Seit 1918 plante die Sowjetunion einen Angriffskrieg im Westen. Lenin wollte „das antikommunistische Polen“ beseitigen, Stalin bereitete seit 1929/30 einen „Vernichtungskrieg“ gegen Deutschland vor. So lautet die Kernthese in Bogdan Musials neuem Buch „Kampfplatz Deutschland“. Musial unternimmt damit nichts weniger als den Versuch, die sowjetische Geschichte der Jahre 1918 bis 1941 von Grund auf neu zu deuten.
Das Buch hat zwei Fixpunkte: den polnischen Angriff auf die Sowjetunion am 25. April 1920 und den deutschen Überfall am 22. Juni 1941. Wie jedoch lassen sich aus zwei Verteidigungskriegen die Angriffspläne der Sowjetunion ableiten?
Musial geht in beiden Fällen ganz ähnlich vor. Er deutet alle Maßnahmen zur Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft des Landes als Vorbereitung eines Angriffskrieges. Die Aufrüstung der Sowjetunion ist in seiner Sicht ein klarer Beleg für deren Expansionslust. Die militärischen Planspiele des Generalstabes der Roten Armee beweisen deren konkrete Angriffsabsichten. Die Spionagetätigkeit des sowjetischen Geheimdienstes stellt ein eindeutiges Indiz für einen unmittelbar bevorstehenden Angriff dar. Wieder und wieder vollzieht Musial jenen bequemen Zirkelschluss: Die Sowjetunion plante einen Angriffskrieg, weshalb sie die Rote Armee aufrüstete und das Land auf den Krieg vorbereitete, was wiederum belege, dass sie einen Angriffskrieg plante.
Auf diese Weise kommt Musial zu dem Ergebnis, dass die sowjetische Führung seit Januar 1920 einen Krieg gegen Polen vorbereitet habe. Aus seinen Quellen geht zwar deutlich hervor, dass man – letztlich ja auch zu Recht – mit einem polnischen Angriff rechnete und Maßnahmen für die Landesverteidigung traf. Musial hält dem entgegen, dass diejenigen Quellen, die von Verteidigung sprechen – seien es öffentliche Aussagen oder interne Berichte – nur der Verschleierung der sowjetischen Angriffsabsichten gedient hätten. In seiner Tautologie unrettbar gefangen führt Musial weiter aus, dass die sowjetische Führung vom polnischen Angriff – vor dem sie in den zitierten Quellen wiederholt gewarnt hatte! – überrascht worden sei.
Die naheliegende Schlussfolgerung, dass die sowjetischen Kriegsvorbereitungen der Verteidigung dienten oder allenfalls als präventive Angriffspläne zu verstehen sind, weist Musial zurück. Vielmehr sei es Piłsudskis gewesen, der einen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion geführt habe. Der Leser erfährt zwar nichts über die polnischen Kriegsvorbereitungen oder Piłsudskis außenpolitische Intentionen. Stattdessen versichert Musial, Piłsudskis habe keine offensiven Absichten gehegt. Wer ihm in dieser Ansicht nicht folgen mag, der gehe noch heute der sowjetischen Propaganda auf den Leim, die eine gezielte Kampagne gegen den unerschütterlichen Antikommunisten geführt habe.
Der zweite Teil des Buches nimmt Stalins Kriegspläne gegen Deutschland ins Visier. Auch hier sprechen Musials Quellen eigentlich eine eindeutige Sprache: Stalin unterstellte ‚dem kapitalistischen Westen’ aggressive Absichten gegen die Sowjetunion. Da die Rote Armee jedoch nicht kriegsbereit war, drängte er auf eine einsatzfähige Truppe und setzte dafür ein gigantisches Rüstungsprogramm in Gang. All diese Maßnahmen dienen Musial wiederum als Beleg für die Vorbereitung eines Angriffskrieges. Doch er geht in seiner Interpretation noch weiter. Stalin habe nicht nur die Industrialisierung forciert, um die Rote Armee mit modernen Waffen auszurüsten, auch die Kollektivierung der Landwirtschaft und der 'Große Terror' hätten allein dem einen Ziel gedient: das Land auf den geplanten Angriffskrieg gegen Deutschland vorzubereiten.
Musial sieht im Stalinismus also ein System, dessen eigentliche Wesensart vom unbedingten Willen zur territorialen Expansion bestimmt war. Alle anderen Politikbereiche seien diesem Ziel untergeordnet worden. Doch wie schon 1920, so sei auch dieses Mal der Kriegsgegner dem sowjetischen Angriff zuvorgekommen. Hitler sei Stalins Kriegsplänen lediglich um ein bis zwei Jahre zuvorgekommen.
Über weite Strecken enthält dieser Teil des Buches wenig Neues. Die forcierte Industrialisierung und die Kollektivierung rekonstruiert Musial weitgehend aus Archivquellen, ohne dass er der Stalinismusforschung der letzten zwanzig Jahre, die er weitgehend ignoriert, etwas hinzufügen kann. Literaturkenntnis hätte hier vor mancher Neuentdeckung geschützt. Für Kernbereiche seines Themas wie den Hitler-Stalin-Pakt oder Stalins Strategie im Frühjahr 1941 kann Musial weder neue Quellen noch eine originelle Interpretation anbieten. Die vermeintlichen Angriffsabsichten der Sowjetunion belegt er letztlich nur mit jenem seit fünfzehn Jahren bekannten Trinkspruch Stalins vor den Absolventen der Militärakademie am 5. Mai 1941, in dem der sowjetische Diktator ausführte: „(…) Unsere Politik des Friedens und der Sicherheit ist gleichzeitig eine Politik der Kriegsvorbereitung. Es gibt keine Verteidigung ohne Angriff. Man muss die Armee im Geiste des Angriffs erziehen. Man muss sich auf den Krieg vorbereiten.“ (S. 448)
Bisher unbekannte Dokumente hat Musial vor allem hinsichtlich der außenpolitischen Einschätzungen der sowjetischen Führung in den 1920er- und 1930er-Jahren sowie zur Aufrüstung der Roten Armee erschlossen. Leider wirft Musial seine Quellen zumeist völlig unreflektiert ins Feld. So sieht Musial etwa in den zahlreichen Aussagen Stalins, die Sowjetunion werde von seiner kapitalistischen Umwelt bedroht, nur einen propagandistischen Vorwand, um das Land aufzurüsten. Als Beleg dienen ihm unter anderem ein Brief Stalins an Molotow und ein Brief Dserschinskis an Stalin. In beiden wird Polen vorgeworfen, einen Krieg gegen die Sowjetunion zu planen (S. 198). Zweifellos hat Musial Recht, dass in Wirklichkeit keine Kriegsgefahr bestand. Doch belegt nicht gerade die interne Korrespondenz, dass die sowjetische Führung dennoch an eine solche glaubte? Aus welchem Grund sollten sich die sowjetischen Entscheidungsträger Briefe schreiben, in denen sie die Propagandaformeln aus der 'Prawda' wiederholten, die sie selbst lanciert hatten und an die sie überhaupt nicht glaubten? Dies ist nur ein Beispiel von vielen, in denen Musial die grundlegenden Regeln der Quellenkritik missachtet. Er verfährt vielmehr nach dem Prinzip: Bestätigt eine Quelle meine These, spricht sie die Wahrheit, widerspricht sie hingegen meiner Überzeugung, handelt es sich um sowjetische Propaganda.
Nicht weniger problematisch erscheint Musials Umgang mit der bisherigen Forschung. Eine wissenschaftliche Arbeit sollte die eigenen Ergebnisse stets selbstkritisch am aktuellen Forschungsstand prüfen. Musial dagegen stellt schon in der Einleitung klar, dass die bisherige Forschung auf die sowjetische Propaganda hereingefallen sei. Diese pauschale Wertung soll ihn wohl von der Pflicht befreien, sich mit den Ergebnissen und Argumenten anderer Historiker inhaltlich auseinanderzusetzen. Fortan ignoriert er schlichtweg weite Teile der Historiographie. Nur gelegentlich kommt er auf einzelne Arbeiten zu sprechen, allerdings nur, um deren Autoren als Apologeten der sowjetischen Propaganda zu diffamieren.
Hinzu kommt ein entweder unreflektierter oder bewusst fahrlässiger Umgang mit den Begrifflichkeiten. Musial versucht Begriffe aus der NS-Forschung auf die stalinistische Sowjetunion zu übertragen. Gebetsmühlenartig spricht er vom „Vernichtungskrieg“, den Stalin gegen Deutschland geplant habe. Was darunter zu verstehen ist und inwieweit der Begriff für den sowjetischen Fall angemessen ist, diskutiert Musial nicht. Nur schemenhaft wird deutlich, dass er unter Vernichtungskrieg wohl einen Feldzug versteht, der unter massivem Einsatz von Panzern und Luftwaffe geführt wird und das Ziel verfolgt, die militärischen Kräfte des Gegners zu vernichten. Sieht Musial darin den Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten treffend umschrieben? Eine weitere solche Begriffsübertragung stellt die wiederholte Aussage dar, dass Stalin Regimegegner in „KZs“ habe einsperren lassen (S. 361 und 365). Unklar bleibt, ob Musial hier nur gedankenlos agiert oder ganz bewusst Nationalsozialismus und Stalinismus auf eine Stufe stellen möchte. Einer konsequent vergleichenden Betrachtung geht er zwar aus dem Wege, doch immerhin resümiert er in seiner Schlussbemerkung: „Stalin mit seinen kommunistischen Gefolgsleuten war auch derjenige, der in Europa im 20. Jahrhundert die größten Massenverbrechen beging.“ (S. 467)
Musial will mit seinem Buch erklärtermaßen die internationale Forschung provozieren. Doch die methodischen Defizite sind zu offenkundig und die Plausibilität seiner Thesen zu gering, um eine Kontroverse auszulösen. Immerhin hat Musial eine Fülle neuer Archivquellen erschlossen. Es würde sich lohnen, diese mit einer Frage anstelle einer vorgefassten Meinung noch einmal zu lesen. So könnte man Aufschlüsse über die Eigenarten sowie die Ergebnisse der sowjetischen Aufrüstung der 1930er-Jahre gewinnen. Und man könnte noch einmal über die Bedeutung der Kriegsparanoia der Bolschewiki für die innenpolitische Mobilisierung der Sowjetunion nachdenken.