B. Musial: Stalins Kriegspläne gegen den Westen

Cover
Titel
Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegspläne gegen den Westen


Autor(en)
Musial, Bogdan
Erschienen
Anzahl Seiten
586 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Ganzenmüller, Historisches Kolleg München

Seit 1918 plante die Sowjetunion einen Angriffskrieg im Westen. Lenin wollte „das antikommunistische Polen“ beseitigen, Stalin bereitete seit 1929/30 einen „Vernichtungskrieg“ gegen Deutschland vor. So lautet die Kernthese in Bogdan Musials neuem Buch „Kampfplatz Deutschland“. Musial unternimmt damit nichts weniger als den Versuch, die sowjetische Geschichte der Jahre 1918 bis 1941 von Grund auf neu zu deuten.

Das Buch hat zwei Fixpunkte: den polnischen Angriff auf die Sowjetunion am 25. April 1920 und den deutschen Überfall am 22. Juni 1941. Wie jedoch lassen sich aus zwei Verteidigungskriegen die Angriffspläne der Sowjetunion ableiten?

Musial geht in beiden Fällen ganz ähnlich vor. Er deutet alle Maßnahmen zur Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft des Landes als Vorbereitung eines Angriffskrieges. Die Aufrüstung der Sowjetunion ist in seiner Sicht ein klarer Beleg für deren Expansionslust. Die militärischen Planspiele des Generalstabes der Roten Armee beweisen deren konkrete Angriffsabsichten. Die Spionagetätigkeit des sowjetischen Geheimdienstes stellt ein eindeutiges Indiz für einen unmittelbar bevorstehenden Angriff dar. Wieder und wieder vollzieht Musial jenen bequemen Zirkelschluss: Die Sowjetunion plante einen Angriffskrieg, weshalb sie die Rote Armee aufrüstete und das Land auf den Krieg vorbereitete, was wiederum belege, dass sie einen Angriffskrieg plante.

Auf diese Weise kommt Musial zu dem Ergebnis, dass die sowjetische Führung seit Januar 1920 einen Krieg gegen Polen vorbereitet habe. Aus seinen Quellen geht zwar deutlich hervor, dass man – letztlich ja auch zu Recht – mit einem polnischen Angriff rechnete und Maßnahmen für die Landesverteidigung traf. Musial hält dem entgegen, dass diejenigen Quellen, die von Verteidigung sprechen – seien es öffentliche Aussagen oder interne Berichte – nur der Verschleierung der sowjetischen Angriffsabsichten gedient hätten. In seiner Tautologie unrettbar gefangen führt Musial weiter aus, dass die sowjetische Führung vom polnischen Angriff – vor dem sie in den zitierten Quellen wiederholt gewarnt hatte! – überrascht worden sei.

Die naheliegende Schlussfolgerung, dass die sowjetischen Kriegsvorbereitungen der Verteidigung dienten oder allenfalls als präventive Angriffspläne zu verstehen sind, weist Musial zurück. Vielmehr sei es Piłsudskis gewesen, der einen Präventivkrieg gegen die Sowjetunion geführt habe. Der Leser erfährt zwar nichts über die polnischen Kriegsvorbereitungen oder Piłsudskis außenpolitische Intentionen. Stattdessen versichert Musial, Piłsudskis habe keine offensiven Absichten gehegt. Wer ihm in dieser Ansicht nicht folgen mag, der gehe noch heute der sowjetischen Propaganda auf den Leim, die eine gezielte Kampagne gegen den unerschütterlichen Antikommunisten geführt habe.

Der zweite Teil des Buches nimmt Stalins Kriegspläne gegen Deutschland ins Visier. Auch hier sprechen Musials Quellen eigentlich eine eindeutige Sprache: Stalin unterstellte ‚dem kapitalistischen Westen’ aggressive Absichten gegen die Sowjetunion. Da die Rote Armee jedoch nicht kriegsbereit war, drängte er auf eine einsatzfähige Truppe und setzte dafür ein gigantisches Rüstungsprogramm in Gang. All diese Maßnahmen dienen Musial wiederum als Beleg für die Vorbereitung eines Angriffskrieges. Doch er geht in seiner Interpretation noch weiter. Stalin habe nicht nur die Industrialisierung forciert, um die Rote Armee mit modernen Waffen auszurüsten, auch die Kollektivierung der Landwirtschaft und der 'Große Terror' hätten allein dem einen Ziel gedient: das Land auf den geplanten Angriffskrieg gegen Deutschland vorzubereiten.

Musial sieht im Stalinismus also ein System, dessen eigentliche Wesensart vom unbedingten Willen zur territorialen Expansion bestimmt war. Alle anderen Politikbereiche seien diesem Ziel untergeordnet worden. Doch wie schon 1920, so sei auch dieses Mal der Kriegsgegner dem sowjetischen Angriff zuvorgekommen. Hitler sei Stalins Kriegsplänen lediglich um ein bis zwei Jahre zuvorgekommen.

