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Titel
Die Germanen. Von Ariovist bis zu den Wikingern


Autor(en)
Bleckmann, Bruno
Erschienen
München 2009: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Kehne, Historisches Seminar, Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover

Eine ausführliche Gesamtdarstellung zu den Germanen wurde seit längerem gewünscht. Allerdings überrascht eine solche aus der Feder eines in der Erforschung der Geschichte des klassischen Griechenlands, der römischen Republik und besonders der Spätantike sehr verdienstvollen Althistorikers, der sich bezüglich der germanisch-römischen Beziehungen aber nicht auf nennenswerte eigene Untersuchungen stützen kann. Vermutlich begründet indes gerade diese Distanz zu den oft kleinlichen Forschungskontroversen den Erfolg dieser umfassenden und zugleich ausgewogenen Darstellung auf hohem wissenschaftlichem Niveau.

Nach einem knappen Vorwort und einer umfänglichen Einleitung (S. 11–47) in die komplizierten und komplexen Sachverhalte von „Germanen“ in Selbst- und Fremdwahrnehmung, Sprache, modernen Definitionen, konträren Germanenbegriffen, kulturellen und religiösen Gemeinsamkeiten, Ethnographie und Rassetheorien schildert Bruno Bleckmann leicht verständlich und weitgehend nach dem gegenwärtigen Forschungsstand deren Geschichte in sechs Kapiteln von den Anfängen bis zu den Wikingern. Ein so weit gefasster Ansatz aus der Sicht eines Althistorikers ist nicht selbstverständlich, aber schon deshalb begrüßenswert, weil er Epochen übergreifend auch das oft vernachlässigte Germanentum in England und Skandinavien berücksichtigt. Anders als im missverständlichen Untertitel ausgedrückt beginnt Bleckmann seinen zugleich Bereiche germanischer Sachkultur und Siedlungsweise umfassenden, insgesamt 268 Seiten langen Abriss nicht erst bei Ariovist, sondern mit dem ersten historischen Auftauchen von Germanen im 2. Jahrhundert v.Chr., also bei Bastarnern, Kimbern und Teutonen, wobei Bleckmann unter Einbeziehung von Forschungsergebnissen der Ethnographie und Archäologie auch ausführlich Unterschiede zwischen Galliern und Germanen erläutert. Das erste Kapitel „Von den Anfängen bis zu Ariovist“ (S. 48–88) schließt mit der machtpolitischen Konfrontation zwischen Römern und Germanen im Gallischen Krieg Caesars und den beiden ersten römischen Rheinübergängen 55 und 53 v.Chr., in denen es auch für Bleckmann nicht nur um eine Außensicherung des frisch unterworfenen Galliens, sondern in Konkurrenz zu Unternehmungen des Pompeius „auch darum ging, in spektakulärer Weise neue und exotische Weltgegenden zu betreten“ (S. 83).

Im zweiten Kapitel „Germanien und Germanen in der frühen römischen Kaiserzeit“ (S. 89–154) behandelt der erste Abschnitt „Völker, Stämme und Häuptlinge“ und somit die geographische Verteilung, die Herleitung einzelner Namen sowie die politische, soziale und ethnographische Lage zu Beginn des ersten Jahrhunderts, wie sie aus reichsrömischen Schriftquellen des Prinzipats ersichtlich wird. Hierbei folgt Bleckmann vor allem Tacitus’ Germania; er beschreibt unter anderem die Besonderheit des germanischen Gefolgschaftswesens und Adels, dessen „Rivalitäten historische Veränderungen in Gang setzten“, und benennt Indizien für soziale Schichtungen, die er zu archäologischen Befunden in Beziehung setzt. Das Bild der Schriftquellen für „die über der aristokratischen Spitzengruppe liegende organisatorische und gesellschaftliche Ebene“ bewertet Bleckmann zu Recht als „äußerst unscharf“ (S. 98) und relativiert Tacitus’ vielbehandelte Differenzierung von Volkskönigtum und Heerführertum (S. 98–100). In seinen Aussagen zu diesen meist kontrovers diskutierten Dingen verfährt Bleckmann allenthalben wohltuend zurückhaltend, vermeidet apodiktische Behauptungen und bedient sich vornehmlich der Wiedergabe von Meinungen.

