scivias’ und einer autobiografischen Passage der Vita wieder findet. Und in einer späteren, noch zu Lebzeiten und mit ihrer Billigung durchgeführten Bearbeitung des Briefwechsels wurde das Schreiben Hildegards gerade nicht verändert, nur die Kritik Tenxwinds wurde in Zustimmung verkehrt. Andererseits waren vor diesem Hintergrund die engen Kontakte zu den genannten Ministerialengeschlechtern zumindest irritierend.

Den Sachverhalt kann die vorliegende Arbeit plausibel erklären. Bei den Rheingrafen handelt es sich um eine alteingesessene Adelsfamilie, die erst unter erzbischöflichen Druck zu Ministerialen geworden waren (S. 125-131). Ebenso sind zwar die Bolander Ministerialen, aber eben auch edelfreier Abkunft. Sie gehören zum Kreis von Adligen, die ihre Chancen zu einem gesellschaftlichen Aufstieg gerade darin sahen, in das Verhältnis von Dienstmannen einzutreten (S. 258-264). Altenburg bestätigt damit den Befund, dass Hildegard bis ins hohe Alter Vorbehalte gegen sozial niedrig Stehende und gegen Unfreie hatte. Dabei zog sie die Grenze aber nicht per se zwischen Adel und Ministerialität. In ihrer Zukunftsschau im ‚Liber Divinorum operum’ löst sie letzteren Stand ja auf (S. 245f.). Für die Prophetin zählte vielmehr die althergebrachte Stellung, welche die betreffende Familie seit Generationen besessen hatte.

Überhaupt liegt eine Stärke der Arbeit darin, neben dem umfangreichen literarischen Schaffen Hildegards noch stärker landesgeschichtliche Fragen und Zusammenhänge einbezogen zu haben. Verwiesen sei hier nur noch beispielhaft auf den Umzug Hildegards und ihres Konvents zum Rupertsberg und Hildegards Nähe zu den Opponenten des Erzbischofs Arnold von Mainz (S. 272-287).

Nonnen und Mönche schätzt die Rupertsberger Seherin am höchsten, kommen sie doch aufgrund ihrer Jungfräulichkeit einer vollkommenen Lebensweise am nächsten. Ihre Lebensweise ist unmittelbare Nachahmung des Leidens Christi und gilt ihr als Zeichen des Neuen Bundes – im Unterschied zu den schon im Alten Testament vorkommenden Priestern (S. 28f.). Aus freiem Willen unterwerfen sie sich ihrem Vorgesetzten und geben damit denselben freien Willen für die Zukunft auf. Aber zugleich wird ihnen damit umfassendere Freiheit eingeräumt: Eine irdische lex hindert Nonnen und Mönche fortan ebenso wenig, wie sie zuvor keine Verpflichtung eines Gesetzes angetrieben hatte, auf alle weltlichen Dinge zu verzichten. Sie sind „gesetzlos“ seit sie freiwillig gehorchen. Aufgrund ihrer Ungebundenheit erhalten sie die weitgehende Erlaubnis, sich in die Belange der anderen Gruppen einzumischen (S. 31). In einer Notlage dürfen auch Nonnen und Mönche als Angehörige des höchsten Standes priesterliche Funktionen übernehmen (S. 41f.). Es liegt auf der Hand, dass sich damit auch Hildegards späteres Predigen rechtfertigen lässt.

Noch im Jenseits werden die Angehörigen dieses Standes für ihr gottgefälliges Leben den größten Lohn erhalten (S. 31). Allerdings erkennt Altenburg innerhalb des dritten Teils des ‚Scivias’ einen Bruch. Hatte Hildegard zuvor noch Nonnen und Mönche zu einer Gruppe vereinheitlicht, treten beide nunmehr nebeneinander auf. Am Ende nehmen in einer Ständeschau der Auferstehenden nur noch die weiblichen virgines den höchsten Rang unter den Menschen ein. Offensichtlich gestand Hildegard den Frauen ein größeres Vermögen zu, Keuschheit zu bewahren als Männern. Auch aufgrund ihrer physischen Dispositionen sind nur sie zu einem wahrhaft jungfräulichen Dasein imstande, der höchsten christlichen Forderung an einen Menschen. Eine mögliche Erklärung für die veränderte Darstellung könnte die in diese Zeit fallende Trennung des Konvents vom Disibodener Männerkloster sein. Das impliziert, dass Hildegard aus Rücksichtnahme zunächst Mönchen und Nonnen gleiche Wertschätzung zukommen ließ (S. 93-96, 192-196 und öfter).

Nonnen als Angehörige des auch für Hildegard „schwachen Geschlechts“ erreichen nach dieser Sichtweise Vollkommenheit gerade nicht, wie zur damaligen Zeit weit verbreitet, durch Vermännlichung, sondern aufgrund ihrer Weiblichkeit (S. 108f.). Eine andere Frage ist, dass Hildegards Frauenbild, soweit es die Stellung der Frau gegenüber ihrem Ehemann betrifft, weitgehend traditionell ist. Selbstverständlich ist die Frau diesem unterworfen wie der Knecht seinem Herrn.4 Doch dies gilt ja gerade für die Nonnen nicht.

Anmerkungen:
1 Hildegard von Bingen, Epistolarium. Pars prima, ed. Lieven van Acker, Turnhout 1991, Ep. 52R, 40 – 45, übersetzt nach Storch, Walburga, Hildegard von Bingen. Im Feuer der Taube. Die Briefe. Erste vollständige Ausgabe, Augsburg 1997.
2 Haverkamp, Alfred, Tenxwind von Andernach und Hildegard von Bingen. Zwei „Weltanschauungen“ in der Mitte des zwölften Jahrhunderts, in: Fenske, Lutz; Rösener, Werner; Zotz, Thomas (Hrsg.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein zu seinem 65. Geburtstag, Sigmaringen 1984, S. 515–548.
3 Staab, Franz, Geringschätzung der Ministerialen? Die Beziehung der Rheingrafen und der Bolander zu Hildegard von Bingen und zum Rupertsberg bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts, in: Podehl, Wolfgang (Hrsg.), 900 Jahre Hildegard von Bingen. Neuere Untersuchungen und literarische Nachweise, Wiesbaden 1998, S. 45–65, hier S. 58.
4 Sperber, Christian, Hildegard von Bingen. Eine widerständige Frau, Aichach 2003, S. 69–77.

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