Über weite Strecken enthält dieser Teil des Buches wenig Neues. Die forcierte Industrialisierung und die Kollektivierung rekonstruiert Musial weitgehend aus Archivquellen, ohne dass er der Stalinismusforschung der letzten zwanzig Jahre, die er weitgehend ignoriert, etwas hinzufügen kann. Literaturkenntnis hätte hier vor mancher Neuentdeckung geschützt. Für Kernbereiche seines Themas wie den Hitler-Stalin-Pakt oder Stalins Strategie im Frühjahr 1941 kann Musial weder neue Quellen noch eine originelle Interpretation anbieten. Die vermeintlichen Angriffsabsichten der Sowjetunion belegt er letztlich nur mit jenem seit fünfzehn Jahren bekannten Trinkspruch Stalins vor den Absolventen der Militärakademie am 5. Mai 1941, in dem der sowjetische Diktator ausführte: „(…) Unsere Politik des Friedens und der Sicherheit ist gleichzeitig eine Politik der Kriegsvorbereitung. Es gibt keine Verteidigung ohne Angriff. Man muss die Armee im Geiste des Angriffs erziehen. Man muss sich auf den Krieg vorbereiten.“ (S. 448)

Bisher unbekannte Dokumente hat Musial vor allem hinsichtlich der außenpolitischen Einschätzungen der sowjetischen Führung in den 1920er- und 1930er-Jahren sowie zur Aufrüstung der Roten Armee erschlossen. Leider wirft Musial seine Quellen zumeist völlig unreflektiert ins Feld. So sieht Musial etwa in den zahlreichen Aussagen Stalins, die Sowjetunion werde von seiner kapitalistischen Umwelt bedroht, nur einen propagandistischen Vorwand, um das Land aufzurüsten. Als Beleg dienen ihm unter anderem ein Brief Stalins an Molotow und ein Brief Dserschinskis an Stalin. In beiden wird Polen vorgeworfen, einen Krieg gegen die Sowjetunion zu planen (S. 198). Zweifellos hat Musial Recht, dass in Wirklichkeit keine Kriegsgefahr bestand. Doch belegt nicht gerade die interne Korrespondenz, dass die sowjetische Führung dennoch an eine solche glaubte? Aus welchem Grund sollten sich die sowjetischen Entscheidungsträger Briefe schreiben, in denen sie die Propagandaformeln aus der 'Prawda' wiederholten, die sie selbst lanciert hatten und an die sie überhaupt nicht glaubten? Dies ist nur ein Beispiel von vielen, in denen Musial die grundlegenden Regeln der Quellenkritik missachtet. Er verfährt vielmehr nach dem Prinzip: Bestätigt eine Quelle meine These, spricht sie die Wahrheit, widerspricht sie hingegen meiner Überzeugung, handelt es sich um sowjetische Propaganda.

Nicht weniger problematisch erscheint Musials Umgang mit der bisherigen Forschung. Eine wissenschaftliche Arbeit sollte die eigenen Ergebnisse stets selbstkritisch am aktuellen Forschungsstand prüfen. Musial dagegen stellt schon in der Einleitung klar, dass die bisherige Forschung auf die sowjetische Propaganda hereingefallen sei. Diese pauschale Wertung soll ihn wohl von der Pflicht befreien, sich mit den Ergebnissen und Argumenten anderer Historiker inhaltlich auseinanderzusetzen. Fortan ignoriert er schlichtweg weite Teile der Historiographie. Nur gelegentlich kommt er auf einzelne Arbeiten zu sprechen, allerdings nur, um deren Autoren als Apologeten der sowjetischen Propaganda zu diffamieren.

Hinzu kommt ein entweder unreflektierter oder bewusst fahrlässiger Umgang mit den Begrifflichkeiten. Musial versucht Begriffe aus der NS-Forschung auf die stalinistische Sowjetunion zu übertragen. Gebetsmühlenartig spricht er vom „Vernichtungskrieg“, den Stalin gegen Deutschland geplant habe. Was darunter zu verstehen ist und inwieweit der Begriff für den sowjetischen Fall angemessen ist, diskutiert Musial nicht. Nur schemenhaft wird deutlich, dass er unter Vernichtungskrieg wohl einen Feldzug versteht, der unter massivem Einsatz von Panzern und Luftwaffe geführt wird und das Ziel verfolgt, die militärischen Kräfte des Gegners zu vernichten. Sieht Musial darin den Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten treffend umschrieben? Eine weitere solche Begriffsübertragung stellt die wiederholte Aussage dar, dass Stalin Regimegegner in „KZs“ habe einsperren lassen (S. 361 und 365). Unklar bleibt, ob Musial hier nur gedankenlos agiert oder ganz bewusst Nationalsozialismus und Stalinismus auf eine Stufe stellen möchte. Einer konsequent vergleichenden Betrachtung geht er zwar aus dem Wege, doch immerhin resümiert er in seiner Schlussbemerkung: „Stalin mit seinen kommunistischen Gefolgsleuten war auch derjenige, der in Europa im 20. Jahrhundert die größten Massenverbrechen beging.“ (S. 467)

Musial will mit seinem Buch erklärtermaßen die internationale Forschung provozieren. Doch die methodischen Defizite sind zu offenkundig und die Plausibilität seiner Thesen zu gering, um eine Kontroverse auszulösen. Immerhin hat Musial eine Fülle neuer Archivquellen erschlossen. Es würde sich lohnen, diese mit einer Frage anstelle einer vorgefassten Meinung noch einmal zu lesen. So könnte man Aufschlüsse über die Eigenarten sowie die Ergebnisse der sowjetischen Aufrüstung der 1930er-Jahre gewinnen. Und man könnte noch einmal über die Bedeutung der Kriegsparanoia der Bolschewiki für die innenpolitische Mobilisierung der Sowjetunion nachdenken.