Abschnitt 2 befasst sich mit der römischen Germanienpolitik „von Agrippa bis zu Varus“ von 38 v. bis 9 n.Chr., also mit „Germanien auf dem Weg zu einer römischen Provinz“ (S. 101–114). Bleckmann stellt hier korrekt das von Dieter Timpe analysierte „defensive Konzept Agrippas“ zur Sicherung der Rheingrenze und das Abgehen von dieser Konzeption in Folge der Augustus’ Siegesideologie konterkarierenden Lollius-Niederlage vor. Die Schilderung der Drusus-Feldzüge der Jahre 12–9 v.Chr. und der nachfolgenden Aktionen unter dem Kommando von Tiberius bis zum Jahr 7 v.Chr. ist – im Gegensatz zu der defizitären von Ulrike Riemer 1 in ihrem ohnehin durchgängig fehlerhaften Buch – unter nützlichen Rekursen auf die Quellenlage sehr zuverlässig. Ob Augustus’ Pomeriumserweiterung sich – wie vielfach angenommen, aber nie bewiesen – auf Germanien bezog (S. 107), bleibt jedoch zweifelhaft. Im Zuge der nachrichtenarmen Zwischenzeit bis zu Tiberius’ Rückkehr an die Germanienfront 4 n.Chr. behandelt Bleckmann die für damalige Verhältnisse außergewöhnliche Machtbildung des Markomannen Marbod in Böhmen, spekuliert über dessen Geiselschaft in Rom (S. 108; auf S. 117 sogar über eine wohl ebenso unhistorische „römische Ausbildung“) und folgt allzu unkritisch und quellengläubig Velleius Paterculus’ Ausführungen und diesbezüglich veralteter Literatur.2 Nach Tiberius’ Feldzügen im Nordwesten 4–5 n.Chr., die eine erneute generelle Unterwerfung Germaniens brachten, setzte dort eine intensivere administrative und zivilisatorische Durchdringung ein. Diese versteht Bleckmann als Provinzialisierungsprozess, in den die partiell urbane Anlage in Lahnau-Waldgirmes ebenso wie der Komplex Haltern gehört, wenngleich man dort noch nicht an eine „zivile Vorstadt“ und „städtische Infrastruktur“ denken sollte (S. 110–112). Wenn Bleckmann der Meinung ist, „um die Zeitenwende war der germanische Raum offenbar dichter bevölkert als in der Völkerwanderungszeit und muss prinzipiell als genauso beherrschbar erschienen sein wie das nur graduell kultiviertere Gallien in seinen nördlichen Teilen“ (S. 113), so bleibt ersteres angesichts der nur wenigen ergrabenen Siedlungen bloße Vermutung und letzteres reine Spekulation, zumal in Germanien von einem „Wegesystem“ keine Rede sein konnte und das frühkaiserzeitliche Rom prinzipiell nicht Räume, sondern Personalverbände beherrschte. Auch für „gewinnverheißende Bodenschätze“ (S. 113) haben wir gerade einmal einen mageren Hinweis aus Brilon mit zudem problematischer Zeitstellung.

