E. Schumann (Hrsg.): Rechtswissenschaft und Justiz im "Dritten Reich"

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Titel
Kontinuitäten und Zäsuren. Rechtswissenschaft und Justiz im "Dritten Reich" und in der Nachkriegszeit


Herausgeber
Schumann, Eva
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Form, Internationales Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse, Philipps-Universität Marburg

Der Klappentext des ambitionierten Sammelbandes „Kontinuitäten und Zäsuren“ zitiert Konrad Adenauer – und skizziert damit den roten Faden der Publikation: „Man kann schmutziges Wasser nicht wegschütten, solange man kein sauberes hat.“ Allerdings verkennt das Sprichwort – und dies machen die 13 Einzelbeiträge in vielfältiger Weise deutlich –, dass man braunes Wasser auch filtern kann. Ob im Sediment dann so viel hängen bleibt, wie man maximal erwarten könnte, ist indes eine Frage des Wollens und des Willens.

Entstanden ist der Sammelband aus dem Kontext einer Ringvorlesung an der Universität Göttingen (2006/07). Im Mittelpunkt stehen Fragen nach dem Fortwirken der NS-Justiz in der Bundesrepublik, dem Umgang der bundesdeutschen Justiz mit der eigenen Vergangenheit sowie lokalen (Göttinger) Netzwerken und deren Einflussnahmen. Damit liegt der Fokus nicht nur auf der NS-Zeit, sondern es werden vielschichtige Rückblenden gemacht. Der Beitrag von Joachim Rückert expliziert diesen Ansatz auf einprägsame Art und Weise (S. 11ff.). Unter dem Titel „Die NS-Zeit und wir“ eröffnet Rückert die Diskussion um Alternativkonzepte der Widerstandsbewegung im Kreisauer Kreis. Hier wird ein innovativer Ansatz ausgebreitet, der von einem weit gefassten Widerstandsbegriff geprägt ist. Widerstand fing vor allem im Kopf an (S. 40).

Mehrere Autorinnen und Autoren befassen sich mit der Göttinger Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Ralf Frassek geht auf die wissenschaftliche Lebensgeschichte von Karl Larenz ein, dem Nestor des bundesdeutschen Privatrechts, dessen wissenschaftliche Kariere in Göttingen begann. Seine NS-Publikationen sind weniger bekannt als seine ab den 1950er-Jahren erschienenen Lehrbücher zum Schuldrecht. Aufstrebende Jungjuristen, wie Larenz und Karl August Eckhard, gestalteten die Lehre und Forschung an den juristischen Fakultäten, geprägt von der 1935 eingeführten NS-Studienordnung. Tiefer in die Situation der Göttinger Alma Mater geleitet uns der Aufsatz von Eva Schumann zur Geschichte der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Die Autorin stützt sich auf bisher nur wenig beachtete Unterlagen des Bundesarchivs in Berlin und eröffnet dem Leser ein vielschichtiges Bild über die Personalpolitik der Jahre 1933 bis 1955. Schumann konstatiert drei Zäsuren: 1935, 1945 und 1955. Die erste Zäsur brachte einen von beflissenen jungen Rechtserneuerern (S. 120) getragenen, NS-angepassten Ausbildungsstandard; die zweite war geprägt vom Wechsel des Lehrkörpers (einige nach 1933 aus Deutschland vertriebene Professoren zogen in die Göttinger Ordinariate ein). 1954/55 kam es allerdings, als dritte Zäsur, zu einer gewissen „Renazifizierung“ des Lehrkörpers, insbesondere aus dem Umkreis der Kieler Schule (S. 129f.). Biographisch enger ausgelegt sind die Beiträge von Werner Heun (zu Gerhard Leibholz) und Ewald Grothe (über Ernst Rudolf Huber).

Insgesamt vier Aufsätze befassen sich direkt mit der Justiz während der NS-Zeit und deren Kontinuitäten und Zäsuren sowie mit Ansätzen zur Aufarbeitung der Nazi-Justiz. Klaus-Detlev Godau-Schüttke skizziert die Entnazifizierung und den Wiederaufbau der Justiz am Beispiel des Bundesgerichtshofs. Dabei geht er vornehmlich auf drei Bundesrichter ein: Thomas Dehler, Hermann Weinkauff und Willi Geiger. Doch verweilt der Aufsatz nicht bei der Einzeldarstellung ihrer Biographien. Vielmehr schlüsselt er eindrücklich auf, was die Mitglieder des Rechtspflegeausschusses dem Parlamentarischen Rat 1949 vorschlugen, wie ein Richter in einem neuen demokratischen Gemeinwesen aussehen sollte: Neben selbstverständlichen fachlichen Kompetenzen müsse er eben auch politische Verantwortung zeigen und vor allem „Sensibilität […] für autoritäre und antidemokratische Strömungen und gesellschaftliches Wissen sowie Kenntnis von sozialen und sozial-psychologischen Strukturen in Deutschland“ haben (S. 212). Volker Friedrich Drecktrah spannt den Bogen zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Justiz in Niedersachsen (am Beispiel der Oberlandesgerichtsbezirke Braunschweig, Celle und Oldenburg). Näher geht der Autor auf das so genannte Huckepack-Verfahren ein. Allerdings wirkt der Beitrag nicht immer stringent, und einzelne Aspekte werden zu allgemein behandelt. So bleiben zum Beispiel die Auswirkungen der „131er“-Gesetzgebung wenig beleuchtet. Einen anderen Fokus wählt Bernd Weisbrod: Ihm geht es vorrangig um die Mechanismen und Konflikte bei der Aufarbeitung von NS-Unrecht durch Justiz und Medien. Als vierter Beitrag in diesem Cluster befasst sich Ingo Müller mit NS- und DDR-Justiz vor deutschen Gerichten. Im wohl aktuellsten Aufsatz des Sammelbandes gelingt es ihm, die Aufarbeitungsbemühungen vor und nach 1989/90 in einen Zusammenhang zu bringen. Müller resümiert, dass erst die neuesten Urteile des Bundesgerichtshofes und ein generelles politisches Umdenken in der Bewertung der NS-Jurisprudenz zu einer Ächtung der NS-Strafjustiz geführt hätten (S. 245) – wenn auch 40 Jahre zu spät. Parallel hierzu sollte man den Beitrag von Thomas Henne lesen, der den langwierigen Verfahrensgang (Landgericht – Oberster Gerichtshof für die Britische Zone – Bundesgerichtshof) gegen den Regisseur des Hetzfilmes „Jud Süß“, Veit Harlan, im Spiegel von sechs Göttinger Beiträgen zu diesem Komplex beleuchtet.

Weitere Aufsätze stammen von Peter Derleder („Die Entwicklung des Familienrechts und der Nationalsozialismus“), Joachim Perels („Zur Rechtslehre vor und nach 1945“) sowie von Helmut Kramer („Juristisches Denken als Legitimationsfassade zur Errichtung und Stabilisierung autoritärer Systeme“). Vor allem Kramer plädiert für eine historisch noch weiter gespannte Sichtweise: Zäsuren und Kontinuitäten lassen sich nicht erst ab 1933 festmachen. Die Traditionen des Kaiserreichs und die neu aufkeimenden Emanzipierungsbestrebungen der Weimarer Republik sollten ebenso einbezogen werden wie die rechtsdogmatischen Veränderungen der NS-Zeit und deren Nachwirkungen. Abgerundet wird die hervorragende Publikation mit einem Personen- und einem Sachregister. Nützlich wäre zudem ein zentrales Literaturverzeichnis gewesen.

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