Kommentare

Von Lehmann, Maike17.05.2009

Hiermit veröffentlicht die Redaktion die Replik von Bogdan Musial auf die Rezension seines Buches 'Kampfplatz Deutschland' vom 17.04.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=11444&type=rezbuechercher>.
In einer gesonderten Email folgt die Reaktion des Rezensenten Jörg Ganzenmüller.

----

Von: Bogdan Musial
Email: <bmusial@arcor.de>

In der Rezension meines Buches „Kampfplatz Deutschland“ erhebt Jörg Ganzenmüller schwerwiegende Vorwürfe, wie zum Beispiel „methodische Defizite“, „vorgefasste Meinung“, Unkenntnis der Forschung und Missachtung „der grundlegenden Regeln der Quellenkritik“. Man möchte meinen, dass der Rezensent wenigstens versuchen würde, diese diffamierenden Vorwürfe mit konkreten Beispielen zu belegen. Das ist jedoch nicht geschehen.
Vielmehr deutet vieles darauf hin, dass Ganzenmüller mein Buch nur oberflächlich gelesen hat. Auch ignoriert er die dort zahlreich angeführten Quellen. Und dies, gepaart mit einer starken Meinung bzw. Voreingenommenheit sind möglicherweise die Ursachen für die von Ganzenmüller formulierten, teilweise kuriosen Vorwürfe. Hier einige Beispiele:

Unbestritten ist, dass die Sowjetunion mit Stalin an der Spitze ab 1927/28 massiv aufrüstete, und dass im Jahre 1930 diese Aufrüstung enorme Dimensionen annahm. Ebenfalls unbestritten ist, dass damals der UdSSR keine Kriegsgefahr drohte. Ich vertrete nun die These, dass Stalin und seine Genossen die Sowjetunion auf einen ideologisch bedingten Eroberungskrieg vorbereitetet haben. Dies habe ich mit zahlreichen von mir angeführten Quellen belegt, u. a. mit Äußerungen Stalins und seiner engsten Vertrauten, die man kaum anders deuten kann.

Ganzenmüller blendet jedoch diese Quellen in seiner Rezension geradezu systematisch aus, wie beispielsweise das Protokoll der Sitzung des Hauptkriegsrates der Roten Armee vom 4. Juni 1941. Während der Sitzung wurde der von Stalin angeordnete Übergang von der „pazifistischen“ zur „offensiven“ Propaganda erörtert. Teilgenommen haben daran u. a Andrei Schdanow und Georgi Malenkow, beide enge Vertraute von Stalin.
Während der Besprechung erklärte Schdanow: „Die Kriege mit Polen und Finnland waren keine Verteidigungskriege. […] Bereits Lenin hat während des I. Weltkrieges im Aufsatz ‚Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa‘ gesagt, falls es notwendig ist, wird das siegreiche Proletariat gegen die kapitalistischen Staaten auch mit kriegerischen Mitteln auftreten. Die Politik der Offensive hatten wir auch früher. Wir ändern jetzt nur die Parole. Wir haben begonnen, den Leitsatz von Lenin zu realisieren.“

Malenkow bestätigte Schdanow und erklärte, dies sei die „Wende in der Propaganda und nicht in der Politik.“ (S. 448 f.). Das ganze Protokoll habe ich bereits im Jahre 2006 (in deutscher Übersetzung) in der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ 2006/1, S. 58-60 veröffentlicht. Ganzenmüller blendet dieses Schlüsseldokument aus.

Auch übersah Ganzenmüller die Rede von Lew Mechlis vom 10. Mai 1940, dem damaligen Chef der politischen Verwaltung der Roten Armee, die ich auf Seite 421 anführe. Mechlis erklärte dort; „Unser Krieg mit der kapitalistischen Welt wird ein gerechter, progressiver Krieg sein. Die Rote Armee wird aktiv operieren, die totale Zerschlagung und Vernichtung des Feindes anstreben, die militärischen Aktivitäten auf das Territorium des Gegners verlegen. […] Die Rede ist von aktiven Handlungen des siegreichen Proletariats und der Werktätigen […], von solchen Handlungen, in denen die Initiative für den gerechten Krieg unser Staat und seine Arbeiter- und Bauern-Rote-Armee ergreifen.“

Die hier angeführten Äußerungen sind meines Erachtens unmissverständlich genug, zumal sie eine von sehr zahlreichen in meinem Buch angeführten Belegen, Fakten, Ereignissen und Indizien sind. Ganzenmüller geht hingegen weiterhin von einer angeblichen Kriegsparanoia Stalins und seiner Genossen aus, der nur deswegen massiv aufrüstete, weil er überzeugt gewesen wäre, dass der UdSSR eine unmittelbare Kriegsgefahr gedroht hätte. Dabei wirft er mir Missachtung der Quellenkritik vor. Allerdings habe ich das Problem der sowjetischen Propaganda der Kriegsbedrohung in meinem Buch ausführlich besprochen (S. 197-203). Aber darauf geht Ganzenmüller nicht ein. Die imaginäre Kriegsgefahr instrumentalisierten Stalin und seine Anhänger aber, um „innere Feinde“ zu bekämpfen, die Partei zu mobilisieren und eben die massive Aufrüstung zu rechtfertigen. Auch geheimdienstliche Berichte, die auf Stalins Schreibtisch in den 1920er- und 1930er-Jahren landeten, warnten zu diesem Zeitpunkt vor keiner Kriegsbedrohung, im Gegenteil.

Ganzenmüller wirft mir auch einen „unreflektierten oder bewusst fahrlässigen Umgang mit den Begrifflichkeiten“ vor: „Musial versucht Begriffe aus der NS-Forschung auf die stalinistische Sowjetunion zu übertragen.“ Ganzenmüller nimmt Anstoß daran, dass ich vom „Vernichtungskrieg“, den Stalin geplant hatte, schreibe. Auch kritisiert er, dass ich von den sowjetischen „KZs“ schreibe. Diese Begriffe verwendeten die sowjetischen Täter allerdings selbst als internen Terminus technicus, und zwar Jahre bevor Hitler an die Macht gekommen war.

Den Begriff „Konzentrationslager“ (konzlager´, deutsche Abkürzung KZ) finden wir oft in den einschlägigen Berichten und Beschlüssen der sowjetischen Täter aus den 1920er- und 1930er-Jahren. Darauf verwies ich in meiner Arbeit ausdrücklich (S. 265). Auch andere Historiker verwenden den Begriff „sowjetische Konzentrationslager“, wie beispielsweise Jörg Baberowski in seinem Buch „Der Rote Terror“ (S. 126) oder etwa Richard Overy, der in dem Buch „Die Diktatoren“ auf Seite 790 schreibt: „Die Geschichte der sowjetischen Konzentrationslager begann wie die soviele anderer Wahrzeichen der sowjetischen Diktatur im russischen Bürgerkrieg.“

Michail Tuchatschewski war der Vater der sowjetischen Konzeption des Blitz- und Vernichtungskrieges, er formulierte sie in einer Reihe von Denkschriften (mindestens acht), die er in den Jahren 1929-1930 verfasste. Die wichtigste von ihnen war die Denkschrift vom 11. Januar 1930, in der Tuchatschewski von der „totalen Vernichtung“ der gegnerischen Kräfte schreibt und zwar unter massenhaftem Einsatz von Panzern, Flugzeugen sowie unter „massivem Einsatz von chemischen Kampfmitteln“. Stalin segnete diese strategische Konzeption ab und ließ Vorbereitungen dazu von Tuchatschewski realisieren (S. 305-347).

Hervorzuheben ist, dass diese Konzeption den „massenhaften Einsatz“ von chemischen Kampfmitteln vorsah. Noch im Jahre 1924 schrieb Trotzki über die künftige sowjetische Kriegsstrategie (S. 110): „Flugzeugeschwader von enormer Traglast und Reichweite transportieren [chemische Waffen] in das tiefe rückwärtige Gebiet und vernichten damit nicht nur die [traditionelle] Front, […] sondern heben den Unterschied zwischen Armeen und der Zivilbevölkerung auf.“ Und Stalin erklärte am 17. April 1940 (S. 423): „Genossen, man muss auf den Gegner mehr Bomben abwerfen, um ihn zu betäuben, um seine Städte in Trümmer zu verwandeln, so erreichen wir den Sieg.“

Ähnlich haltlos ist Ganzenmüllers Kritik an meinen Ausführungen zum bolschewistisch-polnischen Krieg von 1920. Ich schrieb in diesem Zusammenhang keineswegs von einem Präventivkrieg, wie Ganzenmüller behauptet, sondern von einem polnischen Angriff, der einer sowjetischen Offensive zuvorgekommen ist. Die polnische Seite verfügte über genaue Informationen über die sowjetischen Vorbereitungen zu einer großen Offensive, und zwar dank Funkaufklärung, wie wir heute dank neuster Erkenntnisse wissen, was in meinem Buch nachzulesen ist (S. 40). Die von mir aufgefundenen und im Buch angeführten Quellen aus den Moskauer Archiven bestätigten diese bolschewistischen Vorbereitungen.

Ganzenmüller unterstellt mir auch eine „vorgefasste Meinung“, als ich mein Buch niederschrieb. Im Jahre 2004 veröffentlichte ich den Dokumentenband „Sowjetische Partisanen in Weißrussland“ und auf Seite 16 schrieb ich damals: „Am Vorabend des deutschen Überfalls galt in der Sowjetunion die militärisch-strategische Konzeption der ‚offensiven Verteidigung‘.“ Von der Konzeption eines ideologisch bedingten Eroberungskrieges schrieb ich damals kein Wort. Ich war ebenfalls der sowjetischen „pazifistischen Propaganda“ aufgesessen, worauf ich auf Seite 11 meines Buches ausdrücklich verweise. Erst die umfassende und sehr intensive Lektüre einschlägiger Quellenbestände in den Moskauer Archiven hat mich veranlasst, meine Meinung doch zu revidieren.