Den dritten Abschnitt (S. 114–126) widmet Bleckmann Arminius und der Varuskatastrophe, die für ihn „nicht unüberwindlicher Leidensdruck oder gar eine ‚nationale Empörung‘“, „sondern der Ehrgeiz des Arminius“ hervorrief (S. 114). Ersteres ist zum Teil richtig, letzteres jedoch ebenso verfehlt wie alleinige Schuldzuweisungen an einen leichtgläubigen Varus, denn historische Ereignisse haben niemals monokausale, sondern stets multikausale Ursachen. Im Folgenden erklärt Bleckmann geradezu mustergültig das Ausmaß des Aufstandes, die anachronistische Gleichsetzung von Germanen und Deutschen, die verfehlte Hochstilisierung des Arminius zum „ersten deutschen Nationalhelden“ und dessen vielfältige Funktionalisierung in der Neuzeit sowie die Privilegien und Erfahrungen germanischer Adliger unter der römischen Herrschaft; dabei differenziert er Quellenberichte, auch solche zum Plan der Verschwörer, zum Ablauf der Schlacht und zu ihrer antiken Verortung im Teutoburgiensis saltus, wobei der einzige verwertbare Hinweis darauf bei Tacitus (ann. 1,60,3) keine allzu große Entfernung (haud procul) von der oberen Lippe und Ems zulässt und auch für Bleckmann nicht zur Kalkrieser-Niewedder Senke bei Osnabrück zu passen scheint (S. 119). Da dort zweifelsfrei eine militärische Auseinandersetzung stattgefunden hat und für viele „der aktuell wahrscheinlichste Ort der Varuskatastrophe“ ist, widmet sich Bleckmann ausführlich den archäologischen Funden und Befunden (S. 119ff.), hält aber meist die gebotene objektive Distanz zu den archäologischen Interpretationen, konfrontiert diese mit Quelleninformationen und verzeichnet dann methodisch korrekt althistorische Meinungen, die im Kampf bei Kalkriese „ein militärisches Ereignis im Rahmen der späteren Germanicus-Feldzüge“ sehen (S. 125), so dass sich „der Bau des Museums von Kalkriese“ im Hinblick auf die Örtlichkeit der Varusschlacht „als voreilig erweisen könnte“. Abschnitt 4 berichtet von den aufwendigen, aber letztlich wegen zu hoher Verluste eingestellten Germanicusfeldzügen 14–16 n.Chr., die vorerst das Ende römischer Offensiven in Germanien markierten, deren Stämme Rom ihren – von Bleckmann beispielhaft angeführten – eigenen Streitigkeiten überließ (S. 126–136). Überzeugende Abschnitte zum Bataveraufstand (S. 137–145) und zur förmlichen Etablierung zweier germanischer Provinzen, des Limes und zu Verhältnissen im ‚freien‘ Germanien (S. 146–154) beschließen dieses Kapitel römischer Germanienpolitik im frühen Prinzipat.

Kapitel 3 behandelt „das Ende der Pax Romana: Die Markomannenkriege und die Reichskrise des dritten Jahrhunderts“ (S. 155–190), worin Bleckmann eingangs die nur fragmentarisch überlieferten Ereignisse an der Donaufront mit ihrer unsicheren Chronologie und den komplizierten Sachverhalten von Mark Aurels’ Kriegführung schildert und dann die für die römische Außen- und Verteidigungspolitik fortan verhängnisvolle „Veränderung [...] in der Struktur der (germanischen) Kriegergruppen“ und „die neuen Möglichkeiten innergermanischer Kooperation“ betont (S. 162). Dieser neuen Bedrohung des Imperium Romanum durch kampfstarke und flexibel operierende germanische Gefolgschaftsverbände (sog. war-bands) und die Entstehung „neuer Großstämme im dritten Jahrhundert“ wie der Alamannen, Juthungen, Franken und Goten widmet sich ausführlich der Folgeabschnitt (S. 168–178), bevor Bleckmann die durch die Rhein- und Donaufront tief ins Reich gelangenden „großen germanischen Invasionen auf dem Höhepunkt der Reichskrise“ (S. 178–183) schildert. Der vierte Abschnitt berichtet schließlich über „die Bewältigung der Krise und die zunehmende Verschränkung zwischen römischer und germanischer Welt“ (S. 184–190), für die Bleckmann weniger „einen Ausgleich des kulturellen Gefälles“, als vielmehr „engere Verbindungen und Wechselbeziehungen“ (S. 186f.) verantwortlich macht, die sowohl in einer stetigen Beeinflussung der Germanen durch reichsrömische Produkte und Fertigkeiten als auch durch die zunehmende Verwendung von Germanen im römischen Heer oder ihre Ansiedlung im Reich offenbar werden.

Konsequenterweise erörtert Kapitel 4 „Grenzkämpfe und Barbarisierung des römischen Heeres: Germanenprobleme im vierten Jahrhundert“ (S. 191–231), als besonders Sachsen, Franken, Alamannen und Goten sich als nicht mehr nachhaltig zu unterwerfende Dauerantagonisten erwiesen, deren Ansturm Rom durch vermehrte Ansiedlung und Inkorporation ins Heer (S. 200–209) meinte aufhalten zu können. Jedoch konnte dies nicht den durch Usurpationen und Bürgerkriege mit verursachten zeitweisen Fall der Rheinfront verhindern (S. 209–218), die Gratian und Valentinian im letzten Viertel des 4. Jahrhunderts nur mühsam wieder stabilisierten (S. 218ff.). Den durch Hereinbrechen der Hunnen in die germanische Welt mit initiierten vorläufigen Tiefpunkt der römischen Reichsverteidigung markierte „der Gotensieg bei von Adrianopel“, den Bleckmann inklusive seiner „Folgen“ und Bedeutung hinsichtlich historiographischer Auffassung von Völkerwanderung quellenkritisch souverän analysiert (S. 220–231).

„Germanische Wanderheere und erste Reichsbildungen: Von Stilicho bis zum Untergang des Weströmischen Reiches“ beschreibt Bleckmann im fünften Kapitel (S. 232–267), worin er ereignisgeschichtlich etwa das weitere Vorrücken der Hunnen, den katastrophalen Barbareneinfall vom 31. Dezember 406, die Eroberung Roms durch Alarich 410, die Niederlassung der Westgoten in Aquitanien, der Vandalen in Nordafrika und den Kampf bedeutender Heermeister gegen zahlreiche Invasoren auf dem Balkan, in Italien, Gallien und Spanien sowie die Absetzung des letzten weströmischen Kaisers 476 durch Odoaker sehr detailreich behandelt. In Kapitel 6 skizziert Bleckmann „germanische Herrschaftsbildungen in Europa nach dem Ende des Weströmischen Reiches“ (S. 268–316) durch Ostgoten, Franken, Burgunder, Sueben und die Völker, die wie die Langobarden, Nordseegermanen und Wikinger neben dem fortdauernden Byzantinischen Reich entscheidend sowohl die frühmittelalterlichen Machtkonstellationen als auch die Christianisierung sowie Re-Romanisierung Europas bestimmten.

Die zitierten Quellenpassagen belegt Bleckmann jeweils unmittelbar im Text; das Fehlen von Anmerkungen mindert zwar nicht die wissenschaftliche Qualität, wohl aber deren Überprüfbarkeit, was stark ausgewählte bibliographischen Hinweise (S. 319–331) im Anhang nur teilweise kompensieren. Eine Zeittafel, Bildnachweise und ein umfangreiches Register helfen bei der Erschließung dieses ungemein informativen und dauerhaft nützlichen Buches.

Anmerkungen:
1 Ulrike Riemer, Die römische Germanienpolitik, Darmstadt 2006, S. 41ff.
2 Siehe hierzu differenziertere Positionen bei Peter Kehne, Art. „Marbod“, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Bd. 19, Berlin 2001, S. 258–262 und ders., Das Reich der Markomannen und seine auswärtigen Beziehungen unter König Marbod (Maroboduus) ca. 3 v. – 18 n. Chr., in: Vladimir Salaš / Jan Bemman (Hrsg.), Mitteleuropa zur Zeit Marbods, Prag u.a. 2009, S. 53–66.

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