C. Heymel: Kriegserlebnis als Reiseerfahrung

Titel
Touristen an der Front. Das Kriegserlebnis 1914-1918 als Reiseerfahrung in zeitgenössischen Reiseberichten


Autor(en)
Heymel, Charlotte
Reihe
Literatur - Kultur - Medien 7
Erschienen
Münster 2007: LIT Verlag
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Michl, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin

In ihrer an der Universität Osnabrück 2006 eingereichten literaturwissenschaftlichen Dissertation hat Charlotte Heymel weit über hundert Reiseberichte, die zwischen 1914 und 1918 auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erschienen sind, sowie Sammlungen von Feldpostbriefen ausgewertet. Die literarische Verarbeitung des Kriegserlebnisses anhand des Beschreibungsmusters „Krieg als Reise“ steht dabei im Mittelpunkt ihrer Analyse. Dass sie die Frontreiseberichte in zwei Kontexte stellt – einerseits Propagandaliteratur des Ersten Weltkriegs, andererseits Reiseliteratur des frühen 20. Jahrhunderts –, macht ihre Studie für Literaturwissenschaftler wie für Historiker interessant.

Die bisherige Forschungsliteratur über Schlachtentourismus hat sich hauptsächlich mit den Reiseberichten der Nachkriegszeit beschäftigt. Im Fokus stand die kommemorative Funktion dieser Quellengattung, die Konstruktion eines spezifischen Gedächtnisraumes und Erinnerungsortes.1 Heymel setzt eine Studie dagegen, die ausschließlich auf Reisen während der Kriegszeit eingeht. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Kriegsreiseberichte in dem weiteren gattungsspezifischen Kontext der Reiseliteratur zu lesen sind. Darin setzt sich Heymel auch dezidiert von der Arbeit Susanne Brandts ab, die die „literarische Konstruktion des Kriegserlebnisses als Reiseerfahrung“ nicht thematisiert habe (S. 18). Welche Funktionen die Gattung des Reiseberichts in Kriegszeiten auszufüllen vermag und in wieweit sich seine Merkmale gerade auch für propagandistische Zwecke eignen, steht im Fokus der Arbeit.

Die Autoren dieser Kriegsreiseberichte sind ungewöhnlich vielfältig: Liebesgabenkuriere, Begleiter von Pferde- und Truppentransporten, Geistliche, Lehrer und Gemeindeschreiber, kirchliche und weltliche Funktionäre, Kriegsberichterstatter und Journalisten, Schriftsteller und Maler, Schauspieler, Veteranen des Krieges von 1870/71, Angehörige von Frontsoldaten, Abgesandte eines Ansichtskarten-Verlags, Mitglieder des Ausschusses für fahrbare Kriegsbüchereien, Politiker, Abgeordnete und Ornithologen (S. 63f.). Angesichts dieser Vielfalt erstaunt doch die meist sehr homogene Berichterstattung, die überlieferten Mustern der Reiseliteratur zu entsprechen scheint und kaum individuelle Gestaltung des Erlebten zuließ. Auch die 27 noch hinzugezogenen, hauptsächlich englischen und französischen Reiseberichte bestätigen den Befund, dass die literarische Beschreibung des Kriegserlebnisses als Reiseerfahrung nach ähnlichen, beinahe identischen Mustern verlief.

Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der literaturwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Kontextualisierung und den hervorstechenden Merkmalen des touristischen Schreibens von der Front. Darunter fallen etwa die Reiseberichte als Formen kriegsspezifischer Mobilität, als Gegenmodell zum bürgerlichen Reisen und als eine Art „Kriegsdienst“, dem Frontdienst der Soldaten vergleichbar. Der Krieg kommt in solchen Berichten entweder kaum, unreflektiert oder verharmlosend vor. Bei der Gegenüberstellung von zivilen und soldatischen Reiseberichten lehnen sich erstere an tradierte schriftliche Formen der Reiseliteratur an, während sich letztere eher mündlicher Reiseerzähltraditionen bedienen. Den Anspruch, ziviles und soldatisches Schreiben von der Front gegenüberzustellen, vermag Heymel jedoch kaum einzulösen. Bezüglich des soldatischen Schreibens bezieht sie sich auf noch zu Kriegszeiten in Sammlungen publizierte, arrangierte und ausgewählte Feldpostbriefe. Diese zwei Quellensorten zu einer Kategorie der literarischen Kriegsverarbeitung zusammenzufassen, ist konsequent. Daraus jedoch ein spezifisch soldatisches Kriegserleben und -schreiben abzulesen, das vom zivilen unterschieden werden kann, ist nicht plausibel. Im Folgenden verweist Heymel nur noch selten auf diese Unterscheidung und stützt sich in ihren Beispielen hauptsächlich auf die zivilen Kriegsreiseberichte. Man hätte sich trotzdem gewünscht, dass der Befund eines offenbar so wirkmächtigen literarischen Topos „Krieg als Reise“ auch anhand nicht publizierter Feldpostbriefe (oder wenigstens anhand der Sekundärliteratur zu den Feldpostbriefen) überprüft worden wäre.

Kulturgeschichtlich verortet die Verfasserin die Gattung einerseits in der Wandervogel-Bewegung, andererseits in einer von intellektuellen und künstlerischen Gruppierungen getragenen Grundstimmung der Erneuerungs- und Aufbruchsrhetorik. Wanderlust, Abenteuerlust und Kriegslust gehen hier nahtlos ineinander über.

Der zweite Teil befasst sich enger literaturwissenschaftlich mit Funktionen und Funktionalisierungspotenzialen der Gattung Reisebericht. Darunter fasst die Autorin eine informative, unterhaltende, erzieherische, sozialkritische und zertifikatorische Funktion, denen sie jeweils ein Unterkapitel widmet. Eine zentrale Funktion hebt die Verfasserin gesondert hervor: die strategische Einsetzung der Reiseberichte als Propagandainstrument. Heymel geht dieser Frage anhand der Schriften des Leiters der Presseabteilung IIIb des Generalstabs Walter Nicolai, der Quellensammlung Wilhelm Deists „Militär und Innenpolitik 1914-1918“ und einzelner Akten des Militärarchivs Freiburg nach. Von militärischer Seite wurden diese Frontreisen unter bestimmten Bedingungen gefördert, gelenkt und kontrolliert, gerade weil sie neben der amtlichen Berichterstattung eine individuelle Sicht auf den Krieg zu bieten schienen. Diese Indienstnahme wurde von den Kriegsreisenden kaum reflektiert, vom Opponieren ganz zu schweigen.

Im dritten Teil geht Heymel der Frage nach, welche spezifischen thematischen und strukturellen Merkmale der Reiseberichte sie geradezu dafür prädestinieren, als Propagandaschriften zu fungieren. Sie macht hier drei Komplexe aus: Identität/Alterität, Authentizität und Literarizität, von denen sie besonders den ersten Komplex einer eingehenden Untersuchung unterzieht. Ein Merkmal der Reiseberichte – ob nun im Kriegs- oder Friedenskontext – ist die Gegenüberstellung eines „er-fahrbaren“ Fremden mit dem Eigenen. Die Fremd- und Feindkonstruktionen in den Kriegsreiseberichten schöpfen, wie Heymel am englischen, französischen und russischen Beispiel aufzeigt, aus dem weiten Arsenal der Völkerstereotypisierungen der Vorkriegszeit. Selbst- und Fremdbeschreibungen folgen recht einheitlichen Mustern: Der Gegensatz zwischen Fremd und Eigen wird ontologisiert, die Bedrohung als omnipräsent, der Feind als vernichtenswert, entmenschlicht oder verharmlosend und karikierend inszeniert. Diese Negativ-Schablone dient vor allem der deutschen Selbstversicherung als eines kultur- und ordnungsliebenden, humanitären und gebildeten Volks. Überlegungen zu Beglaubigungsstrategien der Augenzeugen und zur Literarizität des Genres schließen diesen Teil ab, bringen aber nichts substantiell Neues und hätten wohl auch in den ersten Teil der Untersuchung eingebunden werden können.

In einer literaturwissenschaftlichen Perspektive hat es sich Charlotte Heymel zum Ziel gesetzt, ihr Quellenkorpus auf einheitliche literarische Muster zu untersuchen. Damit macht sie deutlich, wie sehr man diese Quellenart in die gattungsspezifische Tradition der Reiseberichte zu stellen hat. Es bedurfte im Grunde genommen nur geringfügiger Adaptionen, um das Genre den propagandistischen Kriegszwecken dienlich zu machen. Diese Herangehensweise bringt es mit sich, dass Brüche und Konflikte, etwa in den Beschreibungsmustern oder im Selbstverständnis der Kriegsreisenden, kaum und nur am Rande thematisiert werden. Es wäre aufschlussreich gewesen, wenn die Autorin ihre Ergebnisse an das historische Forschungsfeld der „Kriegsberichterstattung“ angeknüpft hätte.2 Man hätte gern gewusst, ob und wenn ja, wo sie hier Grenzen zwischen Kriegsreiseberichten und Kriegsberichterstattung zieht.

Insgesamt ist Charlotte Heymel eine gut zu lesende und mit zahlreichen Quellenzitaten durchsetzte Arbeit gelungen. Allenfalls hätte man die Arbeit etwas stringenter gliedern können, um die zahlreichen Redundanzen zu umgehen.

Anmerkungen
1 Brandt, Susanne, Vom Kriegsschauplatz zum Gedächtnisraum. Die Westfront 1914-1940, Baden-Baden 2000; Winter, Jay, Sites of Memory, Sites of Mourning: The Great War in European Cultural History, Cambridge u.a. 1995.
2 Daniel, Ute (Hrsg.), Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2006; dies., Bücher vom Kriegsschauplatz: Kriegsberichterstattung als Genre des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Hardtwig; Erhard Schütz (Hrsg.), Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2005, S. 93-121.