Auch ich habe in der Vergangenheit einzelne Autoren wegen unwissenschaftlichen Umgangs mit historischen Quellen kritisiert, wie beispielsweise Hannes Heer oder etwa Jan Tomasz Gross. Diese Vorwürfe habe ich aber stets detailliert und ausführlich belegt, widerlegt sind diese bis heute jedenfalls noch nicht. Ganzenmüller schenkt solchen „Kleinigkeiten“ allerdings keine Bedeutung, erhebt aber seinerseits schwere inhaltliche Vorwürfe, die er nicht belegen kann. Seriös ist das mit Sicherheit nicht.

Dr. habil. Bogdan Musial


Von Lehmann, Maike17.05.2009

Im Folgenden veröffentlicht die Redaktion eine Stellungnahme von Jörg Ganzenmüller zur Replik Bogdan Musials auf seine Rezension von 'Kampfplatz Deutschland' (H-Soz-u-Kult, 17.04.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=11444&type=rezbuechercher>)

-----

Von: Jörg Ganzenmüller, Historisches Kolleg München
E-Mail: <Joerg.Ganzenmueller@historischeskolleg.de>

Bogdan Musials Entgegnung auf meine Rezension gibt einen lebendigen Eindruck von seinem Buch „Kampfplatz Deutschland“ wider: Sie spiegelt seine Form der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen, seine einseitige Interpretation der Quellen sowie seinen sorglosen Umgang mit Begrifflichkeiten. Diese drei zentralen Kritikpunkte möchte ich an dieser Stelle noch einmal erläutern.

Erstens: Musial blendet weite Teile der Forschung aus. Seine Neuinterpretation der Kollektivierung oder des stalinistischen Terrors ignoriert beinah vollständig die zahlreichen Arbeiten zu diesen Themen. Und selbst die Forschung zu seinem eigentlichen Untersuchungsgegenstand, der sowjetischen Militärstrategie der dreißiger Jahre, rezipiert er nur partiell. Dabei zeigt eine Reihe von Studien auf breiter Quellenbasis, wie Michail N. Tuchatschewski zunächst als Stabschef der Roten Armee, später als Volkskommissar für Verteidigung, die noch aus dem Bürgerkrieg stammende sowjetische Militärstrategie an eine moderne Operationsführung anpasste.1 Kern dieser strategischen Neuausrichtung war die Überzeugung, dass man Bewegungskriege, in denen Panzern und der Luftwaffe eine entscheidende Bedeutung zufiel, als die Grundlage künftiger militärischer Erfolge ansah. Dementsprechend verfolgte Tuchatscheswkis Strategie der „tiefen Operation“ das Ziel, die Linien des Gegners zu durchbrechen, zu umfassen und dann vernichtend zu schlagen. Nicht Rückzug, sondern Offensive wurde somit zum Schlagwort der sowjetischen Kriegsplanung.

Die sowjetische Führung verband diese militärstrategische Ausrichtung zusätzlich mit einer politisch-ideologischen Wunschvorstellung. Die Gegenoffensive sollte den Krieg sofort auf den Boden des Gegners tragen und die sowjetische Bevölkerung vor den Folgen des unmittelbaren Kriegsgeschehens bewahren. Zusätzlich hoffte man, mit Arbeiteraufständen die Heimatfront des Gegners zu unterminieren. Die von Musial angeführte Rede Lew Mechlis’ vom 10. Mai 1940 belegt genau diese Strategie und eignet sich gerade nicht als Beleg für die sowjetische Absicht, einen Angriffskrieg zu führen. Musial zitiert in seiner Entgegnung aus diesem Dokument u. a. den Satz: „Die Rote Armee wird aktiv operieren, die totale Zerschlagung und Vernichtung des Feindes anstreben, die militärischen Aktivitäten auf das Territorium des Gegners verlegen.“ Man kann Kämpfe nur auf das Territorium des Gegners „verlegen“, wenn sie bereits auf dem eigenen stattfinden. Allein in diesem Satz kommt also jene Strategie der offensiven Verteidigung zum Ausdruck.

Diese Strategie hatte zweierlei Folgen: Erstens musste die Rote Armee massiv aufgerüstet werden, da ihr die Voraussetzungen für einen solchen Bewegungskrieg fehlten. Zum anderen plante der Generalstab fortan nicht den Rückzug der Roten Armee in die Weite des russischen Raumes, sondern die Offensive. Alle diese Planungen, und dies unterschlägt Musial, gehen jedoch von einem Angriff aus, den man durch eine Gegenoffensive erwidern wollte. Musial hat keine der hier knapp zusammengefassten Studien benutzt. Er ignoriert diese Planungen schlichtweg und deutet jede Quelle, in der er die Stichworte „Offensive“ oder „Angriff“ findet, als schlagenden Beleg für die Angriffsplanungen der Roten Armee.

