M. Stolleis: Geschichte des oeffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3

Titel
Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Dritter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914-1945


Autor(en)
Stolleis, Michael
Erschienen
München 1999: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
439 S.
Preis
€ 65,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Prof. Dr. Wilfried Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Michael Stolleis ist bereits in den ersten beiden Bänden seiner "Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland" 1 das Kunststück gelungen, eine überwältigende Fülle von Materialien in einer Darstellung zu komprimieren, die den Zusammenhang zwischen der Disziplingeschichte von Staats- und Verwaltungsrecht und der "realhistorischen" Entwicklung auf eine Weise präsentiert, die auch für Nicht-Juristen nachvollziehbar ist. Dies trifft auch auf den nun vorliegenden dritten Band zu.

Zum Erbe des 19. Jahrhunderts gehörte - mit der Garantie von Grundrechten in der Reichs- und den meisten Länderverfassungen und der Bindung des Verwaltungshandelns an kalkulierbare Rechtsnormen - eine gesicherte rechtsstaatliche Tradition. Der vorherrschende staatsrechtliche Positivismus bedingte, daß die im Weltkrieg stattfindenden erheblichen Verschiebungen der Kompetenzen zwischen Krone, Reichsregierung, Bundesrat, Reichstag und schließlich der Obersten Heeresleitung von der Staatsrechtslehre nicht als grundlegende Verfassungsänderungen problematisiert, sondern als durch die Kriegsumstände verursachte Maßnahmen hingenommen wurden. Immerhin zeichnete sich eine Akzeptanz des parlamentarischen Systems ab, verbunden jedoch mit massiven Vorbehalten gegen die Parteien.

Diese ambivalente Haltung der meisten, überwiegend dem "nationalen Bürgertum" zuzurechnenden Staatsrechtslehrer zeigte sich auch in ihrer Reaktion auf die Revolution und die Weimarer Reichsverfassung (WRV). Die Legitimität der neuen Ordnung wurde akzeptiert, schnell erschienen Verfassungskommentare, darunter das herausragende Werk von Gerhard Anschütz (zuerst 1921, 14. Auflage 1933). Die in der WRV angelegten, durch die politische Entwicklung forciert aufbrechenden Probleme hinsichtlich des Verhältnisses von Reich und Ländern, der Stellung des Reichspräsidenten mit seiner "Diktaturgewalt" nach Art. 48 WRV (deren genauere Bestimmung durch ein im Verfassungstext vorgesehenes Reichsgesetz unterblieb), der Normenhierarchie von Verfassungs- und Gesetzesrecht sowie der Grenzen der Verfassungsänderung wurden kontrovers, zumeist auf hohem Niveau diskutiert.

Der Zusammenhang zwischen den politischen Positionen der beteiligten Staatswissenschaftler und ihren verfassungsrechtlichen Stellungnahmen stellt sich dabei anders dar, als man aus der Retrospektive vielleicht vermuten könnte. Vor allem die "Vernunftrepublikaner" verteidigten eine positivistische Verfassungsauslegung. Schon Hugo Preuß hatte während der Beratungen über die WRV - im Vertrauen auf Rechtsstaat und Demokratie - den Grundrechtekatalog für eine eher überflüssige Sammlung von gutgemeinten Bekenntnissen gehalten, die potentiell die Verbindlichkeit der Verfassung in Zweifel ziehen könnte, eine Meinung, die - in abgeschwächter Form - von denjenigen geteilt wurde, die sich später für die Erhaltung der WRV einsetzten. Seit etwa 1923 setzten, v.a. bedingt durch die Auswirkungen der Inflation, zumal auf Seiten der Kritiker des Parlamentarismus Bestrebungen ein, die Dispositionsfreiheit des Gesetzgebers durch die Forderung nach einem richterlichen Prüfungsrecht und dem Postulat "institutioneller Garantien" (u.a. für Eigentum und Berufsbeamtentum) einzuschränken. Entsprechendes gilt für die Diskussion über die Grenzen der Verfassungsänderung. Während die einen sie nur durch das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit nach Art. 76 WRV beschränkt sahen, waren es Kritiker der Verfassung wie Carl Schmitt, die den "wertbestimmten" Grundrechtsteil gegen den "wertneutralen" Organisationsteil der Verfassung ausspielten. "So ergab sich die paradoxe Lage, daß diejenigen, die Republik und Demokratie in ihrer verfassungsmäßigen Form erhalten wollten, gegen eine Beschränkung der Verfassungsänderung auftraten, während ein Großteil derjenigen, denen die Republik wenig erhaltenswert erschien, die 'Grenzen der Verfassungsänderung' betonten. ... Die Verfassungsauslegung war offen politisiert, und man gab sich nun, mitten in der Krise [1932], kaum mehr Mühe, dies zu verhüllen" (114). Leider macht Stolleis den letzteren Punkt in seinen Ausführungen zum Urteil des Staatsgerichtshofes zum "Preußenschlag" von 1932 nicht deutlich. Warum dieses "zwiespältige und scheinbar vermittelnde Urteil, das am Ende doch vor den geschaffenen Fakten kapitulierte" (121), entscheidend zum Untergang der Weimarer Republik beitrug, wird hier mehr vorausgesetzt als dargestellt.

