Innere Führung in der Bundeswehr (1955-1970)

: Wehrmachtsoffiziere in der Bundeswehr. Das kriegsgediente Offizierkorps der Bundeswehr und die Innere Führung 1955-1970. Paderborn 2010 : Ferdinand Schöningh, ISBN 978-3-506-76750-9 387 S. € 44,90

: Der gewollte Soldat und sein Wandel. Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundeswehr 1956 bis 1964/65. München 2010 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-58815-6 VIII, 534 S. € 39,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Naumann, Hamburger Institut für Sozialforschung

Aus zweierlei Gründen ist es von mehr als akademischem Interesse, die beiden vorliegenden Studien von Frank Nägler und Frank Pauli über Genese, Einführung und Aneignung des Organisations- und Führungsprinzips der Bundeswehr, die „Innere Führung“, zu lesen. Einer zeitdiagnostisch ausgerichteten Geschichtsbetrachtung zeigt sich die hier behandelte Spanne von der Mitte der 1950er-Jahre bis in die späten 1960er-Jahre gleichsam als Gegendatum einer aktuellen Problematik. Die historische Begründung der Inneren Führung, der sich Nägler zuwendet, ist auch heute von großem Interesse, weil diese Leitideen nun erstmals dem Härtetest eines langwierigen Einsatzes unterworfen sind. Dahinter verbirgt sich eine weitere Aktualität, an die Pauli rührt, wenn er in seiner Untersuchung die damalige Reaktion des kriegsgedienten Offizierkorps auf die neue Lehre analysiert. War man seinerzeit mit dem Problem konfrontiert, ob und wie sich die Ideen der Inneren Führung mit den Erfahrungen des Krieges verbinden ließen, so reift in den Streitkräften dieser Tage das Problem (wenn nicht der Konflikt) heran, wie sich die Einsatzerfahrungen mit den oft bürokratisch überformten, pädagogisierten und verrechtlichten Verhaltenslehren vereinbaren lassen – was dringend der Anpassung und Weiterentwicklung bedarf.1

Beide Bücher markieren einen wichtigen Einschnitt in der militärgeschichtlichen Forschung über die Aufbauphase der Bundeswehr. Nägler leistet eine scharfsichtige Revision zählebiger Thesen, die in der Truppenüberlieferung wie in der Geschichtsschreibung gleichermaßen anzutreffen sind. Paulis großes Verdienst liegt darin, anhand des bisher weitgehend unausgewerteten Materials der Lehrgänge zur Inneren Führung ein sehr genaues und generationsspezifisch aufgeschlüsseltes Bild des kriegsgedienten Offizierkorps zu zeichnen.

Nägler räumt zum einen auf mit einer normativ geprägten Legendenbildung um den „wirklichen“ und „echten“ Kern der neuen Führungslehre. Anhand des umfassenden Materials aus dem Amt Blank, dem Ministerium und den Gesetzgebungsverfahren kann er verdeutlichen, dass die liberalen und konservativen Implikationen des neuen Soldatenmodells („Staatsbürger in Uniform“) dauerhaft miteinander in Konflikt lagen – und nicht zuletzt durch die personellen und materiellen Engpässe der Aufbauphase stark beeinflusst wurden. Es galt die Faustregel: Je kürzer die personelle wie materielle Decke, desto rigider die Modellierung des Soldatenbildes. Gleichwohl blieben die beiden konkurrierenden Vorstellungen nebeneinander bestehen, und man kann fragen, ob in diesem konfliktreichen Nebeneinander nicht eines der Geheimnisse für die – immer wieder beschworene – Aktualität der Inneren Führung liegt. Gleichsam im Vorübergehen kann Nägler damit die historiographische These relativieren, die 1950er-Jahre seien – militärpolitisch – eine Zeit der „Modernisierung unter konservativen Auspizien“ gewesen, denn die liberalen Implikationen des Reformkonzepts wiesen bereits über diesen Horizont hinaus.

Zum zweiten arbeitet Nägler deutlicher als die bisherige Geschichtsschreibung heraus, dass die „Kriegstüchtigkeit“ des Soldaten eine zentrale Ausgangsüberlegung aller Reformkonzepte gewesen war. Die Deutung der Blockkonfrontation als „Weltbürgerkrieg“, später noch gesteigert von der Extrembedrohung durch die Atomwaffe, verwies die Reformer auf die zentrale Bedeutung der politischen, das heißt staatsbürgerlichen Qualitäten des Soldaten. Die Pointe dieser Auffassung enthält Nägler dem Leser nicht vor: Je mehr Entspannung und Abschreckungsdenken („Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“) im Zuge der 1960er-Jahre in den Vordergrund traten, desto mehr zerfiel auch die ursprüngliche Klammer von Kampfbereitschaft und engagierter Staatsbürgerlichkeit. Übrig blieb eine verrechtlichende und um Sozialverträglichkeit bemühte Zähmung des Konzepts, in dessen Mittelpunkt nun das übergreifende Ziel gesellschaftlicher Integration des Soldaten rückte.

Faltet man diese beiden Stränge noch einmal zu einer Grundthese auf, so wird ein Befund der Studie deutlich, der über ihren Zeitrahmen weit hinausreicht bis in die Gegenwart. In der Frage der Militärverfassung (oder Militärkultur) hat man es offenbar mit einer Dauerspannung zu tun, die sich in immer neuen Polarisierungen manifestiert. Die Pole werden einerseits bezeichnet durch das Ansinnen, im Interesse der Kriegs- oder Einsatztauglichkeit den freiheitlichen Geist aus der Truppe und Führung zu verbannen und einem Gesellschaftsbild zu huldigen, das Integration nur auf der Basis konvergierender Pflicht- und Akzeptanzwerte denken kann. Auf dem Gegenpol findet sich die Tendenz, im Interesse freiheitlicher Pluralität die Problematik der soldatischen Kriegs- und Einsatztauglichkeit hintan zu stellen, weil man ihrer gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit zutiefst misstraut. Insofern hat es die Militärgeschichte, jedenfalls diejenige der Bundesrepublik, nicht mit „Rückfällen“ oder „Endzuständen“ zu tun, sondern mit wechselnden Konjunkturen militärkultureller Möglichkeiten.

Wie sehr solche Pendelausschläge mit dem Personal zusammenhängen und nicht allein mit Politik und Ressourcen, unterstreicht die Studie von Frank Pauli, die auf seiner Potsdamer Dissertation von 2005 beruht. Für die kriegsgedienten Offiziere, die nach 1955 in die Bundeswehr eintraten (Nägler hat die Zahl von 13.438 ausfindig gemacht), musste die neue Organisations- und Führungslehre als Provokation erscheinen, zumindest aber als eine Herausforderung. Denn hier wurde ein „politischer Offizier“ verlangt, also ein Ideal, das man entweder aus der Ära des „politischen Soldaten“ in der nazifizierten Wehrmacht in unguter Erinnerung hatte oder gerade deshalb beargwöhnte, weil man sich nach 1945 – zumindest rückblickend – ganz dem Professionsideal des Unpolitischen verschrieben hatte. Tatsächlich reagierten die verschiedenen Offiziersgenerationen sehr unterschiedlich auf diese Konstellation. Um solche Unterschiede sichtbar zu machen, entwickelt Pauli ein gut begründetes Generationenkonzept, das zwischen reichswehrgeprägten Offizieren, Vorkriegsoffizieren, Kriegsoffizieren und HJ-geprägten Volks- oder Tapferkeitsoffizieren unterscheidet – ein Ansatz, der auch dem Vermittlungsproblem von Institution und Generation neue Impulse verleiht.2 Dabei kommt seiner Untersuchung sehr zugute, dass er die Deutungsschranken zwischen den verschiedenen Generationsgruppen nicht zu hoch ansetzt. In einer grundlegenden Zweiteilung lässt sich nämlich erkennen, dass einerseits die ersten beiden Gruppen aufgrund ihrer traditionellen Rekrutierung und Erziehung enger zusammenrückten, während sich die beiden anderen Gruppen auf der Basis von Kriegteilnahme und -erfahrung eine gemeinsame Identitätsplattform zimmerten. Allen gemeinsam war, wie der damalige Major Karst 1957 in einem Bericht festhielt, die Ablehnung der Inneren Führung, denn diese bedeutete für sie „Zerstörung der Tradition, Entmachtung des Soldatentums, truppenfremde Theorie“.

Jenseits solcher Übereinstimmungen zeigten sich jedoch Unterschiede. Die besser gebildeten älteren Offiziergruppen waren zwar politisch distanziert, aber nicht dezidiert antidemokratisch. Sie misstrauten der „zivilen Kontrolle“ und den Politikern. Ihre oft nur widerstrebende Aneignung der neuen Lehre hatte mit dem Paradox zu kämpfen, dass sie die Aufforderung zu „innerer“ Führung nur als vorgegebenen Befehl zu verstehen vermochten. Mit den jüngeren Gruppen verband sie das Denken in Kategorien der „Volksgemeinschaft“ und des „Führerkorps“ – wie überhaupt das Bekenntnis zum „Volk“ durchgängig stärker war als die Orientierung auf den neuen Staat. Nur bei den älteren, reichswehrgeprägten Offizieren war eine „Staatsgesinnung“ ausgebildet, die gleichwohl an der „Unterstaatlichkeit“ der jungen Republik Anstoß nehmen konnte.3

Die Gruppen der erst im Krieg beförderten Offiziere trennten Welten von den Vorkriegs- und Reichswehroffizieren. Bei ihnen herrschten, wie die Berichterstatter immer wieder zu Protokoll gaben, Bildungsunwilligkeit, Impulsivität, der automatische Rückgriff auf die „bewährten“ Wehrmacht-Rezepte und ein ganz an den Maßstäben militärischer „Effektivität“ orientiertes Denken. Der 20. Juli 1944 war für diese Gruppen ein Anathema. In solche Vorbehalte mischten sich im Zuge der „Aufstellungskrise“ (Nägler) bald Überforderungs- und Erschöpfungsreaktionen. Ironisch sprach man von sich selbst als Angehörigen der „Zitronenjahrgänge“, die im Weltkrieg und in der Aufbauzeit „ausgequetscht“ und „verheizt“ worden seien. Auf dieser Basis gediehen „Vertrotzungsreaktionen“, die mit der Neuausrichtung der Streitkräfte, den wehrtechnologischen Innovationen, aber auch mit der sich wandelnden, nunmehr flexibilisierten Strategie nicht viel anzufangen wussten. Zur Gesinnungskrise kam es gegen Ende der 1960er-Jahre, als sich auch noch der gesellschaftliche Modernisierungstrend und Wertewandel als potenziell militär- und wehrfeindlich zu erweisen schienen.

Erst in dieser Konstellation fand eine bemerkenswerte Verbündung der ältesten und der jüngeren Offiziergenerationen statt, die ihren sichtbaren und politisch brisanten Ausdruck in der so genannten Schnez-Studie fand. Auf diesen Fluchtpunkt laufen beide Arbeiten hinaus. Die unter Federführung des damaligen Heeresinspekteurs Albert Schnez (Jahrgang 1911) verfasste und vom damaligen Brigadegeneral Heinz Karst (Jahrgang 1914) ausgearbeitete Studie vom Juni 1969 forderte im Interesse der „Kampfkraft des Heeres“ nicht weniger als „eine Reform an ‚Haupt und Gliedern’, an Bundeswehr und Gesellschaft, mit dem Ziel, die Übel an der Wurzel zu packen“. Die Studie fand großes Echo im Offizierkorps und wurde erst durch die Intervention des gerade ins Amt eintretenden Verteidigungsministers Helmut Schmidt und dessen kräftige Reformimpulse, die einer zweiten Gründungsanstrengung gleichkamen, aus dem Verkehr gezogen. Die Bundeswehr wie die politische Führung konnten von Glück reden, dass eine solche, mit der Stimmungslage eines „letzten Gefechts“ aufgeladene Zusammenballung von Fundamentalkritik am Führungs- und Organisationskonzept der Streitkräfte nicht schon viel früher eingetreten war. Hier, wenn überhaupt jemals, war eine Alternative formuliert worden, die das Balanceverhältnis der Leitmodelle des Reformprojekts tatsächlich hätte aushebeln können.

Anmerkungen:
1 Vgl. jetzt Elmar Wiesendahl, Athen oder Sparta – Bundeswehr quo vadis?, Bremen 2010.
2 Vgl. Klaus Naumann, Generale in der Demokratie. Generationengeschichtliche Studien zur Bundeswehrelite, Hamburg 2007.
3 Vgl. Michael Geyer, Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst. Die westdeutsche Opposition gegen Wiederbewaffnung und Kernwaffen, in: Klaus Naumann (Hrsg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 267-318.

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