Zweitens: Musial missachtet die allgemeinen Regeln der Quellenkritik. Dies lässt sich an seiner Interpretation des ebenfalls in seiner Entgegnung zitierten Protokolls des Hauptkriegsrates der Roten Armee vom 4. Juni 1941 exemplarisch veranschaulichen.2 Dieses Dokument gibt die Diskussion von hochrangigen sowjetischen Funktionären über die künftige Ausrichtung der Propaganda innerhalb der Roten Armee wider. Die Notwendigkeit für einen solchen Schritt wird klar benannt: Die internationale Lage hatte sich nach dem Sieg der Wehrmacht in Frankreich grundlegend verändert. Zudem hatte die Sowjetunion im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes Ostpolen in sein Herrschaftsgebiet inkorporiert, sich die baltischen Staaten einverleibt sowie einen Angriffskrieg gegen Finnland geführt. Für die sowjetische Führung stellte sich nun die Frage, ob und inwieweit man sich aus dem Krieg in Europa noch heraushalten konnte. Andrei Schdanow, Mitglied des Politbüros, formulierte dies so: „Zwischen Frieden und Krieg – ein Schritt.“ Aus dem Dokument wird nicht klar ersichtlich, ob man einen deutschen Überfall erwartete oder selbst einen Angriff wagen würde.

Beides schien möglich. Zum einen stand aus sowjetischer Sicht zu befürchten, dass die Briten ihren Widerstand aufgeben würden und Hitler sich dann nach Osten wenden könnte. Zum anderen bestand das Kalkül des Hitler-Stalin-Paktes gerade darin, dass sich die „kapitalistischen Staaten“ gegenseitig aufreiben würden und die Sowjetunion am Ende als „lachender Dritter“ eingreifen könnte. Seit 1939 stand eine Expansion der Sowjetunion in Richtung Westen also durchaus auf der Agenda Stalinscher Außenpolitik. Das von Musial angeführte Dokument ist Ausdruck dieser Politik. Schdanow begründet unter anderem damit die Notwendigkeit einer Wende in der parteipolitischen Arbeit: „Wir sind stärker geworden, wir können offensivere Aufgaben stellen. Die Kriege mit Polen und Finnland waren keine Verteidigungskriege. Wir haben den Weg der offensiven Politik bereits eingeschlagen.“

Musial sieht in diesem Dokument jedoch nicht nur den Beleg für eine offensive Ausrichtung der sowjetischen Außenpolitik seit 1939, der man nun die parteipolitische Arbeit innerhalb der Roten Armee anpassen wollte. Er führt diese Dokumente vielmehr als Beleg dafür an, dass die Sowjetunion bereits seit 1919 einen Angriffskrieg gegen den Westen geplant habe. Dies versucht er mit der Aussage Schdanows zu belegen, dass bereits Lenin gesagt habe, dass das siegreiche Proletariat gegen die kapitalistischen Staaten auch mit kriegerischen Mitteln auftreten werde. Und weiter: „Die Politik der Offensive hatten wir auch früher. Wir ändern jetzt nur die Parole. Wir haben begonnen, den Leitsatz von Lenin zu realisieren.“

Allerdings stammt das besagte Lenin-Zitat aus dem Jahre 1915. Es ist folglich im Kontext des Ersten Weltkrieges entstanden und nicht als außenpolitisches Programm der frühen Sowjetunion zu lesen. Abgesehen von diesem Anachronismus verschweigt Musial, dass es sich bei dem von ihm zitierten Protokoll um eine Diskussion handelt, die durchaus kontrovers geführt wurde. Malenkow kritisierte zum Beispiel den diskutierten Entwurf einer Direktive als „primitiv verfasst, als ob wir morgen Krieg führen müssten“. Und Budjonnyi wirft im Gestus stalinistischer Selbstkritik ein, dass man ja selbst für die bisherige pazifistische Propaganda verantwortlich sei und im Falle einer Wende sich erst einmal selbst dafür rügen sollte. In dieser Diskussion benutzt Schdanow das Lenin-Zitat als Argument für seine Position: Es handle sich bei der anstehenden Direktive um keine Wende in der Politik – die ja tatsächlich bereits 1939 erfolgt war – sondern nur um eine Wende in der Propaganda. In den sowjetischen Führungskreisen war es üblich, die eigene Position durch ein passendes Lenin-Zitat abzusichern. Aus diesem Einwurf Schdanows die Grundlinien sowjetischer Außenpolitik seit 1919 ableiten zu wollen, überstrapaziert die Quelle. Doch genau dieser Umgang mit Quellen kennzeichnet Musials Vorgehensweise. Er wirft jeden Satz, den er in den Akten findet und der seine Ausgangsthese stützt, ins Feld. Er verzichtet dabei sowohl auf eine Kontextualisierung des jeweiligen Dokuments als auch auf jegliche Quellenkritik. Und er unterschlägt alles, was sich nicht in sein einfaches Interpretationsschema pressen lässt.

Auch meinen dritten Kritikpunkt möchte ich aufrechterhalten. Musial übernimmt Begriffe aus der NS-Forschung und verpflanzt sie ohne weitere Erläuterung in den sowjetischen Kontext. In seiner Entgegnung rechtfertigt er dieses Vorgehen damit, dass diese Begriffe zeitgenössisch und von den „sowjetischen Tätern“ verwendet worden sein. Ja, es gab bereits vor 1933 und auch außerhalb von Deutschland Lager, die man „Konzentrationslager“ nannte. „KZ“ ist jedoch nicht – wie Musial behauptet – die harmlose deutsche Abkürzung für ein internationales Phänomen. Der Begriff „KZ“ stand schon bei den Zeitgenossen für die deutschen Konzentrationslager und bezieht sich in der heutigen Wissenschaft explizit auf die nationalsozialistischen Lager. Genauso verhält es sich mit dem Begriff „Vernichtungskrieg“. Auch dieser ist älter und wurde von sowjetischer Seite benutzt. In der Wissenschaft hat sich in den neunziger Jahren jedoch der Begriff „Vernichtungskrieg“ für die deutsche Kriegführung im östlichen Europa, insbesondere in der Sowjetunion, durchgesetzt. Dies kann man nicht ignorieren. Die sowjetische Kriegsplanung und auch die spätere Kriegführung unterscheiden sich grundlegend vom deutschen Vernichtungskrieg im Osten. Man sollte diese Unterschiede auch in einer sauberen Begriffsbildung zum Ausdruck bringen und nicht durch eine identische Bezeichnung verwischen. Indem Musial die Begriffe „KZ“ und „Vernichtungskrieg“ aus ihren jeweiligen Diskussionszusammenhängen reißt und für andere Phänomene benutzt, ohne diese Entscheidung näher zu begründen, stiftet er semantische Verwirrung. Die Aufgabe von Wissenschaft scheint mir das Gegenteil zu sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. David M. Glantz, Soviet Military Operational Art. In Pursuit of Deep Battle, London 1991; Sally W. Stoecker, Forging Stalin’s Army. Marshal Tukhachevsky and the Politics of Military Innovation, Boulder 1998; Lennart Samuelson, Plans for Stalin’s War Machine. Tukhachevskii and Military-Economic Planning, 1925-1941, Basingstoke 2000.
2 Bogdan Musial hat dankenswerterweise eine deutsche Übersetzung dieses Dokuments abgedruckt, so dass meine Einwände leicht nachprüfbar sind, vgl. Bogdan Musial, „Wir werden den ganzen Kapitalismus am Kragen packen“. Sowjetische Vorbereitungen zum Angriffskrieg in den dreißiger und Anfang der vierziger Jahre, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2006), S. 45-64, hier 58-60.


Von Musial, Bogdan03.06.2009

Im Folgenden veröffentlicht die Redaktion eine Stellungnahme von Bogdan Musial zur Replik Jörg Ganzenmüllers auf seine Rezension von 'Kampfplatz Deutschland' (H-Soz-u-Kult, 17.04.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=11444&type=rezbuechercher>)

-----

Von: Bogdan Musial
Email: <bmusial@arcor.de>

Mit großer Verwunderung habe ich die Ausführungen von Jörg Ganzenmüller vom 17. Mai 2009 auf meine Stellungnahme von selben Tag gelesen. Ganzenmüller beharrt dort auf seinen Vorwürfen (unwissenschaftlicher Umgang mit Quellen und Ignorierung der bisherigen Forschung), die er bereits in seiner Rezension vom 17. April formulierte, ohne damals irgendwelche konkreten Beispiele genannt zu haben. Darauf wies ich in meiner Stellungnahme ausdrücklich hin.

So behauptet Ganzenmüller weiterhin, ich hätte weite Teile der Forschung ausgeblendet, diesmal nennt er jedoch ein konkretes Beispiel. Er schreibt nämlich, ich hätte die neueste Forschung zu Tuchatschewski und seiner Militärstrategie ignoriert. Tuchatschewski war derjenige, der die sowjetische Konzeption von Vernichtungs- und Blitzkrieg Anfang der 1930er-Jahre entworfen hatte, um in Stalins Auftrag Vorbereitungen hierfür zu realisieren. Allerdings war Tuchatschewski nie Volkskommissar für Verteidigung, wie Ganzenmüller in seiner Replik behauptet.

Konkret wirft mir Ganzenmüller dieses Mal vor, ich hätte die Arbeit von Lennart Samuelson ausgeblendet, die ohne Zweifel wichtig und wertvoll ist. Das Problem ist jedoch, dass ich mich auf diese Arbeit in meinem Buch durchaus berufe, und zwar sogar ziemlich oft! Allerdings führe ich nicht die englische Version an, die im Jahre 2000 erschienen ist, sondern die russische, die ein Jahr später veröffentlicht wurde.1 Da dort auch russische Quellen im Original zitiert werden, zog ich die russische der englischen Version vor. Außer Samuelson habe ich unter anderem die Arbeiten von Oleg Ken (erschienen 2002) und Erl F. Ziemke (erschienen 2004) angeführt.2 Und das war nach meiner Kenntnis der neueste Stand der Forschung zu diesem Thema, als ich mein Buch verfasste (2007).