Die Kontroversen über die aktuellen verfassungspolitischen Streitfragen überschnitten sich auf vielfältige Weise mit einer Theorie- und Methodendiskussion. Allerdings geht eine Gleichsetzung der positivistischen Position mit einer Verteidigung der Weimarer Republik und der überpositivistischen mit einer Tendenz zu ihrer Überwindung nicht bruchlos auf, wie sich u.a. darin zeigt, daß zwei entschiedene Befürworter der Republik, die beiden einzigen Sozialdemokraten im Kreis der Staatsrechtslehrer, Hans Kelsen (Verfechter der "reinen Rechtslehre") und Hermann Heller, in der Methodenfrage völlig gegensätzliche Auffassungen vertraten.

Aufs Ganze gesehen haben diejenigen, die das "Naturrecht" gegen das Verfassungsrecht, die Wertordnung gegen die Organisation, den Reichspräsidenten als "Hüter der Verfassung" gegen das Parlament ins Spiel brachten, die Akzeptanz der WRV unterminiert, ohne eine Alternative zu entwickeln. Eine Antizipation des NS-Regimes läßt sich nicht feststellen, auch wenn sich seit 1933 "einzelne Vertreter [der Staatsrechtslehre] darum bemühten, ihre früheren Positionen gegen die Republik als pro-nationalsozialistische darzustellen. Aber sie hatten überdeutlich gemacht, daß sie nicht bereit waren, sich für die Republik einzusetzen ... und daß sie ihr keine Träne nachweinten..." (202).

Darüber, daß mit der "Reichstagsbrandverordnung", dem "Ermächtigungsgesetz", der "Gleichschaltung der Länder" die WRV, auch wenn sie förmlich nicht aufgehoben war, materiell erledigt war, bestand bei denjenigen Staatsrechtlern Einmütigkeit, die 1933 ihr Amt nicht aus "rassischen" oder politischen Gründen verloren bzw. für die sich neue Karrierechancen ergaben. Die Bemühungen, so etwas wie neue Verfassungsprinzipien zu entwickeln, folgten teils aus dem Bestreben, bestimmte Elemente von Rechtssicherheit zu retten, waren teils Ausdruck erbitterter Kämpfe um politischen Einfluß und Dominanz im Fach (z. B. durch Kontrolle über Zeitschriften), wie sie namentlich zwischen Carl Schmitt, Reinhard Höhn (beide Berlin) 2, Otto Koellreutter (München) 3 ausgetragen wurden (was 1936/37 bekanntlich zur politischen "Kaltstellung" Schmitts führte). Ob "konkretes Ordnungsdenken" (Schmitt), "Gemeinschaft" statt juristischer Staatsperson (Höhn; Theodor Maunz), "nationaler Rechtsstaat" (Koellreutter), "totaler Staat" (Ernst Forsthoff) - alles dies waren Leerformeln, die auch deshalb keine Wirkungen entfalten konnten, weil das Regime überhaupt kein Interesse an der Überwindung der diffusen Verfassungslage zeigte.

Als Konsequenz aus der Einsicht in die Fruchtlosigkeit verfassungsrechtlicher Überlegungen erfolgte eine Hinwendung zum Verwaltungsrecht. "Die Errichtung des Führerstaats hat die 'Verfassungsfrage' erledigt ... Die vordringlichen Aufgaben öffentlich-rechtlicher Wissenschaft liegen heute auf dem Gebiet der Verwaltung", schrieb Forsthoff 1935 (zit. 352). Die Verwaltungsrechtswissenschaft förderte die Tendenz, die Bindung an das Gesetz durch Berufung auf die "nationalsozialistische Weltanschauung" oder den "Nutzen der Volksgemeinschaft" weiter abzubauen. Dies zeigte sich zumal im Polizeirecht, das zum Bereich justizfreier Hoheitsakte erklärt wurde. Die Polizei blieb auch nicht mehr (wie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte) auf die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beschränkt, sondern sollte als "Hüterin der Gemeinschaft" tätig werden. Die Abkehr von liberalen Verwaltungsprinzipien hatte allerdings auch modernisierende Effekte, weil Verwaltungshandeln nun nicht mehr primär unter dem Gesichtspunkt des Eingriffs in Bürgerrechte, sondern unter dem der Erbringung staatlicher Leistungen thematisiert wurde. Forsthoffs Begriff der "Daseinsvorsorge" symbolisiert die Entwicklungslinie, die sich zum Verständnis des Sozialstaats in der Bundesrepublik ziehen läßt.

Ein zweites wichtiges Betätigungsfeld lag im Völkerrecht; in der Literatur spiegelte sich die Ambivalenz einer Außenpolitik, die einerseits - im Kampf gegen "Versailles", Briand-Kellog-Pakt und Völkerbund - den internationalen Konsens aufkündigte, andererseits auf traditionelle Argumente nicht verzichten wollte. Alle Bemühungen, das Souveränitätsprinzip durch Rekurs auf "Volk", "Reich" oder "Großraum" zu überwinden, blieben intellektuelle Fehlschläge; der Verlauf des Krieges ließ es dann als opportun erscheinen, sich wieder stärker auf den Boden der herkömmlichen Lehre zu begeben.

Generell konstatiert Stolleis für die Publikationen nach 1939 eine veränderte Stimmungslage. "Die Beiträge wurden ... sachbezogener und nüchterner, politisch vorsichtiger, zuweilen auch schon kleinlaut. Öfter als früher wurden nicht nur Mißstände beim Namen genannt, sondern man findet Rückwendungen zu europäischen Traditionen, ... sei es aus Furcht vor dem 'Bolschewismus', sei es um die Verleugnung der naturrechtlich-humanitären und aufklärerischen Grundlagen aufzuhalten oder gar ungeschehen zu machen" (408). Trotz der Hinweise auf die Entwicklungen in der Völkerrechtsdiskussion ist diese Bewertung nicht im gleichen Maße durch eine breite Quellendiskussion vermittelt, wie dies sonst in diesem Buch der Fall ist.

An seinem Urteil, daß die staatsrechtlichen Arbeiten der NS-Zeit Produkte einer "ergebnisorientierten Vulgarjurisprudenz" (248) waren, läßt Stolleis ebensowenig Zweifel wie an seiner Sympathie für die Vernunftrepublikaner, die zwar die Zerstörung der Weimarer Republik nicht verhindern konnten, sie aber jedenfalls nicht "fahrlässig herbeigeredet" hatten (Vorwort). Er zeigt strikte Fairness gegenüber allen anderen, deren Positionen aus den jeweiligen zeitgenössischen Konstellationen erklärt werden. Der Verzicht auf wohlfeile Polemik macht das moralische, intellektuelle und politische Desaster, das hier nachgezeichnet wird, um so deutlicher.

Angesichts der in diesem Band zwar gelegentlich angedeuteten, als Ganzes aber bewußt nicht thematisierten Bezüge zwischen der Verfassungsdiskussion in der Weimarer Republik und den Regelungen des Grundgesetzes (mit den paradoxen Wirkungen von Konzeptionen anti-demokratischer Provenienz) und im Hinblick auf die weitgehenden personellen Kontinuitäten zwischen "Drittem Reich" und Bundesrepublik erwartet man mit Spannung die Fortsetzung des monumentalen Werks. - Mit den Materialien zu Spezialfragen des Verfassungsrechts der Länder und des allgemeinen Verwaltungsrechts einerseits, zur Hochschulpolitik (u.a. zu sämtlichen Entlassungen und Lehrstuhlbesetzungen seit 1933) andererseits bietet es im übrigen noch eine Fülle von Informationen zu Themenkomplexen, auf die hier nicht näher eingegangen werden konnte. Dank der detaillierten Angaben zu Karrieren und Publikationen der Staatsrechtslehrer kann es auch als bio-bibliographisches Nachschlagewerk benutzt werden.

Anmerkungen
1 Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft, 1600-1800, 1988; Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft, 1992.

2 Schmitt war 1928-1933 Professor an der Handelshochschule in Berlin gewesen. Die Professur in Köln, die er zum Sommersemester 1933 angenommen hatte, war das Sprungbrett für die Berufung an die Berliner Universität, an der er seit dem Wintersemester 1933 lehrte. Der SS-Mann Höhn, 1934 in Heidelberg habilitiert, kam 1935 nach Berlin. Nach dem Krieg war er Leiter der "Akademie der Führungskräfte der Wirtschaft" in Bad Harzburg.

3 Koellreutter war 1920 nach Halle berufen worden, 1921 nach Jena. Seit 1932 war er NSDAP-Mitglied. Der Wechsel nach München folgte 1933.

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