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Titel
Panaitios' und Ciceros Pflichtenlehre. Vom philosophischen Traktat zum politischen Lehrbuch


Autor(en)
Lefèvre, Eckard
Reihe
Historia-Einzelschriften 150
Erschienen
Stuttgart 2001: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
226 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Schubert, Alte Geschichte, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Gegen Ende seines Lebens, im Jahr 44 v. Chr., schrieb Cicero den Traktat De officiis. Er ist seinem in Athen studierenden Sohn Marcus gewidmet und spricht in grundsätzlicher Form auch die jungen Römer der herrschenden Schicht an. Die darin formulierten Grundsätze sollen dem künftigen politischen Nachwuchs Richtlinien an die Hand geben. Cicero selbst gibt an, sich dabei an dem griechischen Philosophen Panaitios, dem Begründer der mittleren Stoa im 2. Jh. v. Chr., und dessen Werk "Über das Schickliche/ Gebührende" orientiert zu haben. Panaitios habe allerdings nur zwei der von Cicero in Betracht gezogenen Aspekte, nämlich das Sittliche und das Nützliche, behandelt, nicht jedoch das Problem des Widerspruchs zwischen Sittlichkeit und Nutzen. Zwar hatte sich Cicero dahingehend auch bei anderen griechischen Philosophen umgesehen, war jedoch nicht fündig geworden. So habe er das betreffende Thema in seinem dritten Buch des Werkes nullis adminiculis, also ohne Hilfsmittel, d.h. ohne Vorbild und aus Eigenem geschrieben.

An diesem Punkt setzt die Arbeit von Lefèvre an. Trotz des imposanten Kommentars von A. Dyck zu Ciceros De officiis1 ist ein wesentlicher Punkt in der Diskussion immer noch umstritten: Die Frage der Originalität von Ciceros Leistung in seinen philosophischen Schriften. Die nicht nur bei Dyck, sondern praktisch als communis opinio zu erkennende Einschätzung ciceronischer Darlegungen als Nachbildung griechischer Philosophie auf mittelmäßigem Niveau spricht ihm insbesondere in De officiis - und hier vor allem im dritten Buch - die Originalität meist ab und betrachtet das Werk als Übertragung der verlorenen Schrift des Panaitios "Über das Schickliche/ Gebührende" ins Lateinische. Zwar ist das Bild nicht ganz so düster wie L. in seinem Vorwort schreibt (S. 7: "... sowenig pflegt man in Rechnung zu stellen, dass Cicero das dritte Buch von De officiis nicht nach einer Quelle schreibt."), denn immerhin die Eigenleistung Ciceros gerade im dritten Buch von De officiis ist durchaus gesehen worden,2 doch zeichnet L. in minutiöser Weise am Text Abschnitt für Abschnitt für das ganze Werk nach, wie sich das Verhältnis zwischen dem Stoiker Panaitios und Ciceros römischer, ganz auf die Politik ausgerichteter Fragestellung darstellt.

L. geht dabei die drei Bücher der Reihe nach Satz für Satz durch. Die zugrunde gelegte Gliederung folgt derjenigen Ciceros, von der L. aber annimmt, sie folge derjenigen des Panaitios. Für das erste (A.), dem honestum gewidmete Buch, und das zweite (B.), über das utile, werden jeweils ein Abschnitt zu Cicero (I.) und ein solcher zu Panaitios (II.) einander gegenübergestellt. A.I. / B.I. und A.II. / B.II. sind völlig parallel aufgebaut: Für Cicero werden in der schon beschriebenen Analyse Satz für Satz die Einleitung (unterteilt in Proömium, Grundlegung, Thematik und Gliederung) sowie im ersten Buch (A.) die vier virtutes (prudentia, iustitia, magnistudo animi, temperantia) und im zweiten Buch (B.) die vier Quellen der gloria (benivolentia/metus, fides, admiratio, beneficentia/liberalitas), gefolgt von einer comparatio erörtert. In den entsprechenden Panaitios-Kapiteln werden demgegenüber die vier Kardinaltugenden (phronesis, dikaiosyne, andreia, sophrosyne) als analytische Kriterien verwendet, um zusammenfassend herauszustellen, dass Cicero im ersten Buch vor allem Panaitios 'eingeschmolzen' (S. 82) hat und im zweiten Buch immer stärker von ihm abweicht.

Die zentrale Stellung für das Anliegen L.s nimmt die Analyse des dritten Buches (C.) ein, in dem Cicero den Konflikt zwischen honestum und utile diskutiert, ein Vorhaben, das, wie Cicero betont, Panaitios für die Gegenüberstellung von kalon und sympheron wohl plante, aber nicht ausgeführt hat (praetermissum: "übriggelassen hat"). Für Cicero ging es dabei um Probleme des römischen Rechts und der römischen Politik, an denen, wie L. zu Recht hervorhebt (S. 188), Panaitios wohl "kaum sonderlich interessiert" gewesen war. Auch hier verwendet L. die gleiche Gliederung wie in A. und B. Er konzentriert sich auf das 'praktische Programm' des Politikers Cicero (S. 139), wie es sich z.B. in der Bewertung von Caesars Ermordung niederschlägt: Die Ermordung eines Tyrannen ist grundsätzlich nützlich. Bei diesem utile muß dann gefragt werden, ob es honestum oder turpe sei. Obwohl die Ermordung als solche ein Verbrechen und damit turpe sei, kommt es in der letztlichen Bewertung doch auf die Situation bzw. die Umstände der Tat an. So heißt es bei Cicero III 18b: honestas utilitatem secuta est (die Ehrenhaftigkeit ist dem Nutzen gefolgt) und gerade dieser Tyrannenmord hat - zu Recht - durch das römische Volk die höchste Anerkennung erhalten (S. 142).

Um solche - scheinbaren - Konflikte zwischen dem Sittlichen und dem Nützlichen aufzulösen, konstituiert Cicero eine formula als entsprechende Handlungsrichtlinie. Hier kann L. ganz deutlich im Unterschied zur bisherigen Diskussion (M. Pohlenz, H. Strasburger, A. Dyck) zeigen, dass die juristische und politische Basis der formula aus römischem Recht und römischer Politik stammt. Cicero stellt dazu als Norm das Prinzip des neminem laede auf (vgl. III 21), das sowohl durch die Natur (natura, id est iure gentium) als auch durch die positiven Rechtsordnungen begründet sei und in dem dann honestum und utile zusammenfallen. Ob allerdings hier - wie bei L. erfolgt - ohne weiteres der Schluß erlaubt ist, dass sich in dieser formula das Prätorialrecht niedergeschlagen habe und dies mit dem Bezug auf den Prätor C. Aquilius zu belegen sei (S. 147f.), und ob in dem iustitia-Kapitel (III 50-95) Ciceros "uneingeschränkte Sympathie" (S. 163) für die sich in der bona fides-Rechtsprechung ("moralistische Rechtsprechung", S. 163) niederschlagende Rechtsschule zum Ausdruck kommt, muß im Hinblick auf die rechtshistorische Diskussion der Thematik in Frage gestellt werden.3 Trotzdem ist der Bewertung L.s uneingeschränkt zuzustimmen: "Als eine große Leistung ist der Kern des dritten Buches anzusehen, in dem es Cicero unternimmt, in theoretischer Begründung (3,18b-32 und 68-72) und empirischer Praxis (3,50-67 und 73-95) den Stolz des römischen Rechts, die aequitas, deren Wirkungsbereich im einzelnen gleichwohl noch umstritten ist, im Naturrecht zu verankern" (S. 198f.).

Im letzten Teil (D.) zeigt L. die Konsequenzen seiner Analysen sowohl für Panaitios als für Cicero auf. Das Werk des Panaitios war ein philosophischer Traktat, der in einem "Handbuch der Ethik" sowohl den bios theoretikos als auch den bios praktikos behandelte und der keineswegs ausschließlich für ein römisches Publikum gedacht war. Cicero hat offenbar dessen ausgewogene Darstellung der vier Tugenden in eine "Angewandte Politologie" (S. 194) umgearbeitet, dabei gerade die phronesis-Konzeption des Panaitios völlig auf die Beurteilung juristischer Probleme reduziert und das Verhältnis des kalon zum sympheron auf eine römische Handlungsrichtlinie nach dem Prinzip des utile (S. 195), um so die spezifisch römische Handlungsethik in Politik und Recht darzulegen. Aus dem philosophischen Handbuch macht Cicero ein Lehrbuch, das die Vorlage nach dem Muster römischer Gerichtsreden völlig umgestaltet und dem er mit dem Namen des griechischen Philosophen zwar Autorität verleihen kann, das jedoch vor allem ein Handbuch für römische Politiker sein soll.

Insgesamt liest sich das Buch L.s zwar streckenweise wie ein Kommentar, doch handelt es sich um einen, auf sorgfältigste Textanalyse gestützten Nachweis, dass De officiis ein wesentlicher Beitrag zu der politischen Ethik Roms gewesen ist.

Anmerkungen

1 Dyck, A. R.: A Commentary on Cicero, De officiis, Ann Arbor 1996.
2 Z.B. Fuhrmann, M.: Cicero und die römische Republik, München/Zürich 1989, 260.
3 Vgl. dazu Behrends, O.: Tiberius Gracchus und die Juristen seiner Zeit - die römische Jurisprudenz gegenüber der Staatskrise des Jahres 133 v.Chr., in: Luig, K./ Liebs, D. (Hrsg), Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition, Ebelsbach 1980, S. 25-121, bes.41ff.; ders.: Die Wissenschaftslehre im Zivilrecht des Q. Mucius Scaevola pontifex, Nachrichten der Akademie der Wissenschaften Göttingen, Phil.-hist. Klasse 1976, Nr. 7.

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