Cover
Titel
Popular Religion in Russia. „Double Belief“ and the Making of an Academic Myth


Autor(en)
Rock, Stella
Reihe
Routledge Studies in the History of Russia and Eastern Europe
Erschienen
London 2007: Routledge
Anzahl Seiten
234 S.
Preis
€ 95,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Kraus, Abteilung für osteuropäische Geschichte, Universität zu Köln

Obgleich nun schon seit knapp eineinhalb Jahrzehnten von verschiedenen Seiten als wenig griffig gebrandmarkt, hält sich der Begriff des Doppelglaubens (‚dwojewerie’) – der Verquickung traditioneller, heidnischer Glaubensvorstellungen mit den Praktiken der orthodoxen Religion – hartnäckig innerhalb der Historiographie zur russischen Geschichte. Die Erklärungen der Fürsprecher wie Widersacher sind Legion, die Ansichten über den eigentlichen In- und Aussagegehalt des terminus technicus nicht minder. Erst kürzlich hat Leonid Heretz die Vermutung geäußert, dass das typische vorschnelle Zuschreiben der Existenz religiöser Mischformen und halb-heidnischer Bräuche im Alltag der russischen Bauernschaft wohl auch auf eine mangelnde Kenntnis oder Vertrautheit mancher westlicher Forscher mit der eigenen Volkskultur zurückzuführen sei: "[H]ätten sie nur eine Idee davon, was außerhalb ihres bürgerlichen Milieus – aus dem die meisten Akademiker hervorgehen – vor sich geht, würden sie die russische Bauernschaft für nicht halb so einzigartig oder exotisch halten, wie sie es gegenwärtig tun. Und sie würden diese wohl nicht so eilfertig in den entlegendsten Gefilden der Fremdartigkeit verorten, wie es mittels des heidnischen/Doppelglauben- Modells geschieht.”1

Dass sich die Vorstellung des ‚dwojewerie’ als eine vermeintlich charakteristische Gegebenheit der russisch-orthodoxen Kirche im Laufe des 19. Jahrhunderts wie ein Virus in den Forschungsdiskurs eingenistet hat, ist, wie Stella Rock in ihrer beeindruckenden Dissertation zu zeigen vermag, jedoch keineswegs alleine auf einen Mangel an Kurzsichtigkeit westlicher Historiker zurückzuführen. Ursprung, Bedeutungen und wissenschaftliche Karriere des Begriffs, den sie treffend als einen akademischen Mythos beschreibt, seien deutlich komplizierter gestrickt und keineswegs einfach zu entwirren. Betrachtet man die vielfältigen Anwendungsbereiche von ‚dwojewerie’ – von der Volkskultur zum Glauben des einfachen Volkes bis hin zur Identität der russischen Bauernschaft und der Kulturgeschichte Russlands – kann die enorme Bandbreite der Bedeutungszuschreibungen nicht verwundern. Nicht umsonst ist das präzise Definieren dieses Begriffs für Rock ein erstes zentrales Anliegen innerhalb ihres zwischen Begriffs-, Diskurs- und Forschungsgeschichte angesiedelten Werks.

Dazu analysiert sie zunächst die zwischen dem 11. und 17. Jahrhundert entstandenen und gemeinhin als Schlüsseltexte für den Ursprung des Doppelglaubenskonzepts geltenden Predigten, auf die auch die moderne Geschichtsschreibung stets rekurriert, wenn sie die Erfindung des Begriffs ‚dwojewerie’ auf russische Kleriker zurückführt. Erwartungsgemäß konterkarieren Rocks Analysen jedoch die gängige Lesart, die darin eine Brandmarkung der heidnischen Praktiken lediglich oberflächlich christianisierter Bauern erkennen wollen: So seien die Predigten alles andere als unmittelbare Augenzeugenberichte eines praktizierten zeitgenössischen russischen Heidentums. Vielmehr findet sich der Begriff ‚dwojewerie’ in diesen Predigten, wenn diese sich in Verweisen, Zitaten und Referenzen auf biblische Texte und Chroniken der Zeit beziehen. Die Passagen repräsentieren dementsprechend ein eher „literarisches Heidentum“ denn ein tatsächlich praktiziertes. Folglich sei fraglich, ob der Begriff überhaupt auf zeitgenössische Glaubenspraktiken und Rituale anspiele. Da er darüber hinaus weder konzentriert noch eindeutig Verwendung finde, sei seine Deutung als Kampfbegriff gegen überdauerte heidnische Praktiken mehr als zweifelhaft.

Die sich hier andeutende Kluft zwischen mittelalterlicher Bedeutungsvielfalt und moderner konzeptueller Engführung wird im zweiten Kapitel noch offensichtlicher. Die Diversität der Kontexte resultiert nach Rock nicht selten auch aus offensichtlichen Missverständnissen der mittelalterlichen Übersetzer – zahlreiche der elementaren Texte blieben ohne den Rekurs auf das griechische Original schlichtweg unverständlich. Dazu komme der dem Altkirchenslavischen eigene “lack of a fixed terminology”.2 Eigenschöpfungen in den unterschiedlichsten Kontexten ergänzten die Übersetzungsabweichungen und -fehler, so dass Rock wenigstens drei Bedeutungsgruppen für die Verwendung des Begriffs ‚dwojewerie’ und dessen Ableitungen ausmacht. Eine erste umkreise dabei die Sinnebene der Kontroverse, des Disputs und des Abweichens; die zweite die Deutungsebene um die Begriffe Zweifel, Ungewissheit und Zögern; die dritte wiederum Mehrdeutigkeit und Heuchelei. Für alle Ebenen gelte jedoch, dass sie mitnichten im Kontext praktizierter heidnischer Bräuche angesiedelt seien: “All diese Texte thematisieren bis zu einem gewissen Grad die Unfähigkeit entschieden und eindeutig orthodox zu bleiben. Gläubige, die ganz oder in Teilen die Gültigkeit anderer Konfessionen oder Doktrinen [römisch-katholisch oder lutherisch etc., A.K.] akzeptieren, und solche, die einzelne Aspekte des einen wahren Glaubens anzweifeln, machen sich dieses ‚Doppelglaubens’ schuldig.” (S. 85)

Je offensichtlicher jedoch die Fehlinterpretationen und Missdeutungen des Begriffs und seiner lexikalischen Ableitungen sind, je augenfälliger seine vielfältigen Bedeutungsebenen schlichtweg ignoriert wurden, desto dringlicher stellt sich die Frage nach dem Ursprung seiner Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte im 19. Jahrhundert. Diese führten ihn bis hinein in die Anthologien russischer Kultur, historische Enzyklopädien und wissenschaftliche Handbücher. Wenngleich ‚dwojewerie’ als Konzept erstmals im Jahre 1861 Verwendung fand, erkennt die Autorin in den ebenso romantisch wie nationalistisch geprägten Volkskundlern des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts dessen Vordenker. Diese hatten die Grundlagen für den Doppelglaube-Mythos gelegt, indem sie die Oberflächlichkeit der Christianisierung und die gleichzeitige Kontinuität heidnischer Rituale im Volk postulierten. Der Begriff des ‚dwojewerie’ griff die Idee einer im ländlichen Volk überdauernden, reinen und unveränderten kulturellen wie religiöser Tradition auf (S. 88). Allerdings erfuhr die moderne Konzeption des Doppelglaubens – das simultane Ausüben heidnischer wie christlich-orthodoxer Praktiken – in ihrer Auslegung durch die Forschung eine Vielzahl an Bedeutungszuweisungen. Diese unterschiedlichen Konstruktionen und deren Funktionen arbeitet Stella Rock schließlich im dritten Kapitel en detail heraus. So griff beispielsweise die sowjetische Forschung das Konzept geradezu “enthusiastisch” auf, da die darin implizierte eigenständige religiöse Praxis des Volkes als aktiver Widerstand gegen die Kirche gedeutet werden konnte. Letztlich wurde der Doppelglaube so zum “Symptom des Klassenkampfes” hochstilisiert (S. 95).

Nachdem Rock auf diesem Wege Schritt für Schritt die Diskrepanz zwischen mittelalterlicher Bedeutung und moderner Funktion des Begriffs bzw. des Konzepts erarbeitet hat, wendet sie sich abschließend der Frage zu, inwiefern die russische Gesellschaft im Vergleich zu Westeuropa tatsächlich „besonders resistent“ (S. 118) gegenüber der Einführung des Christentums war. Eine These, die ihren Zündstoff zu einem Gutteil aus dem ‚dwojewerie’-Mythos bezog. Die Frage beantwortet die Autorin durchweg abschlägig – der begrifflichen und konzeptionellen Dekonstruktion folgt demnach die inhaltliche: “Selbst der kursorischste Vergleich gibt zu erkennen, dass sich die Beanstandungen der russischen Kleriker von denen ihrer westlichen Entsprechungen nur wenig unterschieden.” (S. 133) Hüben wie drüben waren Fragen der kirchlichen Disziplin oder seelsorgerische Belange sowohl in Quantität als auch in Qualität von deutlich größerer Relevanz als das mögliche Fortdauern heidnischer Bräuche. Angesichts der überkonfessionellen missionarischen Strategie des Implementierens und Anpassens derselben in den eigenen Ritus ist dies letztlich wenig verblüffend.

Stella Rock, inzwischen Senior Research Fellow an der University of Sussex, ist es in einem dicht geschriebenen und in jeder Hinsicht überzeugenden Buch gelungen, einen noch immer gewichtigen Mythos der russischen Geschichtsschreibung zu dekonstruieren; sie plädiert letztlich für seine Verbannung aus dem akademischen Diskurs, denn: „its use can only confuse“ (S. 160).

Anmerkungen:
1 Leonid Heretz, Russia on the Eve of Modernity. Popular Religion and Traditional Culture Under the Last Tsars, Cambridge 2008, S. 17.
2 Hier bezieht sich Stella Rock auf Francis J. Thomson, The Nature of the Reception of Christian Byzantine Culture in Russia in the Tenth to Thirteenth Centuries and its Implications for Russian Culture, in: Slavica Gandensia 5 (1978), S. 107-139, hier S. 115.

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