Außerdem scheint Ganzenmüller nicht zu begreifen, dass jeder Autor, der ein breites und vielschichtiges Thema in einem Buch von begrenztem Umfang behandelt, eine bestimmte Auswahl an Fachliteratur vornehmen muss. Daher heißt die Bibliografie, die am Ende meines Buches zu finden ist, auch Auswahlbibliografie. Und im Buch „Kampfplatz Deutschland“ behandle ich die sowjetische Geschichte von 1919 bis zum Juni 1941, wobei militärische, wirtschaftliche, soziale und politische Aspekte besprochen werden.

Ganzenmüller beharrt auch auf dem Vorwurf, ich hätte „die allgemeinen Regeln der Quellenkritik“ missachtet. In seiner Rezension vom 17. April 2009 hielt er es für nicht notwendig, einen konkreten Fall hierfür zu benennen. Diesmal glaubt er, allerdings irrtümlich, einen solchen Fall gefunden zu haben. Es handelt sich um das von mir ausführlich zitierte Protokoll des Hauptkriegsrates der Roten Armee vom 4. Juni 1941, das er in seiner früheren Rezension ignoriert hatte. Er musste nun zugeben, dass dieses Protokoll sehr wohl die Expansionsabsichten der Sowjetunion in Richtung Westen belegt. Zugleich kritisiert er jedoch, dass ich dieses Dokument als Beleg für die offensive Ausrichtung der sowjetischen Außenpolitik seit 1919 interpretieren würde.

In dem Protokoll ist nämlich die Rede von der Losung Lenins, in der er offensive Kriege gegen kapitalistische Staaten ausdrücklich befürwortete, falls die „proletarische Revolution“ zunächst nur in einem Land siegen sollte. Ganzenmüller hält diese Losung für einen Anachronismus, denn sie stammt aus dem Jahre 1915, und meint, sie könne unter keinen Umständen als „außenpolitisches Programm der frühen Sowjetunion“ gelesen werden, was ich ja getan habe. Er schreibt in diesem Zusammenhang: „Er (Musial) verzichtet dabei auf eine Kontextualisierung des jeweiligen Dokumentes als auch auf jegliche Quellenkritik. Und er unterschlägt alles, was sich nicht in sein einfaches Interpretationsschema pressen lassen [sic].“

Wenn Ganzenmüller mein Buch aufmerksam gelesen hätte, hätte er allerdings auch folgende Sätze auf Seite 186 gefunden: „Die Losung Lenins, dass es möglich sei, den Sozialismus in einem Land aufzubauen, um dann anschließend notfalls mit Waffengewalt gegen die kapitalistischen Staaten vorzugehen, um die Revolution zu verbreiten, wurde ‚zum grundlegenden Artikel‘, zur politischen und ideologischen Leitlinie der bolschewistischen Machthaber nach 1925.“

Stalin persönlich war es, der am 3. November 1926 diese Losung in einer Rede als „grundlegenden Artikel“ bezeichnet hatte (S. 513, FN 17). Und auf Seiten 185 bis 189 beschreibe ich detailliert, wie diese Losung zur politischen und ideologischen Leitlinie von Stalin und seinen Komplizen wurde. Ganzenmüller blendet meine Ausführungen und die von mir angeführten Quellen hierzu aus und erhebt schwere Vorwürfe, ich hätte die allgemeinen Regeln der Quellenkritik missachtet. Seriös ist das wohl kaum.

Es ist für jeden Autor äußerst ärgerlich, mit solch haltlosen Vorwürfen konfrontiert zu werden, zumal sich Ganzenmüller offenkundig nicht einmal die Mühe gemacht hatte, das Buch durchzulesen. Auf die ideologisch-moralisierenden Ausführungen Ganzenmüllers, dass man nicht sowjetische Konzentrationslager als „KZ“ und die sowjetische Kriegsdoktrin als „Vernichtungskrieg“ bezeichnen dürfe, möchte ich nicht mehr eingehen. Ganzenmüllers Ausführungen hierzu sind Ausdruck des politisch korrekten Dogmatismus, den er offenkundig vertritt und für den er auch die Grundsätze festlegen möchte. Solche Debatten interessieren mich nicht.

Nebenbei bemerkt verwendet man in den Medien auch nicht selten den Begriff „polnische KZs“, wobei man die deutschen Konzentrationslager im deutsch besetzten Polen meint oder auch kommunistische KZs, die nach der sowjetischen „Befreiung“ Polens durch polnisch-sowjetische Kommunisten errichtet wurden. Dies ist Ganzenmüller offenkundig noch nicht aufgefallen.

Es bleibt zu hoffen, dass Ganzenmüller mein Buch noch einmal, dieses Mal gründlicher, durchliest und sachliche Kritik formuliert. Darauf würde ich mich sehr freuen.

Anmerkungen:
1 Lenart Samuelson, Krasnyj Koloss. Stanovlenie voenno-promyšlennogo kompleksa SSSR 1921-1941, Moskva 2001.
2 Oleg Ken, Mobilizacionnoe planirovanie i politiceskie rešenija. Konec 1920 – seredina 1930-x, Sankt-Petersburg 2002; Earl F. Ziemke, The Red Army 1918-1941: From Vanguard of World Revolution to US Ally, London 2004.


Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension