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Titel
Original-Ton. Zur Mediengeschichte des O-Tons


Herausgeber
Maye, Harun; Reiber, Cornelius; Wegmann, Nikolaus
Erschienen
Konstanz 2007: UVK Verlag
Anzahl Seiten
408 S. + Hörbeispiele auf CD
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Stopka, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Im geläufigen Sinn versteht man unter einem O-Ton eine zweckorientierte Sprachaufzeichnung, die in Hörfunk, Film und Fernsehen dazu verwendet wird, die Glaubwürdigkeit von Nachrichten durch Experten oder Augenzeugen zu belegen. In der Regel handelt es sich dabei um Sequenzen aus Interviews oder Reden.

Schon bei dieser anwendungsorientierten Definition zeigt sich die phänomenologische und begriffliche Paradoxie, auf die der O-Ton beruht. Als Original verlangt der Ton nach Einzigartigkeit, die allerdings erst durch seine technische Konservierung garantiert wird. Mit anderen Worten, jenseits seiner Aufzeichnung existiert der Originalton bzw. O-Ton nicht.

Betrachtet man den O-Ton vor diesem medienwissenschaftlichen Hintergrund, lässt er sich generalisierend als technisch gespeichertes Sprachmaterial definieren, dessen Eigenschaften darin bestehen, beliebig abrufbar und wiederholbar zu sein. Solchermaßen als akustisches Zitat gekennzeichnet, wird ihm im kulturellen und gesellschaftlichen Kontext wie dem schriftlichen Beleg ein besonderes Maß an Autorität zuerkannt. Im Unterschied zur Schrift ist der O-Ton allerdings ein noch junges Medium. Erst mit der Erfindung des Phonographen 1877 durch Thomas Alva Edison beginnt auch die Geschichte des O-Tons. Die Tatsache, dass mit der Aufzeichnung des Schalls nun auch das schlechthin Flüchtige konservierbar wurde, war um 1900 eine Sensation – die allerdings im Unterschied zu Photographie und Film zumindest im deutschsprachigen Raum lange Zeit kaum auf medien- und kulturwissenschaftliches Interesse stieß. Erst im Zuge der Digitalisierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begann sich die kulturwissenschaftlich orientierte Mediengeschichte für die Geschichte akustischer Speicherapparate zu interessieren1, wobei eine systematische Untersuchung des von der akustischen Speichertechnik produzierten Stimmenmaterials, einschließlich seiner Bedeutung und Verwendung in und für die Medienkultur bisher ausgeblieben ist.

Sich der Herausforderung einer bisher ungeschriebenen Geschichte des O-Tons angenommen zu haben, ist das Verdienst des vorliegenden Sammelbandes. Als Ergebnis einer gleichnamigen Potsdamer Tagung aus dem Jahre 2003 präsentiert er insgesamt 19 Aufsätze, die fünf Kapitelüberschriften untergeordnet sind sowie eine CD mit Tonbeispielen. Unter der ersten Überschrift „Begriff, Geschichte, Wert“ erfolgt zunächst eine medienkulturelle Einordnung dieses „Sonderphänomens des Akustischen“ (S. 9). Der Versuch einer kulturhistorischen Annäherung von Oliver Jungen fällt leider sehr kryptisch aus und trägt kaum zu einer systematischen, begrifflichen oder phänomenologischen Konturierung des O-Tons bei. Ergiebiger sind die Beiträge von Nikolaus Wegmann und Jürg Häusermann. Aus den je unterschiedlichen Perspektiven des O-Ton-Produzenten und O-Ton-Rezipienten ermessen beide Autoren die Tragweite des kulturellen Einflusses und der Bedeutung des O-Tons als Garant von Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit in den nicht als sonderlich zuverlässig geltenden massenmedialen Kommunikationskanälen. Die weiteren vier Kapitel sind den O-Ton-Verwertern bzw. O-Ton-Sammlern „Radio“ und „Film“ sowie „Literatur“ und „Archiv“ gewidmet.

Als aufschlussreich für eine Historisierung des O-Tons in Radio und Film erweisen sich die Aufsätze von Muriel Favre und Ralf Forster. Forsters Analyse von vertonten Werbetrickfilmen aus der Pionierzeit des Tonfilms macht eine bis heute für die Filmindustrie typische Tendenz aus: Selbst in der damals als experimentierfreudig geltenden Trickfilmbranche dienten die mit einer Originaltonspur versehenen Filme lediglich dazu, die visuellen Reize der künstlichen Bilderwelten zu verstärken. Im Unterschied dazu setzte man während des Nationalsozialismus auf den O-Ton als Propagandamittel zur Sicherung des kulturellen Gedächtnisses. Folgt man Favre, erschien die Archivierung von Rundfunkaufnahmen vor allem Joseph Goebbels als besonders geeignet für die ‚Verewigung’ der Reden Hitlers und damit verbunden für die Aufrechterhaltung der „nationalsozialistischen Wert- und Weltordnung“ nach dem Tod des „Führers“ (S. 97).

Sehr instruktiv sind auch die Beiträge von Eric Ames und Britta Lange über Entstehung und Nutzung von zwei zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin situierten Phonogrammarchiven. Beide Autoren verdeutlichen, welchen enormen Schub die damalige anthropologische Forschung durch die Entwicklung der akustischen Speichertechnologie erhalten hat. Ames zeigt, wie es dem Musikwissenschaftler Erich Moritz von Hornbostel gemeinsam mit seinem Kollegen, dem Gründer des 1900 eingerichteten Berliner Phonogramm-Archivs, Carl Stumpf, gelungen ist, anhand der Sammlung und Auswertung von Musikaufnahmen außereuropäischer Völker die vergleichende Musikwissenschaft ins Leben zu rufen. In Anknüpfung an Darwin wurden in diesem Kontext auch grundlegende Überlegungen über die Ursprünge der Musik angestellt. Dass mit der Speicherung und Archivierung von Stimmenportraits das Hören um 1900 in den Rang einer wissenschaftlichen Methode rückte, arbeitet auch Lange anhand ihres Wissenschaftsportraits des Berliner Sprachwissenschaftler Wilhelm Doegen heraus. Auf dessen Initiative geht eine Lautplattensammlung mit circa 250 Sprachaufnahmen zurück, die zum Zwecke der Erforschung „der allerverschiedensten Rassen“ (S. 324) während des Ersten Weltkriegs in deutschen Kriegsgefangenenlager entstanden ist. In Konkurrenz zur Schrift hatte der Stellenwert der akustischen Aufnahme bei Doegen allerdings doch das Nachsehen. Denn nicht etwa authentisch-spontane O-Töne der Probanden wollte er archivieren, sondern nur zuvor schriftlich fixiertes, mithin kontrollierbares Sprachmaterial gehörte in die Sprechmaschine eingelesen. 2

Mit einem in Dortmund installierten akustischen Denkmal, das an die montan-industrielle Geschichte des Ruhrgebiets erinnern soll, befasst sich der an der Methode der Oral History geschulte Beitrag von Uta C. Schmidt. Viermal am Tag ertönt seit 2003 auf dem ehemaligen Bergbaugelände „Minister Stein“ eine Schachtglocke, durch deren unterschiedliche Signalabfolgen früher Arbeit und Alltag der Bergarbeiter akustisch koordiniert wurden. Für die Historikerin verweist das Denkmal als historische Quelle nicht nur auf die Erinnerungsdimension des Akustischen. Ihre genaue Rekonstruktion des Ablaufes von der Entstehung der Idee zu diesem Denkmal bis zur seiner Einweihung erschließt mit Hilfe von O-Tönen aus Interviews eindruckvoll, wie sich im Zuge des gesellschaftlichen Strukturwandels auch ein Wandel von symbolischen Ordnungen und schichtenspezifischen Gefühlskulturen vollzogen hat.

Die wichtige Problematik der Manipulation von O-Tönen erörtern die Beiträge von Jörg Löffler und Cornelius Reiber. Anhand von Bodo Morshäusers Liebeserzählung „Nervöse Leser“ erläutert Löffler, wie die Unterscheidbarkeit und Wertigkeit von echten und falschen Gefühlen spätestens mit dem Eindringen von O-Tönen in den Liebesdiskurs dahinschwindet. Dass selbst mit Hilfe hochtechnisierter Methoden zwischen ‚originalem’ und manipuliertem O-Ton nur schwerlich unterschieden werden kann, zeigt Reiber in seinem höchst interessanten Beitrag über geheimdienstliche Verfahren zur Erfassung des gesprochenen Worts. Die Anstrengungen der forensischen Phonetik, die Stimmerkennungstechnologie für Sicherheitssysteme nützlich zu machen, führte zu der verblüffenden Erkenntnis, dass es nahezu unmöglich ist, von ein und demselben Menschen zweimal die gleiche Stimmaufzeichnung zu erhalten. Zumindest aus der Perspektive der forensischen Wissenschaft erweist sich der O-Ton tatsächlich als ein Dokument des Einzigartigen und Einmaligen!

Leider löst nur der kleinere Teil der Beiträge ein, was der Sammelband in seinem Titel verspricht. Dies hängt offenkundig mit einem Mangel an konzeptuellen Vorüberlegungen der Herausgeber zusammen und zeigt sich besonders deutlich an der thematischen wie zeitlichen Unverbundenheit einiger Aufsätze zum Forschungsgegenstand. Zu weit hergeholt ist es, sich mit Dichterlesungen im Literaturbetrieb des 18. Jahrhunderts oder mit akustischen Religionsvorstellungen des 12. Jahrhunderts zu befassen, wie dies die Studien von Harun Maye und Stefanie Rinke tun. Weder von Klopstocks Dichterlesungen noch von Bernhard von Clairvaux’ religionsphilosophischer Marienstilisierung als „lebendiges Klangmedium“ (S. 251) existieren O-Töne. Denn – und darauf wird in nahezu jedem Beitrag hingewiesen – Ursprung und Semantik des O-Tons liegen in seiner medientechnischen Vermitteltheit. Mit der längst kanonisierten Medientheorie Friedrich Kittlers bliebe diesem Tatbestand hinzuzufügen, dass es zuvor lediglich Aufschreibesysteme gegeben hat, mit denen Vorstellungen des Akustischen transportiert wurden, die, so subtil sie auch sein mochten, Leser nur dazu veranlassen konnten, Töne zu halluzinieren, was etwas völlig anderes ist, als sie medientechnisch zu Gehör zu bringen.3

Über die Schwäche des Konzepts hilft eine explizit Trennschärfe verneinende Einführung nicht hinweg, zumal sich die Herausgeber hier erst gar nicht die Mühe geben, einen übergreifenden Deutungsrahmen herzustellen und die Argumentationen der sehr heterogenen Einzelstudien aufeinander zu beziehen. Betont wird, dass der O-Ton nicht allein in seiner technikgeschichtlichen Perspektive erörtert werden soll. Vielmehr solle die besondere Titelschreibweise Original/Ton markieren, dass das als ‚Original’ gekennzeichnete Aufzeichnungsmaterial mitzubedenken sei, wenn man sich dem O-Ton widme (S. 9, S. 11). Welche Vorstellungen, Ideen oder Begriffe mit diesem akustischen Ausgangsmaterial als Bezugsgröße zum O-Ton verbunden werden, ob es sich dabei beispielsweise um die Bezugsgrößen des Authentischen oder Unmittelbaren, Einzigartigen oder Ursprünglichen, Materialen oder Mythischen handelt, darüber erhält man allerdings keinen systematischen Aufschluss.

So lässt sich abschließend konstatieren, dass einem Sammelband, der im Untertitel explizit eine Mediengeschichte des O-Tons in Aussicht stellt, sowohl eine gewisse Treue wie auch ein systematischer Aufschluss zu seinem Gegenstand gut getan hätte. Die Beiträge, welche nicht nur propädeutisch auf die Medienspezifität des O-Tons hinweisen, sondern ihrem Forschungsgegenstand auch thematisch treu bleiben, hätten es verdient, um weitere Aspekte ergänzt zu werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Kittler, Friedrich, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986; Bruch, Walter, Von der Tonwalze zur Bildplatte. Ein Jahrhundert Ton- und Bildspeicherung. 1. Teil: Mechanische Tonspeicherung, München 1983.
2 Beide O-Ton-Sammlungen werden heute in Berlin gepflegt. Das Phonogramm-Archiv befindet sich im Ethnologischen Museum, Doegens Lautplattensammlung ist Teil des Berliner Lautarchivs der Humboldt Universität zu Berlin.
3 Vgl. Kittler, Grammophon, S. 20f.

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