Chr. Linder: Der Bahnhof von Finnentrop

Cover
Titel
Der Bahnhof von Finnentrop. Eine Reise ins Carl Schmitt-Land


Autor(en)
Linder, Christian
Erschienen
Berlin 2008: Matthes & Seitz
Anzahl Seiten
478 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Pädagogische Hochschule Heidelberg

In den 1920er-Jahren übersetzte der Kreis um Stefan George die romantische Heldenverehrung in die wirkungsgeschichtliche Analyse der "Geschichte des Ruhms" und der "Mythologie" einer "Gestalt". Das Leben verflüchtigte sich dabei zur Legende. Die Dichtung überwucherte die faktische Wahrheit eines Lebens. Mitunter ist es bequem, die Balance von Dichtung und Wahrheit in eine fiktionalisierte Biographie aufzuheben. Das lange Leben des deutschen Staatslehrers Carl Schmitt (1888-1985) ist quellenmäßig breit belegt. In verschiedenen Registern führte Schmitt selbst Buch. Die erste umfassende Biographie von Paul Noack scheute den ausgedehnten Weg in die Archive und liest sich heute in manchen Teilen fast wie ein Roman.1 Der in Lüdenscheid geborene Journalist und Schriftsteller Christian Linder nennt sie „unzureichend“ und betont, dass eine vollständige Biographie bis heute „fehlt“ (S. 263). Dabei sind viele Quellen heute zugänglicher. Zahlreiche Briefwechsel und Tagebücher sind ediert. Der Weg zu den Archiven steht offen. Die Masse der Quellen dürfte ziemlich singulär sein. Man kann über Schmitts Leben (insbesondere seit 1922) von Tag zu Tag sehr viel wissen. Eine starke Einschränkung ist allerdings nötig: Ein großer Teil autobiographischer Quellen ist in der seltenen idiomatischen Stenoschrift Schmitts verfasst und daher ohne Voraussetzungen kaum zu verstehen. Auch nach zwanzig Jahren Suche lastet die Entzifferung fast ausschließlich auf den tüchtigen Schultern des heute über 80jährigen Hans Gebhardt. Völlig zu Recht wurde Gebhardt deshalb nach einer Editorentagung des Marbacher Literaturarchivs vor einiger Zeit als der wahre und eigentliche "Held" aller neueren Schmitt-Forschung ausgerufen. Ohne ihn blieben uns die Tagebücher verschlossen, blieben Berge von Forschungsliteratur – wenn auch mitunter ohne Verlust – ungeschrieben.

„Der Bahnhof von Finnentrop“ war Carl Schmitts Plettenberger Tor zur Welt. Der junge Schmitt lebte so ziemlich an und auf der Eisenbahn. Nach 1947 war die Station der Knotenpunkt für sein reges Reiseleben und die Ankunft des internationalen Besuchs. Linders Titel deutet auf einen literarischen Anspruch hin: auf eine Entdeckungsfahrt zum Autor und seiner „Mentalität“. Linder gräbt bis auf einige Briefe der Jahre 1945/46 keine unbekannten Quellen aus, sondern schreibt auf gängigem Stand eine fiktionalisierte Biographie. Er zielt auf starke Deutungen. Das ist Schmitt nicht fremd, der sich gerne in verschiedenen geistesgeschichtlichen Masken und Mythen spiegelte: Don Juan und Othello, Donoso Cortés und der "Sündenbock" Hobbes, Machiavelli, Herman Melvilles “Benito Cereno” und Shakespeares “Hamlet” nur sind einige dieser Identifikationen. Die autobiographische Dialogisierung seines Denkens hat Schmitt im Spätwerk selbst gesucht. Linder verlängert diese literarische Wendung. Dabei hebt er einige Überlegungen und Akzente auf interessante Weise hervor. Er nimmt die autobiographischen Quellen und Schriften auf, zitiert ausführlich, bisweilen ausufernd die Selbstbeschreibungen und verdichtet sie zum fiktiven Zwiegespräch mit dem alten Schmitt. Er rekapituliert biographische Schlüsselstadien – mit leichten Fehlern auf gängigem Stand –, peppt sie mit längst kursierenden Briefhäppchen auf – Schlüsselbriefe von Hermann Heller, Walter Benjamin, Ernst Jünger und Jacob Taubes – und sucht die Zwiesprache, die Deutung und ein Urteil über den nationalsozialistisch belasteten „Fall“. Schlüsselszenen sind die dialogische Ausweitung der überlieferten Verhöre Robert M.W. Kempners mit Schmitt im Rahmen der Nürnberger Prozesse 2, ein imaginiertes Treffen des Autors Linder mit Schmitt auf sauerländischen Höhen sowie eine fiktive Spruchkammerverhandlung, die einige Zeugen und Stimmen der Sekundärliteratur aufruft. Biographische Rückblenden und Dialogisierungen wechseln sich ab. In der Chronologie des Lebens springt Linder hin und her. Sein literarisches Rahmenkonzept zerfällt ihm dabei bisweilen in die extensive und fast deutungslose Addition von Briefen und Selbstaussagen. Der Text kippt dann in eine bloße Addition ziemlich beliebiger Quellen ab. Er hält seine Form nicht ganz durch.

