R. Rürup u.a.: Schicksale und Karrieren

Cover
Titel
Schicksale und Karrieren. Gedenkbuch für die von den Nationalsozialisten aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vertriebenen Forscherinnen und Forscher


Autor(en)
Rürup, Reinhard; Schüring, Michael
Reihe
Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus 14
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
539 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claus-Dieter Krohn, Hamburg

Wenige Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs schrieb die aus dem NS-Staat ins Exil getriebene Physikerin Lise Meitner an ihren früheren in Deutschland gebliebenen Kollegen Otto Hahn: „Ihr habt auch alle für Nazi-Deutschland gearbeitet. Und habt auch nie nur einen passiven Widerstand zu machen versucht.“ Am besten wäre es, so schrieb sie weiter, „eine offene Erklärung abzugeben, dass Ihr Euch bewusst seid, durch Euere Passivität eine Mitverantwortung für das Geschehene auf Euch genommen zu haben“. Deutlicher kann das Versagen der deutschen Wissenschaftler vor dem Nationalsozialismus und der Gegensatz zwischen den zumeist ohne Reaktionen der Kollegen nach 1933 Entlassenen, dann aus dem Lande Geflohenen und den im Lande Gebliebenen nicht ausgedrückt werden als in diesem häufig zitierten Brief, den auch der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (MPG) in seinem Geleitwort erwähnt (S. 9, auch S. 133).

Das nicht nur von Meitner erwartete Bekenntnis der ehemaligen Kollegen zur Mitverantwortung ist bekanntlich nie abgegeben worden. Der von Reinhard Rürup unter Mitwirkung von Michael Schüring herausgegebene Gedenkband „Schicksale und Karrieren“ erinnert an dieses Versäumnis. Er präsentiert 104 Biographien der von der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) – der Vorläuferin der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen MPG – nach dem berüchtigten „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933 aus rassistischen oder politischen Gründen vertriebenen Gelehrten, etwa einem Drittel der dort tätigen Forscherinnen und Forscher, die häufig so erst wieder ein Gesicht bekommen.

Sein Erscheinen heute ist ein Indiz für die politische Kultur der Bundesrepublik in den vergangenen Dekaden. Exil und Emigration waren lange ein Tabu, verwiesen die Betroffenen doch allzu sehr auf das Versagen der Akteure oder Mitläufer hierzulande. Nach den ersten, auf den universitären Bereich beschränkten Versuchen gegen Ende der 1960er-Jahre, das Beschweigen der Vergangenheit in der Bundesrepublik aufzubrechen, begann die breitere Sensibilisierung für das Thema in der Öffentlichkeit – nicht ohne Widerstände im konservativen Lager – erst nach dem Generationenwechsel in den 1980er-Jahren. Die bahnbrechende Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 1985, in der erstmalig nicht mehr von der Niederlage, sondern von der Befreiung der Deutschen gesprochen wurde, ist dafür ein Indiz. Mit ihr begann ein Prozess des Umdenkens auch in der MPG. Es dauerte allerdings weitere zehn Jahre, ehe das große Forschungsprojekt über die Rolle der KWG im Nationalsozialismus Konturen gewann. Bisher sind daraus 17 Bände zu ihren verschiedenen Forschungsfeldern, der Korrumpierung ihrer Repräsentanten durch die NS-Politik, ihre wachsende Orientierung auf die Rüstungsforschung und die Kooperation bei den verbrecherischen Menschenversuchen in den Vernichtungslagern vorgelegt worden. In vorgerückter Projektphase ist schließlich ein Band den aus dem Kreise der KWG vertriebenen Wissenschaftlern gewidmet worden.

Das dafür gesammelte biographische Material lieferte die Grundlage auch für das vorliegende Gedenkbuch, welches das Projekt abschließt. Der Hauptteil umfasst – mit einem eindrucksvollen Bildteil versehen – die alphabetisch geordneten Lebensskizzen der vielfach berühmten und bekannten Namen, darunter diverse gewesene und künftige Nobelpreisträger oder mit anderen Auszeichnungen Geehrte. Für den Leser noch bemerkenswerter dürften die Biographien der heute weniger bekannten Gelehrten sein, weil sich in ihnen deutlicher als bei den Prominenten Karrierebrüche, Entwurzelungen, ja der Tod in den Vernichtungslagern oder am Galgen (vier Personen) und Abstürze ins Nichts zeigen – bei knapp 15 Prozent ist der weitere Werdegang nach der Emigration überhaupt nicht mehr zu ermitteln. Erstaunlich ist der Befund, dass von den 104 Entlassenen die meisten ihre lebensrettende Flucht ins Ausland antreten konnten. Diese Größen liegen signifikant über den rund 65 Prozent der von den Universitäten und anderen Forschungsstätten Vertriebenen. Zu erklären ist das vermutlich mit der stark naturwissenschaftlichen Profilierung der KWG, an deren Verfahren und Ergebnissen in den Zufluchtsländern Interesse bestand, denn von den 34 Instituten der KWG um 1933 waren lediglich drei anders ausgerichtet, nämlich das kleine Institut für Geschichte und die beiden Parallelinstitute für ausländisches und internationales Privatrecht sowie für öffentliches Recht und Völkerrecht. In größeren Gruppen konnten die geflohenen Wissenschaftler vor allem in den USA und in Großbritannien, vereinzelt auch in anderen Ländern ihre Forschungen fortsetzen.

Eingeleitet werden die Biographien von einem ebenso kurzen und präzisen historiographischen Abriss der KWG und ihrem institutionellen wie personellen Wandel nach der politischen Machtübergabe an die Nationalsozialisten, der sich, wie Reinhard Rürup überzeugend belegt, eher als „Selbstgleichschaltung“ darstellt. Dabei sei auffallend, dass den reinen Forschungsinstituten der KWG im Unterschied zu den Universitäten mit ihren 1933 bereits mehrheitlich nazifizierten Studentenorganisationen anfangs noch einige Spielräume geblieben waren. Die sofort beginnenden Attacken einiger der ins NS-Lager gewechselten Mitarbeiter der unteren Ränge hätten sogar disziplinarisch abgewehrt werden können. Direkte Solidarität mit den Entlassenen aber hat es mit Ausnahme einer Abschiedsfeier für den Direktor des Instituts für physikalische Chemie, den 65jährigen Fritz Haber, der seiner Entlassung mit einem Rücktritt zuvorgekommen war, nicht gegeben. Im Gegenteil, wegen seiner couragierten Kritik an den neuen Verhältnissen in Deutschland wurde beispielsweise die Entlassung Albert Einsteins, Direktor des Instituts für Physik, der im Frühjahr 1933 von einer USA-Reise nicht zurückgekehrt war, bei den Kollegen mit weitgehender Zustimmung aufgenommen. Gleiches gilt für die Entlassung des umtriebigen Zellforschers Sergej Tschachotin, einem russischen Menschewiken, der sich seit 1930 gegen die Nazis politisch engagiert hatte. Zusammen mit Carlo Mierendorff war er Schöpfer des Dreipfeil-Emblems der Eisernen Front, und deshalb zählt er zu den wenigen aus politischen Gründen Entlassenen. Die Erbärmlichkeiten seiner Kollegen und des Präsidenten Max Planck, die ihm vorwarfen, sich „extrem“ in den politischen Tageskampf hineinbegeben und sein Gastrecht als Ausländer missbraucht zu haben, sind lediglich kleine Details seiner abenteuerlichen Biographie.

In den vorgestellten Biographien spiegeln sich nicht nur die scheinbar legalen Praktiken des NS-Ausnahmerechts sowie die Abwesenheit von Zivilcourage und elementaren zivilgesellschaftlichen Normen wider, die die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten so schnell und geräuschlos ermöglichten, sondern auch deren Kontinuitäten bis weit in die Zeit nach 1945. Kein Einzelfall ist der mit einer Jüdin verheiratete und deswegen 1933 aus dem KWI für Züchtungsforschung ausgeschiedene Agrarwissenschaftler Max Ufer. Zunächst hatte er noch in Deutschland in der Privatwirtschaft tätig sein können. Anschließend emigrierte er nach Rumänien, wo Frau und Tochter während des Krieges im Untergrund leben mussten, und floh von dort nach dem Krieg und der einjährigen Haft in einem sowjetischen Lager nach Wien. Dort arbeitete er einige Zeit für die International Refugees Organization und anschließend einige Jahre im Auftrag der Regierung des neuen Staates Afghanistan, ehe er 1952 um eine Wiederaufnahme seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in der neuen MPG ersuchte. In den Vorgesprächen bedeutete ihm der Institutsdirektor jedoch, dass er mit Rücksicht auf seine jüdische Frau nicht wie die anderen Kollegen auf dem Institutsgelände wohnen könne, sondern sich eine Unterkunft im benachbarten Hameln suchen müsse. Von der ohnehin nur geringen Zahl der ehemaligen Emigranten, die ins Nachkriegsdeutschland remigriert waren, gehörte er zu denen, die nach solchen Zumutungen alsbald ein zweites Mal emigrierten, nun für immer und möglichst weit weg: In Brasilien und als Berater der Food and Agriculture Organization begann der 53jährige Ufer noch einmal ein neues Berufsleben.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension