H. Hahn (Hrsg.): Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte

Cover
Titel
Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte. Eine völkische Bewegung in drei Staaten


Herausgeber
Hahn, Hans Henning
Reihe
Die Deutschen und das östliche Europa – Studien und Quellen 1
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karel Hruza, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Das Buch eröffnet die von Eva und Hans Henning Hahn betreute Reihe „Die Deutschen und das östliche Europa“. 1 Augenscheinlich positioniert sich die Reihe außerhalb der Publikationsreihen der sich demselben Themenfeld widmenden wissenschaftlichen Institutionen wie etwa dem Collegium Carolinum in München oder dem Herder-Institut in Marburg. Wie notwendig neue Publikationsreihen beim herrschenden Überangebot an Fachliteratur sind, werden das Publikum und der Verkauf (mit-)entscheiden. Die Entstehungsgeschichte der Reihe beleuchtet der Herausgeber in seiner Einleitung (S. 7–13): 2003 wurde in der Abteilung „Osteuropäische Geschichte“ des Instituts für Geschichte an der Universität Oldenburg ein Projekt zur „Sudetendeutschen Geschichte“ gegründet. „Es hat zum Ziel, Grundlagen zur Erforschung der hundertjährigen Geschichte der sudetendeutschen völkischen Bewegung zu erarbeiten, diesbezügliche Quellen zu sammeln, entsprechende Forschungen anzuregen und zu koordinieren sowie Tagungen zu sudetistischen Themen zu veranstalten. […] Der Titel der dazu gegründeten Buchreihe ‚Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen’ […] bleibt mit Absicht nicht nur auf den Bereich der sudetendeutschen Geschichte beschränkt, sondern umfaßt die Beziehungen zwischen den Deutschen und allen Teilen des östlichen Europas, Beziehungen, die von einer ähnlichen Problematik geprägt oder beeinflußt sind wie die sudetendeutsche Geschichte.“ (S. 8f.) Zu dieser an sich zu begrüßenden Konzeption muss bemerkt werden, dass es eine „sudetendeutsche Geschichte“ grundsätzlich nicht gibt! Oder anders: „Geschichte der Sudetendeutschen“ ja, „sudetendeutsche Geschichte“ nein. Damit erscheint auch der Titel des angezeigten Buches „Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte“ problematisch. 2 Daran ändert auch der Versuch der Reihenherausgeber nichts, „sudetendeutsche Geschichte“ als Geschichte der sudetendeutschen völkischen Bewegung in der Forschungslandschaft platzieren zu wollen, denn der Begriff „sudetendeutsch“ ist bereits so fest besetzt, dass seine Einengung auf „sudetendeutsch völkisch“ wohl nicht gelingen kann.

Das Buch präsentiert 13 erweiterte Beiträge einer internationalen Tagung von 2005, die vom 100. Jahrestag der ins Jahr 1903 zurückreichenden erstmaligen öffentlichen Verwendung des Begriffs „sudetendeutsch“ durch den nachmaligen Nationalsozialisten Franz Jesser veranlasst wurde. „Die Geschichte des Begriffs ‚sudetendeutsch’ ist von Anfang an mit der Entwicklung völkischer Formen der deutschen kollektiven Identität enger verbunden als mit den deutsch-tschechischen Beziehungen. Dem Begriff verhalf die alldeutsche völkische Bewegung zu Popularität […]. Die ‚Sudetendeutschen’ wollten sich daher nicht als deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei verstehen, sondern als eine deutsche ‚Volksgruppe’ bzw. ein deutscher Volksstamm.“ (S. 8) „Mit dem Begriff ‚die Sudetendeutschen’ haben wir es mit einem politischen Kampfbegriff zu tun und keiner ethnischen Bezeichnung […]. Sie wurde von völkischen Politikern als ‚Volksgruppe’ erfunden, dementsprechend musste auch der Begriff ‚Sudetenland’ als das ‚Heimatland der sudetendeutschen Volksgruppe’ konstruiert werden.“ (S. 10) Diese Aussagen dienten als thematische Folie der Tagung, deren Ziel unter anderem in einer „begrifflichen Präzisierung“ und einer „adäquaten Kontextualisierung“ der „von vielen Mißverständnissen“ begleiteten Verwendung des Begriffs „sudetendeutsch“ als Selbst- wie als Fremdbezeichnung bestand. Schließlich soll das Buch ein Konzept vorstellen, „das intern die Organisatoren und Autoren gerne mit dem Begriff ‚Sudetistik’ bezeichnen.“ „Alle Beiträge werben aber für einen spezifischen Ansatz, der die Paradigmen von ‚Volkstumskampf’ und ‚Nationalitätenkonflikt’ verlässt und für eine analytischere und historisch adäquatere Herangehensweise wirbt.“ (S. 13) Das mag leichter zu postulieren als zu verwirklichen sein, denn die Beiträge scheinen in ihrer Methodik weder „analytischer“ noch „historisch adäquater“ erarbeitet als der herrschende Forschungsstand. Leider wurde für das Buch kein Namenregister erstellt, zudem stören etliche Tippfehler und auch mancher Grammatikfehler den Lesefluss. Auch der Anmerkungsapparat wurde nicht stringent vereinheitlicht.

Die Beiträge vertiefen bekannte Themen, bieten aber auch viel neues und interessantes Material und decken zuvorderst biografiegeschichtliche, politikgeschichtliche und geistes- und ideengeschichtliche Felder ab, die sich natürlich auch überlagern. Auch wenn einzelne Beiträge von erheblichem Wert für die Forschung sind, so fällt doch auf, dass es etwas an der Kohärenz des Bandes mangelt, was allein die Titel aufzeigen. Biografiegeschichtlich ausgerichtet sind: Kurt Nelhiebel, Die Vertreibung aus der Tschechoslowakei. Politische Erinnerungen und Reflexionen (S. 15–32); Jiří Kořalka, Georg Ritter von Schönerer und die alldeutsche Bewegung in den böhmischen Ländern (S. 61–90); Eva Hahn, Über Rudolf Jung und vergessene sudetendeutsche Vorläufer und Mitstreiter Hitlers (S. 91–143); Christian Jacques, Über die Erfindung des Sudetendeutschtums: Johannes Stauda – ein sudetendeutscher Verleger (S. 193–205); Ingo Haar, „Sudetendeutsche“ Sprachinselforschung zwischen Volksgruppen-Bildung und Münchener Abkommen: Eduard Winter, Eugen Lemberg und die Nationalisierung und Radikalisierung des deutsch-katholischen Wissenschaftsmilieus in Prag (1918–1938) (S. 207–242). Beim letzten Beitrag führt die unterlassene Rezeption tschechischer Literatur allerdings zu einem etwas verzerrten Bild Eduard Winters. 3 Geistes- und ideengeschichtlich ausgerichtet sind die beiden Texte: Hans Henning Hahn, Die Anfänge des völkischen Diskurses in der Paulskirche 1848 (S. 39–59); Tomáš Kasper, Der völkische Diskurs im Deutschen Turnverband in der Tschechoslowakei (S. 173–192). Politikgeschichtlich ausgerichtet sind schließlich: Ronald Smelser, Die SHF/SdP – 1933–1938 (S. 145–156); Manfred Alexander, Das Bild sudetendeutscher Politik in den deutschen Gesandtschaftsberichten, 1918–1933 (S. 157–172); Werner Röhr, Der „Fall Grün“ und das Sudetendeutsche Freikorps“ (S. 243–258); Martin D. Brown, A Munich Winter or a Prague Spring? The evolution of British policy towards the Sudeten Germans, from October 1938 to September 1939 (S. 259–275); Tobias Weger, Die „Volksgruppe im Exil“? Sudetendeutsche Politik nach 1945 (S. 277–301) (korrespondiert mit der in Anm. 1 genannten Arbeit); Samuel Salzborn, Ein Jahrhundert sudetendeutsche völkische Bewegung. Politikwissenschaftliche Dimensionen eines (zeit-)geschichtlichen Forschungsgegenstandes (S. 303–322). Eingeschoben wurde – ohne Autorenangabe – ein Beitrag „Historische Bildzitate“ aus acht kurz kommentierten Abbildungen (S. 33–38), die unter anderem Selbstreflexion und Ansprüche der „Sudetendeutschen“ dokumentieren sollen.

Die Ergebnisse des Buches negieren gemäß der oben zitierten Konzeption als wohl angestrebtes Hauptziel die – auch von sudetendeutscher Seite nach 1945 vertretene 4 – Annahme, dass wenn die tschechoslowakische Regierung rechtzeitig den Forderungen der „Sudetendeutschen“ entgegen gekommen wäre, diese sich nicht so geschlossen der auf die Linie der NSDAP getrimmten SdP zugetan hätten. Dem stand nämlich die völkische Eigendynamik der „sudetendeutschen“ Forderungen und Politik entgegen, die quasi motu proprio zur von Sudetendeutschen letztlich miterschaffenen NSDAP drängten. Stellenweise wird bei der Lektüre deutlich, dass hinter der Konzeption sowohl der Reihe als auch des Tagungsbandes der aufklärerische Impetus steht, über die „Sudetendeutschen“ und ihre Geschichte endlich die vertuschte „Wahrheit“ sagen zu wollen, was zudem an wenigen Stellen von mancher unnötigen Polemik (etwa S. 142f.), unpassender Terminologie (etwa S. 98: „eigenartig tierzüchterischer Antisemitismus“) und manchem nicht ganz einsichtigen Urteil (etwa wie erwähnt über Eduard Winter) begleitet wird. Sieht man von den angeführten Bedenken ab, so bietet das Buch überzeugende Studien zur völkischen Bewegung, die nicht nur für die Fachleute der tschechischen Geschichte von Interesse sein sollten.

Anmerkungen:
1 Als zweiter Reihenband erschien 2008: Tobias Weger, „Volkstumskampf“ ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen zwischen 1945–1955.
2 „Sudetendeutsche Geschichte“ ist mehrmals im Buch anzutreffen, so etwa S. 12 in nicht schlüssiger Zusammenstellung: „[…] bildet die sudetendeutsche Geschichte in erster Linie einen Bestandteil der deutschen Geschichte. Räumlich gehört die sudetendeutsche Geschichte zur Geschichte dreier benachbarter Staaten: Österreich, Tschechoslowakei und Deutschland […]. Die sudetendeutsche Geschichte stellt den fehlgeschlagenen völkischen Versuch einer Nationsbildung dar […].
3 So wäre etwa zu Eduard Winter einzusehen gewesen: Jiří Němec, Cesta Eduarda Wintra (1896–1982) mezi oficiální historiky Třetí říše [Der Weg Eduard Winters (1896–1982) unter die offiziellen Historiker des Dritten Reiches], in: Sborník prací filozofické fakulty brněnské univerzity C 48 (2001) 171–188; Ders., Potíže s životopisem. K „případu“ historika E. Wintra [Schwierigkeiten mit einer Biografie. Zum „Fall“ des Historikers Eduard Winter], in: Tomáš Borovský u. a. (Hrsg.), Ad vitam et honorem. Profesoru Jaroslavu Mezníkovi přátelé a žáci k pětasedmdesátým narozeninám, Brno 2003, S. 199–208; Ders., Raný humanismus v díle E. Wintra [Der Frühhumanismus im Werk E. Winters], in: Pavel Soukup u. a. (Hrsg.) Německá medievistika v českých zemích do roku 1945, Praha 2004, S. 363–380.
4 Siehe etwa Friedrich Prinz in: Friedrich Prinz (Hrsg.), Deutsche Geschichte im Osten Europas. Böhmen und Mähren, Sonderausgabe Berlin 2002, S. 19.