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Titel
Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik


Autor(en)
Schlak, Stephan
Erschienen
München 2008: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Radkau, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Wer war, wer ist Wilhelm Hennis? Auf diese Frage gibt Stephan Schlak schon in seinem Vorwort eine ganze Reihe Antworten: in einer pointierten, ja brillanten Weise, die neugierig macht. Hennis ist heute ein zorniger alter Mann unserer Republik, zu einer Zeit, in der das Gros der „jungen Alten“, der Altachtundsechziger – zumindest ihr pensionsberechtigter Teil – sich mit unserem Staat versöhnt hat; ein allzeit streitbarer Lehrer der Politikwissenschaft, der sich in die klassische Tradition der Lehre vom guten politischen Handeln stellt und gegen das bloße Theoretisieren um der Theorie willen ankämpft – aber selber doch nur in Ansätzen zum politischen Handeln gelangte.

Über Jahrzehnte stand Hennis immer wieder im Vorhof zur Macht. In den Worten von Schlak (S. 8): „Mit Hennis zieht die alte Bundesrepublik an uns vorbei. Überall scheint er dabei gewesen zu sein. Anfang der Fünfziger Jahre eilt er jeden Morgen durch das Vorzimmer von Kurt Schumacher. Als erster wissenschaftlicher Mitarbeiter der SPD-Bundestagsfraktion und enger Mitarbeiter Adolf Arndts, des Kronjuristen der frühen Bundesrepublik, ist er an der Ausarbeitung verfassungspolitischer Grundsatzentscheidungen der jungen Republik beteiligt. Wenig später ist er als politikwissenschaftlicher Assistent (von Carlo Schmid) in Frankfurt und zaubert jene legendäre Frankfurter ‚Kiste’ herbei, in der die alte marxistische Frankfurter ‚Zeitschrift für Sozialforschung’ vor neugierigen Augen versteckt war. In der ‚Spiegel’-Affäre 1962 trommelt der junge Hamburger Professor Theodor Eschenburg und die anderen liberalen Professoren zum Protest für die Freilassung von Rudolf Augstein und ‚Conny’ Ahlers zusammen. Zwanzig Jahre später, 1982, organisiert er von seinem Freiburger Wohnzimmer aus einen kleinen CDU-Putsch und sammelt abtrünnige Abgeordnete für eine Klage gegen Helmut Kohls ‚Staatsstreich auf Versprechen’ um sich.“ Und das sind nur einige Schlaglichter: Mit dem Namen Hennis verbinden sich noch mehr Geschichten, die an prekäre Punkte im bundesdeutschen Wissenschafts- und Politikbetrieb rühren.

Besonders fulminant kämpfte Hennis in den 1950er-Jahren gegen den neuen Trend, Ergebnisse von Meinungsumfragen zur Legitimation für demokratische Politik zu erheben. Politisch von Gewicht waren für ihn keine Kreuze auf anonymen Fragebögen, sondern nur öffentlich verfochtene Positionen – Politik als risikobereites Engagement. Dabei befand er sich in der Nähe späterer Achtundsechziger, die die Fragebogen-Soziologie verulkten. 1962 nahm er die Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von Jürgen Habermas, den Horkheimer damals am liebsten aus seinem Institut für Sozialforschung herausgeworfen hätte, in die von ihm betreute Reihe „Politica“ auf und verkrachte sich darüber mit seinem Mitherausgeber, dem Schmitt-Schüler Roman Schnur.

In der Folgezeit wetterte Hennis jedoch gegen den von der wachsenden Habermas-Schule genährten Hochmut der Theorie. Auf dem Duisburger Politologenkongress 1975 kam es zwischen ihm und Habermas zu einem förmlichen Showdown (S. 164ff.). Wie Schlak, hier mit Hennis eines Sinnes, kommentiert (S. 79): Mit Habermas’ „Erkenntnis und Interesse“ „startete Suhrkamp 1968 seine ‚stw’-Reihe, die Generationen von Studenten an die Theorie-Kette legte“. Paradoxerweise entwickelte gerade eine Studentenbewegung, die als Sponti-Revolte begonnen hatte, einen esoterischen Jargon, der in seltsamem Widerspruch zur Rhetorik der „Demokratisierung“ und der „Solidarität“ mit einem imaginären Proletariat stand.

Einer der Ursprünge der Pariser Mairevolte von 1968 war der Eklat in der Universität Nanterre im Januar jenen Jahres, als Daniel Cohn-Bendit mit dem Sport- und Jugendminister über sexuelle Probleme der Jugendlichen reden wollte und sich von diesem eine brüske Abfuhr holte. Hennis, der sich mit den Achtundsechzigern viel herumgeschlagen hat – wobei man nicht jeden seiner Ausfälle als Gipfel politischer Weisheit nehmen muss –, traf wohl ins Schwarze, wenn er kritisierte, dass vieles an dem Achtundsechzigertum im Kern unpolitisch sei. „Daß man diese Welt schal, langweilig, öde, trist, mies findet, daß sie einen unerfüllt läßt, das ist doch alles privat und politisch nicht sehr relevant.“ (S. 154) In der Tat: Wenn es schon seit den 1950er-Jahren bei vielen Intellektuellen zum guten Ton gehörte, die „Republik von Bonn“ in sarkastischer Häme als grau, alltäglich und bar großer Visionen abzutun, wirkt dies wie eine unbewusste Entzugserscheinung nach dem Zusammenbruch des NS-Reichs, das auf megalomane und brutale Weise visionär gewesen war. Die Achtundsechziger liebten es, ihren Widersachern einen „faschistoiden“ Geruch anzuhängen. Hennis zahlte es ihnen mit gleicher Münze heim.

Das heißt jedoch ganz und gar nicht, dass er fortan alle als konservativ geltenden Positionen automatisch mitgemacht hätte. Den Einstieg in die Kernenergie hielt er wegen des unlösbaren Entsorgungsproblems für einen Skandal (das kommt bei Schlak zu kurz), und auch die Carl-Schmitt-Renaissance war ihm zuwider. Als er für das Projekt einer „historisch-kritischen“ Ausgabe der Werke Carl Schmitts gutachten sollte, schoss er quer – „Nur über meine Leiche!“ – und brüskierte darüber sogar seinen alten Freund Reinhart Koselleck, der für das Projekt seinen Namen hergegeben hatte (S. 218f.).

Dem dramatischen Auf und Ab der Beziehung zu Jürgen Habermas folgte ein ähnlich wechselvolles Drama in der Beziehung zu Helmut Kohl. Hennis, in frischer Wut auf die Achtundsechziger und deren sozialdemokratische Mitläufer von der SPD zur CDU übergewechselt, glaubte in dem aufstrebenden pfälzischen Ministerpräsidenten seinen Mann zu finden, dem er mit politischem Rat unter die Arme greifen könne. Aber darin sah er sich spätestens nach Kohls Übernahme der Kanzlerschaft 1982 gründlich enttäuscht. Kohl wurde ihm zum Inbegriff der Korrumpierung der Politik, des Unterlaufens öffentlicher politischer Prozesse durch informelles Klüngelwesen, überhaupt zur fleischgewordenen Verkörperung des politisch-moralischen Niedergangs der Bundesrepublik.

Aber eben zur jener Zeit, als Hennis den Rest an politischer Hoffnung verlor und sich dem Ruhestandsalter näherte, strebte er seinem wissenschaftlichen Höhepunkt zu: als der große Wiederbeleber Max Webers. „Max Webers Neuverzauberung“ lautet der treffende Titel von Schlaks Schlusskapitel: Hennis als Wiederverzauberer des großen Entzauberers! Jahrzehntelang hatte Hennis gegenüber Weber eine Abneigung gehegt, seit dieser ihm bei seinem USA-Aufenthalt 1952 in seiner „parsonisierten“ Form – von Talcott Parsons, dem Papst der System-Soziologie, zurechtstylisiert – begegnet war (S. 195ff.): als aalglatter, alle Werte relativierender Säulenheiliger der Systemtheorie. Nun entdeckte Hennis Max Weber neu und als einen ihm selbst kongenialen Geist: als leidenschaftlichen Denker und Lehrer, dem es beim wütenden Insistieren auf wertfreier Wissenschaft mindestens so sehr um die Lauterkeit der Werte ging wie um die der Wissenschaft.

Ein weiteres Leitmotiv des Buches sind die Generationen. Hennis ist Jahrgang 1923 – immer wieder erwähnt Schlak dies als bedeutsam; er selbst ist Jahrgang 1974, gehört also (von Hennis aus gesehen) zur Generation der Enkel. Dazwischen liegt die viel kommentierte Generation der „Achtundsechziger“ sowie (laut Schlak) ihrer Ziehväter: der seit geraumer Zeit erfundenen „Flakhelfer-Generation“, zu der Habermas zählt. Über einen Hennis zu schreiben, ist für einen so viel jüngeren Zeitgenossen wie Schlak nicht leicht: Ein Mann wie Hennis scheint zu einem scharfen Pro oder Kontra zu zwingen, und eine Kommunikation „auf gleicher Wellenlänge“ gelingt einem Angehörigen der Enkel-Generation nur schwer. Umso imposanter ist es, wie Schlak seine Aufgabe gelöst und zugleich eine politikwissenschaftliche Dissertation und ein spritziges Buch geschrieben hat, das man mit Vergnügen liest und das wie nur wenige andere eine Fülle von Einblicken in das Innenleben des bundesdeutschen (Sozial-)Wissenschaftsbetriebs gewährt. Schlaks Buch lässt viel kongeniales Verständnis erkennen, aber auch souveräne analytische Distanz, ohne unterwürfiges Jüngertum, dafür mit Witz und Humor: eine Schreibe, wie man sie in politikwissenschaftlichen Qualifikationsschriften öfters finden möchte.

Stellenweise würde man die Beziehung zwischen Leben und Werk gern detaillierter erläutert sehen: Hennis, der so sehr die Bedeutung von Leidenschaft und Erleben für die politische Wissenschaft herausstreicht, ist kein Luhmann – seine Werkgeschichte lässt sich gewiss nicht (und das weiß Schlak am besten) als logische Ausdifferenzierung einer Theorie und als Entfaltung der Eigendynamik eines Zettelkasten-Systems schildern. Hennis’ Jugend in Venezuela auf der Plantage seines Vaters verdiente doch etwas mehr als anderthalb Seiten (S. 24f.): Durch die dortigen Erfahrungen wurde er von vornherein gegen jene Idealisierung der USA gefeit, zu der die von Wehler beschriebene Generation der ersten Fulbright-Stipendiaten neigte. Carlo Schmid als Leitbild eines Politikers nach Hennis’ Herzen hätte auch ein eigenes Kapitel verdient. Das Foto auf S. 147 mit einer Freiburger Mauerschmiererei von 1968 („Haut den Hennis auf den Penis!!!!“) lässt ahnen, dass „1968“ für Hennis wie für viele seiner Kollegen mit tiefen persönlichen Verletzungen verbunden war. Die 68er-Revolte spielte sich eben keineswegs nur auf dem Niveau der „Kritischen Theorie“ ab. Dramatische persönliche Zusammenstöße des streitbaren Hennis mit prominenten Weberianern verdienten ebenfalls aus der mündlichen in die schriftliche Überlieferung herübergerettet zu werden.

Aber Hennis lebt, und es wäre abwegig, über ihn das letzte Wort sagen zu wollen. Dieses imposante, ja pittoreske Buch ist zu seinem 85. Geburtstag erschienen – ganz ohne Feierlichkeit und lebensvoller als jede Festschrift.

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