Linder sieht in Schmitt den Esoteriker, den eingeweihten Geschichtsphilosophen und arroganten Prätendenten eines arkanen Geheimwissens und sucht den "Fall" vom elitistischen, esoterischen Dünkel her zu entschlüsseln. Die verfassungspolitischen Fragen und Krisen Weimars kommen dabei kaum zur Sprache. Schmitt erscheint erneut als pathetischer Dezisionist und eschatologischer Dramatiker des Ausnahmezustands, als verstiegener Sonderling, der den Weltgeist im narzisstischen Professorendünkel kommandieren wollte. Mit ausgiebigen Zitaten und Paraphrasen macht Linder mit Schmitts späten geistesgeschichtlichen Klimmzügen bekannt. Er wirbt für den Tiefsinn und brandmarkt ihn doch als weltfremd. Der Sauerländer erscheint als Gefährte des Traumtänzers Martin Heidegger und des Äonenspekulanten Ernst Jünger. Damit läuft Linder Gefahr, die geistesgeschichtlichen Sahnehäubchen mit den historisch-politischen und juristischen Analysen zu verwechseln und eine individuelle "Theologie" statt "Politik" zu zelebrieren. Schmitt wird zum Querdenker und Solitär im Nationalsozialismus. Der "Mythos" wird dabei eher bestärkt als entschlüsselt. Das "Ungeheuer", von dem Linder spricht, entpuppt sich als Märchenonkel.

Linder schreibt damit ein Gegenbild zur verbreiteten Dämonisierung: einen eigenartigen Heimatroman über einen leicht verstiegenen, nicht unsympathischen Sauerländer. Die Deutung trifft auch den Autor: Die Dialogisierung strebt zum Rendezvous mit dem Weltgeist. Nur Narr, nur Dichter? Linders Anspruch ist eher biographisch als fiktional. Die Literarisierung dient journalistisch-didaktischen Zwecken. Das Wagnis ist irgendwo zwischen Emil Ludwig, Rüdiger Safranski und „Sofies Welt“ angesiedelt. Neben dem Buch von Paul Noack kann es durchaus bestehen. Wem die dialogisierende und introspektive Einfühlung nicht behagt, der kann sich an den reichen Bildteil halten. Ernst Hüsmert, die gute Seele des Schmitt-Gedächtnisses, öffnete dafür sein Archiv.

Anmerkungen:
1 Noack, Paul, Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin 1993.
2 Quaritsch, Helmut (Hrsg.), Carl Schmitt. Antworten in Nürnberg, Berlin 2000.

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